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Das achte Gebot "Du sollst nicht lügen"

Die Zehn Gebote wurden früher nicht nur als "Magna Charta" des religiösen Lebens, sondern auch als unverzichtbare Grundlage aller Gesellschaften angesehen - davon ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Dass sich jeder Einzelne in unsere Gesellschaft immer mehr von den zehn Geboten entfernt, wird vermutlich an keinem anderen Gebot so deutlich wie am 8. Gebot: "Du sollst nicht lügen".
Die Menschen sind trickreich, wenn sie angesichts von offiziellen Regelungen und dem entgegenstehenden Eigeninteresse nach Schlupflöchern suchen. Besonders wichtig ist es dann, diese Schlupflöcher fantasievoll und möglichst positiv zu benennen. Während in den Begriffen "Notlüge", "Höflichkeitslüge" oder "White Lies" immer noch der Begriff "Lüge" den eigentlichen Tatbestand verrät, sind viele Menschen schon weiter: Sie bemerken es nicht einmal mehr, wenn sie die Unwahrheit sagen: "Manche Psychologen und Kommunikationsforscher behaupten nämlich, wir würden um die 200 mal am Tag lügen; geht man davon aus, dass wir 16 Stunden täglich wach sind, würde das bedeuten, dass wir 12,5 mal pro Stunde die Wahrheit verdrehen." ( Quelle) Andere dagegen meinen, dass wir in einem zehnminütigen Gespräch mindestens zweimal die Unwahrheit sagen. Und doch funktioniert unsere Gesellschaft und die meisten sind nicht unglücklich dabei. Was ist also so schlimm an der Lüge? Sollten wir nicht - wie angeblich in China - ehrlich sein, indem wir zu unserer Unehrlichkeit stehen?

Worum geht es eigentlich beim Gebot "Du sollst nicht lügen"?

 

 

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Der gläserne Mensch

Immer wieder schrecken Nachrichten über Datenschutzverletzungen die Gesellschaft: "Das iPhone sammelt Bewegungsdaten" - "Google Chrome weiß alles über Dein Surfverhalten" - "WahtsApp hört und liest ALLES mit" - "Millionen Datensätze bei Hackerangriff gestohlen" usw.

Auf die Frage, was denn daran so schlimm ist, wenn andere etwas - oder alles - über mich wissen, gibt es eine unehrliche - und eine ehrliche Antwort. Habe ich denn etwas zu verbergen? Was ist denn so schlimm daran, wenn Apple anhand des iPhones weiß, wo ich mich aufhalte? Tue ich denn etwas Verbotenes, wenn ich im Internet browse?
"Nein, natürlich nicht", wäre die erste Antwort (die unehrliche). "Ich tue nichts Böses - aber es gibt eben die anderen Bösen, die mit meinen Daten Böses tun". Deshalb achte ich peinlich darauf, dass ich nicht zuviel von mir preisgebe. Aber - das ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit habe auch ich meine dunklen Seiten und möchte nicht, dass bekannt wird, welche peinlichen Dinge ich gedacht, gesagt oder getan habe. Jeder hat halt sein Recht auf Privatsphäre und "informelle Selbstbestimmung". Vor allem, was meine Peinlichkeiten angeht.

Ganz gegen diesen Trend steht nun die christliche Verheißung: Wir werden nach unserer Auferstehung alle einen "verklärten" Leib erhalten. Das Wort "verklärt" kommt einem wie ein Fremdwort vor und meint scheinbar etwas völlig Unbestimmtes, das erst für das Jenseits gilt. Aber das stimmt nicht: "Verklärt" bedeutet - im theologischen Sinne - nichts anderes als "geklärt", bzw. klar, transparent und durchsichtig. (Nicht umsonst werden "Geister und Gespenster" gerne als durchsichtige oder nebelartige Gebilde dargestellt.)

"Verklärt" kann auch die Bedeutung von "geschönt" haben - wenn zum Beispiel Menschen die Vergangenheit "verklären". Eine schöne Nebenbedeutung: Unser "verklärter Leib" wird transparent - und genau darin liegt seine Schönheit begründet!

Der verklärte Leib ist aber nicht "durchsichtig" im Sinne von "optisch transparent". Dazu sollten wir uns einmal kurz vor Augen halten, wofür der Leib eigentlich gedacht ist.

Der Leib ist ein Medium

Genau genommen interessiert uns der Leib (bzw. der Körper) eines anderen Menschen nämlich nicht an sich (obwohl wir uns manchmal gerade so verhalten, als gäbe es nur den Leib). Viel wichtiger ist uns die Seele des anderen Menschen - und das, was dort vor sich geht. Wir möchten gerne wissen, was der andere denkt, was er für mich empfindet und was ihn bewegt. Leider sind wir kaum in der Lage, die Seele eines Menschen direkt wahrzunehmen.
Dafür habe wir gottseidank den Leib. Er ist das Ausdrucksmedium der Seele. Wenn wir in das Gesicht eines Menschen schauen, erfahren wir so einiges über seine Seele und das, was gerade in ihr vorgeht. Aber nicht nur das Gesicht, der ganze Körper in seiner Haltung - sogar in seiner Kleidung oder seiner Ausgestaltung z.B. in Form der Frisur oder des Make-Up spricht zu uns. "Apropos Sprechen": Ein ganz vornehmliches Ausdrucksmedium der Seele ist natürlich die Sprache (zwar auch ein leiblicher Vorgang, aber sehr transparent für die Seele).
Leider ist ein Medium in der Lage, immer zu gleich zu vermitteln (daher "medium" - "das Mittlere", das Vermittelnde) und auch zu verschleiern. Wir können anderen Menschen einen Blick in unsere Seele gestatten - oder sie irreführen. Wir können unseren Leib zum Ausdruck unserer Seele werden lassen - oder aber zur Schutzwand. Es kann heißen: "Schau mir in die Augen, den Spiegel meiner Seele!" - oder aber auch: "Was wirklich in mir vorgeht, geht dich nichts an!".

Einem anderen Menschen einen Blick in seine Seele zu gestatten, ist - Liebe. (In der Sprache der Bibel ist das Wort für die gegenseitige Hingabe in der Liebe das gleiche Wort wie für Erkennen). Liebe heißt, das, was ich gerade empfinde, mit jemanden teilen zu wollen; vor allem die wunderbaren Momente, die mich staunen machen. Wer liebt, möchte aber auch die Wut und die Trauer - ja sogar die Schuld - teilen, mitteilen.

Vermutlich ist das größte Unglück des Menschen die Art von Einsamkeit, in der man etwas teilen möchte - und niemanden hat, der sich dafür interessiert.
Um dieser größten Not zu entgehen, öffnen sich einsame Menschen sogar denen gegenüber, von denen sie wissen, dass das Interesse an ihrer Seele eher egoistischen Zwecken dient. "Besser, ausgenutzt werden, als vergessen."
Der verklärte Leib - Eintrittskarte in den Himmel

Und nun glauben wir Christen, dass wir einmal einen verklärten Leib geschenkt bekommen werden: Das vollkommene Ausdrucksmedium unserer Seele. Jeder, der uns dann sehen wird, wirft mittels dieses verklärten Leibes einen Blick in meine Seele. Wir sind im Himmel gläserne Menschen.

So heißt es in einem schönen Osterlied (von Friedrich von Spee) vom Auferstehungsleib Christi:

Ist das der Leib, Herr Jesus Christ, der Tod im Grab gelegen ist?
Kommt her ihr Christen jung und alt, schaut die verklärte Leibsgestalt.
Der Leib ist klar, klar wie Kristall, Rubinen gleich die Wunden all;
Die Seel durchstrahlt ihn licht und rein, wie tausendfacher Sonnenschein.

Das mag für einige meiner Leser gar nicht so verheißungsvoll klingen. Absolute Offenheit setzt absolutes Vertrauen voraus - und eben absolute Liebe. Die haben wir hier auf Erden allerdings noch nicht erfahren - häufig wird Vertrauen enttäuscht und Offenheit bestraft. Ich kann mir sogar vorstellen, dass die Zustimmung zu einem solchen Leib gleichbedeutend ist mit dem Eintreten-Wollen in den Himmel.

In anderen Katechesen habe ich bereits die These aufgestellt, dass am Eingangstor des Himmels kein Buchhalter-Petrus steht, sondern liebende Menschen, die uns in den Himmel einladen. Es darf jeder eintreten, der möchte - und die Einladenden bemühen sich nach Kräften, uns diese Entscheidung leicht zu machen.

Stellen wir uns nun vor, wir gelangen nach unserem Tod - ganz klassisch - ans Himmelstor. Eintritt ist frei, jeder darf hinein. Wenn wir vorsichtig fragen, was denn "dadrinnen" ist, erhalten wir die freudige Antwort: "Gott. Und die absolute Klarheit. Nichts ist mehr verborgen, nichts ist mehr geheim. Du wirst absolut erkannt, absolut geliebt und bekommst einen seelen-klaren Leib!" Vielleicht vergewissern wir uns (wir haben ja alle Zeit der Welt) und fragen: "Wirklich alles? Auch meine dunkelsten Geheimnisse?". Worauf uns strahlend versichert wird: "Ja, alles! Du brauchst keine Angst zu haben!"

Ich kann mir schon bei mir selber vorstellen, dass mir da mulmig wird. Nun habe ich mich in meinem christlichen Leben zunehmend daran gewöhnt, Vergebung zu erhalten und Sünden einzugestehen. Vielleicht trete ich wirklich mutig ein.
Auf der anderen Seite ist es für mich durchaus vorstellbar, dass ein solcher Himmel auf Ablehnung stößt. "Dann bin ich da fehl am Platz, da will ich nicht hinein!"

Denn wer es ablehnt, wirklich vollkommen erkannt und geliebt zu werden, der wird sich auch nicht in die Nähe eines liebenden, alles erkennenden und erleuchtenden Gottes trauen. Vielleicht, weil er der Liebe nicht traut. Vielleicht, weil er sich schämt. Oder weil er die dunklen Seiten der anderen nicht ertragen will (auch das gibt es: Der Abscheu vor den anderen erlösten - "Wenn der im Himmel ist, will ich da nicht rein!"). Oder weil er Angst vor Bestrafung hat. Oder...
Es gibt genug Gründe, das Konzept des "himmlisch-gläsernen Menschen" abzulehnen. Jeder einzelne Grund sollte uns unruhig machen und aufrufen, uns schon in diesem Leben in die "Transparenz" einzuüben.

Sogar in dem vorhin zitierten Osterlied heißt es am Ende:

"Bedeck, o Mensch, dein Augenlicht! Vor dieser Sonn besteht es nicht.
Kein Mensch auf dieser Erde kann den Glanz der Gottheit schauen an."

Aber die Einschränkung "Kein Mensch auf dieser Erde" sollte uns nicht daran zweifeln lassen, dass die Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht im Himmel nicht nur möglich sein wird, sondern erstrebenswert herrlich!

In der Tradition der Kirche heißt es, dass es bei der Auferstehung der Toten einen neuen Leib für jeden Menschen gibt - für wirklich jeden, also auch für die, die dann diesen Leib dazu verwenden, Gott und den anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Der Leib der himmlischen Menschen wird - wie wir gerade gehört haben - "verklärt" sein; der Leib der anderen Menschen dagegen wird - so die Tradition - "nicht verklärt sein".
Das klingt vielleicht wie eine Bestrafung: "Ätsch, ihr bekommt nur einen Trash-Leib". Aber Gott ist nicht so, er handelt nicht aus rachsüchtigen oder nachtragenden Motiven. Jeder bekommt den Leib, den er sich wünscht. Und weil es - vielleicht; hoffentlich aber nicht! - Menschen gibt, die anderen und Gott keinen Einblick in ihre Seele geben wollen, ist der nicht-verklärte Leib genau das, was sie sich wünschen.

In manchen alten Darstellungen dieser "Leib-Zuteilung" (besser ist: "Auferstehung", "Jüngster Tag" oder "Das allgemeine Gericht") werden die nicht-verklärten Leiber hässlich geschildert (oder, z.B. von Hieronymus Bosch, hässlich gemalt). Das ist vielleicht etwas voreilig - denn unser Schönheitsideal lässt sich nicht so ohne Weiteres auf das Jenseits übertragen.
Sinnvoll ist diese Darstellung eventuell, wenn man damit ausdrücken möchte, dass der verklärte Leib einhergeht mit der Liebe und deshalb die nicht-verklärten Menschen mit dem "Hass" in Verbindung stehen - und deshalb "hässlich" dargestellt werden.

Ich für meinen Teil stelle mir die nicht-verklärten Leiber nicht hässlich, sondern verschlossen vor; die verklärten Menschen dagegen als einladend-offen. Wer schon einmal in diesem Leben einem Menschen begegnet ist, der unverstellt, fröhlich und offenherzig war, hat vermutlich einen Vorgeschmack eines himmlischen Menschen erfahren. (Interessanterweise spielt bei solchen Menschen das körperliche Aussehen für deren überwältigende Sympathie fast gar keine Rolle).
Wahrheit und Wahrhaftigkeit - Einüben in die Verklärung

Unser Leben hier ist also eine Einübung in die Wahrhaftigkeit - um des Himmels willen. Inzwischen ist hoffentlich deutlich geworden, dass Gott nicht als Machtdespot denen mit einem Verweis aus dem Paradies droht, die sich dummerweise nicht an das Gebot halten. Gott ist vielmehr derjenige, der das reinste Bemühen ist, uns zu einem Eintritt in den Himmel zu bewegen; das Gebot "Du sollst nicht lügen" ist also ein Gebot, das uns den Weg in den Himmel ebnen soll, weil Gott uns nirgendwo anders haben möchte.

Aber dieses "Ja" zum verklärten Leib ist nicht einfach. Es bedeutet eben nicht nur, "irgendwie ehrlich" zu sein, aufrichtig, ohne Hintergedanken und hinterhältige Absichten. Es bedeutet vor allem auch, die eigenen Fehler, Schwächen und Bosheiten nicht zu verleugnen.

Wahrhaftigkeit in einer verlogenen Welt: Die Ehe

Das ist natürlich ein hoher Anspruch - und vor allem im Hinblick auf die Strukturen dieser Welt eine klare Überforderung. Einfach immer und überall alles sagen, was man denkt, nichts verheimlichen und nichts beschönigen, sich in seiner Schwäche allen und jedem bedingungslos auszuliefern - das wäre nicht nur sozialer Selbstmord. Das kann in gewaltbereiten Situationen auch das reale Leben kosten - ja, eine solche Forderung kann angesichts ihrer offensichtlichen Unerfüllbarkeit sogar unsere Seele beschädigen und uns genau das nehmen, was wir erstreben: Nämlich unsere Heiligkeit.

Dass wir uns schämen, ist ein lebenswichtiger Schutz: Wir fürchten, ausgenutzt zu werden, und verbergen unsere Verletzlichkeit. Jemand, der "unverschämt" handelt oder spricht, respektiert dieses Bedürfnis anderer Menschen nicht - oder vernachlässigt leichtsinnig seinen eigenen Schutz.

Adam und Eva verstecken sich
Ob Adam und Eva reale Personen in einem realen Paradiesgarten waren, ist vielleicht fraglich. Aber in ihrem Verhalten unterscheiden sie sich nicht im Geringsten von unserer Realität: Kaum haben sie gesündigt und das Vertrauen Gottes enttäuscht, setzt die Scham ein: Sie verstecken sich vor Gott, basteln sich Schurz und Kleidung aus Feigenblättern und Gartenresten und hoffen, von Gott nicht gesehen zu werden. Sie haben etwas zu verbergen - und haben plötzlich Angst vor dem Entdecken.
Sie fürchten (berechtigterweise) nicht nur, dass Gott sie durchschaut; sie fürchten (unberechtigterweise) auch, dass Gott ähnlich denkt wie sie: Selbstbezogen und machtbesessen. Das ist die Crux aller Sünde: Der Sünde denkt nun nicht nur schlecht von sich selbst, sondern auch vom Gegenüber. Misstrauen ersetzt das Vertrauen. Adam schämt sich.
Der Mensch entzieht sich den Blicken Gottes, der Leib wird verhüllt, die Sprache unehrlich: Das sind nicht nur irgendwelche Folgen der Sünde, das ist das Wesen der Sünde. Misstrauen Gott und den anderen Menschen gegenüber durchziehen seitdem die Welt wie ein bösartiger Geruch.

Auch Erbsünde genannt.

Aber die Sehnsucht nach dem Paradies ist uns Menschen nicht verloren gegangen. Wir tragen die Erinnerung an das, was hätte sein können, in uns. Deshalb - obwohl wir wissen, dass die Scham uns schützt, - sehnen wir uns nach einem Ort, an dem wir so von Vertrauen umgeben sind, dass wir alle Hemmungen fallen lassen können und sein dürfen, wie wir sind. Nichts mehr verbergen und nichts mehr beschönigen.

Adam und Eva erkennen sich
Es gibt keinen solchen Ort auf dieser Welt, zumindest keinen Ort, den wir bereisen könnten. Aber wir können einem solchen Ort Raum geben: Wenn zwei Menschen, die sich lieben, einander versprechen, sich in jeder Hinsicht, in guten und in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit - ein Leben lang - zu lieben, zu achten und zu ehren, dann ist ein Raum geschaffen, in dem ein Stück vom ursprünglichen Paradies wieder realisiert werden kann.
Ja, die Ehe ist ein solcher Rahmen. Natürlich reicht es nicht, einen Zaun zu ziehen und ein Schild aufzustellen: "Hier ist die Welt noch in Ordnung". Denn das verlorene Vertrauen tragen die Eheleute ja noch immer in ihren Herzen. Eine Beziehung, bevor sie zur Liebesbeziehung und schließlich zur Ehe werden kann, braucht Zeit. Viel Zeit, in der Vertrauen wachsen muss, bis man sich schließlich die gegenseitigen Worte des Eheversprechens glaubt.

Wohlgemerkt: Eine Ehe besteht nicht nur darin, dass man dem Versprechen des Partners glaubt. Vielleicht noch wichtiger ist, dass man sich selbst glaubt, wenn man sagt: "Ich will Dich lieben ... bis der Tod uns scheidet."

Während Adam und Eva sich im Paradies verhüllten, ist die Ehe der Rahmen, in der die Hüllen wieder fallen können. Hier ist der Ort, an dem die Sexualität als Sprache der Liebe ihren Platz hat; dabei ist die liebevolle Sexualität Zeichen des verklärten Leibes (der Leib ist uneingeschränktes Medium der Liebe) und zugleich Anregung, sich mit der ganzen Person vom Geliebten erkennen zu lassen.

Das Bild der Eheleute
Die Ehe ist Abbild der ungetrübten Liebesbeziehung innerhalb der Dreifaltigkeit - und Erinnerung an das paradiesische Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Weil die Ehe aber nicht nur Erinnerung ist, sondern eine beginnende Wiederherstellung und Vorwegnahme des verheißenen Himmels, ist sie auch Bild und Vorbild für alle anderen Beziehungen. Sie macht deutlich:

Die Befolgung des Achten Gebotes in seiner weit gefassten Auslegung "Sei wahrhaftig!" bedarf eines Rahmens, in dem Vertrauen versprochen und gelebt wird. Erst in einer solchen geschützten Beziehung kann neben die Wahrheit auch die Wahrhaftigkeit treten. In einer von Vertrauen geprägten Beziehung kann anstelle von Scham die Offenheit reifen.

Das gilt im Grunde für alle Beziehungen; auch lockere Freundschaften, Geschäftsbeziehungen und sogar Gelegenheitsbekanntschaften machen hier keine Ausnahme: Wieviel ich von mir preisgebe, hängt davon ab, wie sicher und tragend das Vertrauen ist.

So muss ich natürlich jemandem, dem ich nicht vertraue, auf die Frage nach meinem Sexualverhalten keine Auskunft zu geben; ebensowenig muss ich einem mir Unbekannten meine finanziellen Verhältnisse offenlegen.

Vertrauen schenken - nicht verkaufen
Das Einüben in die himmlische Wirklichkeit beginnt also mit dem Knüpfen von Beziehungen, die Wahrhaftigkeit ermöglichen. Allerdings können solche Beziehungen nur entstehen und auch wachsen, wenn Vertrauen geschenkt wird - immer nur als Vertrauensvorschuss.
Ein Minimum von Vertrauen sollten wir jedoch allen Menschen schenken. Wenn wir "niemals niemandem" vertrauen, werden wir nie erfahren, wer unseres Vertrauens würdig ist - und wer es missbraucht.
Einen Vertrauensvorschuss sollten wir auch dann gewähren, wenn die Wahrheit uns in einem unvorteilhaften Licht erscheinen lässt.
Natürlich glauben wir zunächst, dass Beziehungen vor allem dann wachsen, wenn wir uns in ein attraktives Licht rücken. Warum sollte irgendjemand Interesse an eine Beziehung zu mir haben, wenn ich nicht sympathisch wirke?
Aber das ist nur ein Aspekt, der mir - falls ich darin konsequent bliebe - keine Freunde, sondern nur Fans bescheren würde. Wir unterschätzen die positive Wirkung, die Wahrheit und Wahrhaftigkeit gerade in Bezug auf unsere eigenen dunklen Seiten hat.

  • Das gilt vor allem für die direkte Frage angesichts eines entstandenen Schadens: "Sag mal, hast Du das verschuldet?" - Hier ehrlich und klar zu antworten (und dabei auf eine Beschönigung und vielleicht sogar Entschuldigung zu verzichten), veredelt meine Sprache: Wer sich ehrlich zeigt in unangenehmen Anfragen, dem werden auch die positiven Selbstdarstellungen abgenommen.
  • Wahrheit und Wahrhaftigkeit schaffen aber auch dann Vertrauen und Sympathie, wenn nicht ich, sondern jemand anderes einer Schuld bezichtigt wird (oder ein Anderer sich selbst anklagt). Wer in einer solchen Situation zugeben kann: "Weißt Du, ich bin auch nicht besser als du. Mir ist damals etwas ähnliches passiert..." schafft ebenfalls durch seine Offenheit auch in Bezug auf seine Schwächen Vertrauen.
Ein weiterer Ort der Verklärung: Die Beichte

Neben der Ehe ist einer weiterer Ort der "Wahrhaftigkeit in einer verlogenen Welt" unbedingt zu nennen: Die Beichte. Wie bei der Ehe bedarf auch dieser Ort eines unbedingten Versprechens: Das Beichtgeheimnis als Rahmen für die Begegnung mit dem liebenden Gott.
Dass es dieses Sakrament mit diesem unbedingten Rahmen gibt, ist für unser Heil und für unsere Liebesfähigkeit enorm wichtig. Es geht in der Beichte nicht nur um Vergebung, sondern um Offenheit. Offenheit, die durch Vertrauen und Liebe ermöglicht wird und die uns dann in der Liebe, im Vertrauen und in der Ehrlichkeit wachsen lässt.

Manche Beichtväter fragen am Ende der Beichte, was denn der Beichtende nun in seinem Leben ändern wolle. So berechtigt diese Frage ist - sie bedenkt nicht genug, dass der Beichtende sich ja bereits geändert hat, als er Gott (und dem Priester) mit seinem Sündenbekenntnis einen unverstellten Blick in die Abgründe seiner Seele gestattete.
Das trauen wir uns unter normalen Bedingungen nicht, weil wir Angst vor Ausnutzung, Häme oder sogar Rache haben. In der Beichte erfahren wir aber, dass diese Offenheit nur eine Antwort kennt: liebende Vergebung und erneuerte Beziehung. Das nennt man den Himmel auf Erden im Beichtstuhl erfahren!
Eigentlich könnte der Priester dem Beichtenden sagen: "Du brauchst Dich gar nicht so sehr zu ändern. So offen und ehrlich, wie Du gerade im Bekenntnis Deiner Sünden warst - so musst Du nur bleiben. Das wäre ein guter Anfang."

ührt; die erstaunte Freude über die eigene Fähigkeit zur Ehrlichkeit führt zum Vorsatz, nun auch weiter ehrlich zu sein.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Der Anspruch auf Wahrhaftigkeit geht über das hinaus, was im Allgemeinen als "soziale Forderung nach Wahrheit" auch von Soziologen anerkannt wird. Manche Soziologen sind zudem der Ansicht, dass Lügen (zumindest in "kleinerem Ausmaß") gesellschaftsstabilisierend sind (zum Beispiel in dem Buch "Lob der Lüge"). "Kleinere" Lügen, Höflichkeitslügen und "White Lies" seien unter rein innerweltlichem Gesichtspunkt eher beziehungsfördernd...

Dennoch haben wir das Bedürfnis, große Peinlichkeiten und noch größere Schuld irgendwann "auszusprechen"; andernfalls - so behaupten Psychologen seit Freud - werden wir neurotisch. Dabei möchte ich als psychologisch absolut Ungeschulter behaupten, dass nicht das "Aussprechen" Heilung verheißt, sondern die Liebesbeziehung, in der ein solches Aussprechen möglich ist.

Dagegen weist die Erweiterung des Achten Gebotes auch auf eine Wahrhaftigkeit (sogar in Bezug auf unsere "dunklen Seiten") deutlich über eine inner-weltliche Begründung hinaus.
Weil Gott uns als Leib-Seele-Menschen geschaffen hat, sehnen wir uns danach, dass der Leib auch wirklich zeigen kann, was in der Seele ist; nicht, weil wir uns dadurch Vorteile in dieser Welt verschaffen könnten (außer vielleicht einem Auftritt in einer Talkshow). Es liegt einfach in unserem Wesen. Und deshalb sehnen wir uns nach einer unbedingten Liebesbeziehung, in der wir nichts mehr verbergen müssen.
Vielleicht haben wir eine solche "unbedingte Liebesbeziehung" noch in unserer Kindheit erfahren; aber bis wir wieder "wie die Kinder Gottes in seinem Himmelreich" werden, haben wir uns diese Offenheit zum Teil gründlich abgewöhnt. So sind wir zu einer solchen Liebesbeziehung nicht mehr uneingeschränkt fähig.

Und damit sind wir bei dem Grund, weshalb wir überhaupt auf Erden sind: Wir brauchen Zeit, um das Zusammenspiel von Gnade und Mitwirkung zu durchschreiten! Erst, wenn wir uns ein wenig öffnen, gelingt uns eine Liebesbeziehung, in der wir uns so angenommen wissen, dass wir uns ein wenig mehr öffnen können. Wenn wir dem anderen einen tieferen Blick auf unser Selbst gewähren können und so auch einen tieferen Blick auf seine Liebe gewährt bekommen, wächst der Mut und das Vertrauen zu immer neuen Schritten in das Geheimnis der Verklärung.

Zum Beispiel in der Ehe: "Mann und Frau - und Frau und Mann - reichen an die Gottheit 'ran" (aus der "Zauberflöte").

Mit dieser - zugegeben weit ausholenden - Hinführung haben wir einen Zugang zum Gebot "Du sollst nicht lügen", der uns auf der einen Seite erkennen lässt, welches Ziel dieses Gebot eigentlich hat. Auf der anderen Seite verstehen wir nun auch, dass "lügen" nicht nur eine Frage der Sprache ist. "Lügen" können wir auch durch unsere Gestik, Mimik oder unser Verhalten.
Und noch etwas können wir mit dem "Background" des verklärten Leibes besser als zuvor: Abgrenzen, was denn eventuell Ausnahmen sind: Ob es wirklich Notlügen, Höflichkeitslügen oder "White Lies" gibt.

Du sollst nicht lügen

Vielleicht ist der geneigte Leser an dieser Stelle schon so tief in das Geheimnis von Wahrheit, Ehrlichkeit und Offenheit gelangt, dass er keine weiteren Informationen und Ausführung braucht. Das wäre der Idealfall; denn ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch im Grunde seines Herzen genau weiß, wo die Lüge beginnt und was nicht mehr in Ordnung ist.
Aber leider ist - wie schon eingangs geschildert - unsere Gesellschaft meisterlich darin, unser natürliches, klares Gewissen zu verwirren. Dabei wird nicht etwas die Schlechtigkeit der Lüge selbst geleugnet - nein, richtiges Lügen ist immer noch verwerflich und abscheulich. Aber was denn eine richtige Lüge ist, das legt sich jeder so aus, wie er es möchte: Uns selbst gegenüber sind wir sehr großmütig, anderen gegenüber eher streng.

Deswegen möchte ich nach der langen Einleitung nun die gewonnenen Erkenntnisse in konkrete Situationen überführen.

Definitionen

In der Bibel heißt es an den beiden Stellen, in denen die Zehn Gebote wiedergegeben werden, zum Achten Gebot: "Du sollst nicht falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten". Damit ist also vornehmlich die schädliche Falschaussage vor einem Gericht gemeint. Aber sowohl die jüdische als auch die christliche Tradition hat hierin eine grundsätzliche Verwerfung der Lüge gesehen.

Im Katechismus der katholischen Kirche heißt es (Nr. 2464)

"Das achte Gebot verbietet, in den Beziehungen zu anderen die Wahrheit zu verdrehen. Diese moralische Vorschrift ergibt sich auch aus der Berufung des heiligen Volkes, Zeuge seines Gottes zu sein, der die Wahrheit ist und sie will. In Worten oder Taten gegen die Wahrheit zu verstoßen, bedeutet eine Weigerung, sich zur moralischen Redlichkeit zu verpflichten; es ist eine tiefgreifende Untreue gegenüber Gott und untergräbt damit die Fundamente des Bundes."

Dabei ist "Wahrheit" nicht einfach, alles zu sagen, sondern die Verbindung von "Aufrichtigkeit und Verschwiegenheit":

KKK - 2469: „Die Menschen könnten nicht in Gemeinschaft miteinander leben, wenn sie sich nicht gegenseitig glaubten, als solche, die einander die Wahrheit offenbaren" (Thomas v. Aquin). Die Tugend der Wahrhaftigkeit gibt dem anderen, was ihm zusteht. Sie bewahrt die rechte Mitte zwischen dem, was auszusprechen, und dem Geheimnis, das zu halten ist. Dazu gehören Aufrichtigkeit und Verschwiegenheit. „Ein Mensch schuldet dem anderen aus Ehrenhaftigkeit die Kundgabe der Wahrheit" (Thomas v. Aquin)."

Bei wikipedia heißt es (weniger treffend):

"Eine Lüge ist eine Aussage, von der der Sender (Lügner) weiß oder vermutet, dass sie unwahr ist, und die mit der Absicht geäußert wird, dass der oder die Empfänger sie trotzdem glauben."

Weiter heißt es bei wikipedia (leider immer noch ungenau):

"Lügen dienen dazu, einen Vorteil zu erlangen, einen Fehler oder eine verbotene Handlung zu verdecken und so Kritik oder Strafe zu entgehen. Von ‚Unwahrheit' spricht man, wenn die Aussage tatsächlich auch nicht korrekt ist, der sich Äußernde das aber nicht weiß und es nur fälschlich angenommen hat. Gelogen wird auch aus Höflichkeit, aus Scham, aus Angst, Furcht, Unsicherheit oder Not (‚Notlüge'), um die Pläne des Gegenübers zu vereiteln oder zum Schutz der eigenen Person, anderer Personen oder Interessen (z. B. Privatsphäre, Intimsphäre, wirtschaftliche Interessen)."

Neben unserer ausführlichen Begründung, warum Lügen keine gute Sache ist, ist die naturrechtliche Herleitung relativ einfach:

KKK - 2485: "Die Lüge ist ihrer Natur nach verwerflich. Sie ist eine Profanierung des Wortes, das dazu bestimmt ist, die Wahrheit, die man kennt, anderen mitzuteilen. Die bewusste Absicht, durch wahrheitswidrige Aussagen den Nächsten zu täuschen, verstößt gegen die Gerechtigkeit und die Liebe. Die Schuld ist noch größer, wenn Gefahr besteht, dass die Täuschungsabsicht für die Getäuschten schlimme Folgen hat."

Vom strikten Gebot, nicht die Unwahrheit zu sagen, sind selbstverständlich die Situationen ausgenommen, in denen die Absicht, andere zu täuschen, gar nicht erst vorhanden war (z.B. beim Theaterspiel, beim Scherzen oder Geschichtenerzählen - und auch bei der Verschönerung des Kinderblickes auf die Welt, indem wir vom "Christkind" oder dem "Osterhasen" sprechen) oder die Täuschung unmittelbar zurück genommen wird (z.B. beim Scherz - "Foppen").

Die Notlüge

Falls ich um eine Auskunft gebeten werde - wenn mich also jemand um die Mitteilung von "Wissen" bzw. "Wahrheit" bittet -, bin ich nicht um jeden Preis verpflichtet, dem anderen das volle Wissen mitzuteilen. Ausnahmen sind zum Beispiel das Beichtgeheimnis (das gilt absolut), die Berufsgeheimnisse (die gelten z.T. eingeschränkt und können aufgehoben werden), Indiskretionen, die das Privatleben berühren - und entsprechende Parallelen. Grundsätzlich gilt: "Niemand ist verpflichtet, die Wahrheit Personen zu enthüllen, die kein Recht darauf haben."

Das heißt aber nicht, dass diese Personen angelogen werden dürfen! Wer (meiner Einschätzung nach) kein Recht auf ein erbetenes Wissen hat, sollte darauf hingewiesen werden. Geheimnisse muss jede gute Beziehung ertragen können - Lügen nicht.

Nun sind Fälle denkbar, in denen die Verweigerung der Auskunft bereits einer Informationspreisgabe gleichkommt. Das kommt häufiger vor, als wir glauben.

Wir müssen nicht erst das Beispiel des Hausbesitzers bemühen, der von der Gestapo nach den in seinem Haus versteckten Juden gefragt wird.

In solchen Fällen ist es - wie auch bei der Notwehr im Zusammenhang mit dem Tötungsverbot - unter Umständen erlaubt, die Unwahrheit zu sagen, selbst dann, wenn damit eine Täuschungsabsicht verbunden ist. Man spricht dann zwar umgangssprachlich von der "Notlüge"; in der Theologie hat sich aber der neutrale Begriff "erlaubte bewusste Falschaussage" etabliert, weil nicht von "Lüge" gesprochen werden soll, wenn es sich um eine erlaubte Ausnahme handelt.

Bei der "Notlüge" oder der erlaubten Falschaussage ist es aber wesentlich, um welche "Not" oder "Bedrohung" es sich handelt - und welche Wahrheit dabei geopfert wird. Dabei ist selbstverständlich zu beachten, dass die Falschaussage gerechtfertigt sein muss (die drohende Not muss also real sein - und nicht nur eingebildet; außerdem muss die Bedrohung schwerwiegender sein, als die geopferte Wahrheit und die Lüge muss das einzige mögliche Mittel sein). Wenn man der Notsituation auch auf andere Weise entgehen kann (z.B. durch ausweichende Antworten, Doppeldeutigkeiten oder - besser noch - durch Schweigen), ist die Falschaussage nicht erlaubt.

Die umgangsprachliche Definiton von "Notlüge" geht über das erlaubte Maß weit hinaus. Viele glauben, sie können schon gerechtfertigterweise lügen, wenn sie sich so aus jeder beliebigen Not befreien. Der Polizist darf angelogen werden ("weil ich sonst ja bestraft worden wäre"), die Freundin ebenso ("weil sie sonst traurig wäre") oder die Familie ("das hätte doch alles nur noch schlimmer gemacht") und so weiter.

Halten wir fest: Eine erlaubte bewusste Falschaussage liegt, wenn überhaupt, erst dann vor, wenn die angebliche Not...

  • ... nicht nur subjektiv vorliegt ("ich denke, dann wird er mich verlassen")
  • ... nicht selbst verschuldet ist ("dann merkt der Lehrer ja, dass ich die Aufgaben abgeschrieben habe")
  • ... wenn sie schwerwiegend ist (und nicht: "Oh, dann wird sie aber enttäuscht sein!")

... und es nicht möglich ist, mehrdeutig, unbestimmt oder ausweichend zu antworten (als letzte Möglichkeit!).

Die Frage, welche Wahrheit geopfert wird, um einer Not zu entgehen, ist äußerst wichtig. So gibt es nicht nur innerhalb der katholischen Kirche, sondern auch im weltlichen Bereich Menschen, die lieber bereit sind zu sterben, als ihre innerste Überzeugung zu verraten.

Wir Christen nennen diese Menschen "Märtyrer", aber es gibt sie auch im politischen Bereich (z.B. William Wallace - im Film "Braveheart". Gut dargestellt!)

Auch unsere Liebesbeziehungen gehören dazu: In keiner Epoche und keinem Kulturkreis wird es gutgeheißen, seine Liebe zu verraten. Treue selbst angesichts des Todes gilt stets als vorbildhaft (und romantisch); auch wenn die, die in solchen Momenten schwach geworden sind, auf Vergebung hoffen konnten.

Wie immer, wenn es um die Frage der "Angemessenheit" geht, lassen sich nur schwer eindeutige Regeln formulieren, die in allen Situationen zu klaren Handlungsanweisungen führen. Unser Gewissen ist da oft die zuverlässigere Richtschnur.

Heißt ehrlich sein: Immer zeigen, wer ich bin?

Auch, wenn Lügen sich nicht nur auf das gesprochene Wort bezieht, sondern auch auf unser Verhalten (obwohl dann besser von "Täuschung" die Rede sein sollte), ist nicht jede Unwahrheit oder Unaufrichtigkeit sofort eine Lüge. Wir sind ja ständig bemüht, eine Vorstellung von uns selbst zu entwerfen - so, wie wir sein möchten -, um uns dann dementsprechend zu verhalten. Dass der Entwurf uns immer ein ganzes Stück voraus ist und wir deshalb in unserer Wirklichkeit dem hinterherhinken, führt oft dazu, dass wir uns auf eine Art und Weise verhalten, die noch nicht dem entspricht, was wir wirklich sind - sondern "nur dem, was wir sein möchten."

"Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., "und sorge, dass er ihm ähnlich wird." "Wer? Der Entwurf?" "Nein", sagte Herr K., "der Mensch." (Bertolt Brecht)

Wenn Menschen sich selbst besser sehen, als sie noch sind, sollte man das nicht sofort "unredlich", "verlogen", "nicht authentisch" oder "heuchlerisch" nennen; das ist nicht fair. Eine solche Abwertung setzt voraus, dass wir auf eine ganz bestimmte Art und Weise sind. Aber das entspricht nicht der menschlichen Realität: Wir sind nicht schlechthin, sondern wir sind in Vielem unentschieden und haben entgegengesetzte Regungen und Gedanken gleichzeitig; wir entwerfen uns und werden zum dem, was wir sein möchten, indem wir Entscheidungen treffen und unserem "Entwurf" entsprechend handeln.

So fragt Harry Potter den weisen Dumbledore, woher denn der magische Hut so genau weiß, dass er ein "Gryffindor" sei und kein "Slytherin". Harry ist sich ja selbst nicht ganz sicher, wer er ist.
"Nun", antwortet Dumbeldore, "Du hast Dir ja entschieden gewünscht, ein Gryffindor zu sein. Mehr noch als unsere Fähigkeiten und Eigenschaften bestimmen nämlich die Entscheidungen, die wir treffen, wer wir wirklich sind."

Oft schlage ich Menschen, die mich um Rat bitten, bestimmte Verhaltensänderungen vor: sich bei jemanden entschuldigen, den Kontakt zu einem unliebsamen Menschen suchen, sich nicht so aufregen, auch mal eine Ungerechtigkeit ertragen, auch widerwillig zu jemandem freundlich sein - usw.
Manchmal wird mir auf diese Ratschläge entgegengehalten: "Aber wenn ich mich so verhalte, ist das dann nicht unehrlich? In Wahrheit bin ich das doch gar nicht!"
Es ist deshalb nicht unehrlich, weil unser Verhalten mit dem Menschen übereinstimmt, den wir gerade dabei sind, in uns zu verwirklichen. Indem wir so handeln, werden wir erst zu dem Menschen, der wir sein wollen.

Übrigens ein äußerst wichtiger Aspekt unserer Leiblichkeit. Wir haben nämlich nicht nur einen Körper, der ausdrückt, was in der Seele ist - sondern auch deshalb einen Körper, weil wir damit verwirklichen, was in der Seele nur reine Absicht bleiben würde.
Wir retten uns - vor wem?

Ich habe mich zwar bemüht den hohen Wert der Offenheit, Transparenz und Wahrhaftigkeit im ersten Teil dieser Katechese zu verdeutlichen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass viele meiner Leser dieses Ideal nicht sofort mit allen Kräften umsetzen wollen. "Kleine Rettungslügen sind vielleicht nicht ganz wahrhaftig - aber sie schaden doch auch keinem!"

Tatsächlich: Häufig lügen wir, um uns Unannehmlichkeiten zu ersparen. Wir sagen bewusst die Unwahrheit, um zu verheimlichen, dass wir etwas nicht wissen, dass wir einen Fehler gemacht haben, dass wir etwas nicht können, nicht aufgepasst haben, (vermeintlich) dunkle Seiten in der Vergangenheit haben oder um einfach nur lästigen Situationen aus dem Weg zu gehen. Soweit scheint das ja alles gar nicht böse - sondern getragen von einem guten Willen.
Deshalb sollten wir nicht nur einen Blick auf das Schöne richten, was uns erwartet, wenn wir ehrlich sind. Denn wenn das nicht ausreicht, hilft uns vielleicht auch der Blick auf das, was wir anrichten - auch mit unseren kleinen, angeblichen "Notlügen". Denn "Notlügen" sind ja nicht nur im freien Raum schwebende Aussagen - wir lügen ja immer jemanden an. Und das vergessen wir oft: Wir unterstellen dem anderen durch unsere Lügen, dass er uns, wenn wir ehrlich wären, weniger mögen würde; dass er kein Verständnis habe; dass er vielleicht (oder ganz sicher) unangemessen reagiere; dass er mit der Wahrheit nicht umgehen kann... und so weiter. Die so genannten "Notlügen" sind Ausdruck von Angst, Misstrauen und Geringschätzung des anderen.
Schlimmer noch: Durch diese "Notlügen" verstärken wir das Misstrauen; wir nehmen dem anderen die Möglichkeit zu zeigen, dass er sehr wohl angemessen reagieren kann. Wir schützen uns vor dem Belogenen - und nehmen ihm damit einen Teil seiner Würde, weil wir ihn indirekt zur Bedrohung erklären.
Außerdem nehmen wir uns die Möglichkeit zu erfahren, dass unsere vermeintlichen Schwächen vielleicht von anderen gar nicht so gesehen werden, dass man uns wohlwollend verzeiht, Verständnis hat, vergeben möchte - usw. Wer lügt, beraubt sich der Erfahrung, dass Wahrheit zur Liebe führt.

Die Übertreibung ist die kleine Schwester der Lüge

Komisch - es lachte keiner, als ich von dem Missgeschick meines Freundes erzählte? Dann muss ich es wohl noch etwas dramatisieren? Seine Tollpatschigkeit noch ein wenig pointierter darstellen?
Wir sind schnell dabei, die Reaktion unserer Zuhörer zu einem wichtigeren Maßstab zu erheben als den guten Ruf derjenigen, über die wir gerade reden. Dabei wird aus der Übertreibung (wie auch aus der Verallgemeinerung) schnell die herabsetzende Lüge - die unangenehmste Variante dieser Sünde.
Bleiben wir bei der Wahrheit. Erbetteln wir uns keine Sympathien auf Kosten anderer.

Eine Gewohnheit ablegen

Lügen ist wie das Rauchen... (wenn es stressig wird, ist flugs die Zigarette angezündet, noch ehe das Gehirn "Stop!" rufen kann). Weil wir so oft geflohen sind, lügen wir schon aus Gewohnheit. "So bin ich halt, ich kann mich nunmal nicht ändern."
Doch, das kannst Du. Und das ist notwendig; denn es gibt immer wieder Situationen, da weiß selbst Dein bester Freund oder Deine beste Freundin nicht, was wahr und falsch ist - und ist allein darauf angewiesen, Dir zu glauben. Schade wäre, wenn sie das nicht mehr vorbehaltlos könnten.
Deshalb: Kämpfe gegen diese Gewohnheit. Du kämpfst um Deine liebsten Menschen!

Versprechen einhalten

Nicht nur Aussagen über das, was ist, sollten wahr sein - sondern auch Aussagen über das, was ich zu tun gedenke. Dabei sind nicht nur Versprechen, die ich zwar gebe, aber von vorneherein gar nicht einhalten möchte, klar gelogen. Es gibt viele unausgesprochene "Versprechen", die zum Wesen von Freundschaften, Beziehungen und Gesprächen gehören. Nicht nur ausgesprochene Sätze können gelogen sein. Auch Dein Verhalten kann unehrlich sein: es gilt Versprechen einzuhalten, treu zu sein, niemanden zu blamieren, niemandem etwas vorzuspielen (z.B. im Internet anderen eine falsche Identität vorgaukeln); aber auch Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit können Aspekte von wahrhaftigem Verhalten sein.

»Wie isset? - Joot!«

Es gibt in unserem Alltag viele Floskeln, die wir zwar austauschen, die aber selten eine ehrliche Antwort erwarten. (Wer im Rheinland fragt: "Wie isset?" wird niemals eine andere Antwort erhalten als: "Joot!"). Von daher ist nicht jede Floskel sofort eine Lüge.
Aber Ehrlichkeit besteht auch darin, niemandem etwas vorzuspielen, was nicht stimmt. Wenn es Dir schlecht geht, musst Du das nicht verstecken; wenn Dich jemand fragt, wie es Dir geht, darfst Du auch ehrlich antworten: "Schlecht."
Außerdem sollte man nicht allen, die sich allgemeiner Floskeln bedienen, unterstellen, sie würden dies gedankenlos tun. Manchmal ist die überraschend ehrliche Antwort auf eine dahingesagte Floskel der Beginn eines echten Gespräches.

Die höfliche Lüge

Im Lied "Wenn sie dich fragt...." sang Roger Cicero eine Anleitung zur geschickten Lüge. Er hat damit ein echtes Problem beschrieben: "Was, wenn meine Freundin mich fragt, ob sie nicht ein wenig zu dick sei?" Tja - hier ist sowohl Höflichkeit als auch Ehrlichkeit gefragt (auch wenn mir zahlreiche Frauen versichern, sie wollten auf solche Fragen keine ehrlichen Antworten!).
Meistens handelt es sich um eine Frage der Wertung, also nicht um eine Frage nach einem objektiven Sachverhalt. Und eine Wertung ("Findest Du meine neue Bluse schön?") lässt sich durchaus nuanciert ausdrücken. Ein plakatives "hässlich" als Antwort ist nicht nur unhöflich, sondern oft auch nicht wahr.
Aber ich gebe zu: Der Übergang von Höflichkeit und Rücksicht zur Lüge und Unehrlichkeit ist fließend. Und oft sind die Grenzen nicht eindeutig zu ziehen - und bedürfen einer tiefen Kenntnis der Psyche des Gegenübers und der Brisanz der jeweiligen Situation. Aber wenn Du Dir nicht sicher bist, ob ein bestimmtes Verhalten noch höflich ist - oder schon verlogen -, dann entscheide Dich für die Ehrlichkeit. Sie ist wertvoller. Nicht nur Frauen schätzen auf die Dauer lieber einen ehrlichen Partner als einen Schleimer.

Schluss

Nicht mehr zu lügen ist nicht nur ein Vorsatz - in gewisser Hinsicht ist es der Vorsatz. Man kann eben nicht nur in einer Hinsicht heilig werden - es werden sich auch andere Tugenden fast wie von alleine einstellen, wenn man es nur mit einer wirklich ernsthaft versucht.

Mit der Ehrlichkeit anzufangen hat viele Vorteile; denn wie kaum eine andere Tugend ist die Ehrlichkeit viel inniger mit der Liebe und Gott verbunden. Wer ehrlich leben möchte, der wird sich auch seinen eigenen Ängsten stellen müssen; aber wird auch verborgene Schönheit entdecken - nicht nur an sich selbst.

Ehrlichkeit setzt Klugheit voraus - denn es geht nicht einfach darum, alles, was Du weißt, allen Personen, die Du kennst, zu erzählen. Ehrlichkeit ist die Mitte zwischen Offenheit und Verschwiegenheit. Ehrlichkeit setzt Diskretion voraus. Diskretion bedeutet aber "Einfühlungsvermögen".

Ehrlichkeit macht Dich liebesfähiger und beziehungsfähiger. Lass Dir nicht einreden, dass ehrliche Menschen einsam sind. Das Gegenteil ist der Fall.

Ehrlichkeit wird nicht immer gewürdigt, und selbst die besten Freunde können manchmal nicht mit dem umgehen, was Du ihnen anvertraust. Aber da Du offen mit Deinen eigenen dunklen Seiten umgehst, kannst Du auch die Schwächen anderer ertragen. Die Liebe wird nur größer, wenn sie sich im Leid bewährt.

Ehrlichkeit lässt Dich hier auf Erden schon ein wenig den Himmel erfahren. Allerdings gilt das nicht nur für das achte, sondern auch für die neun anderen Gebote. Dafür sind sie ja da.

Möchtest Du mir schreiben? Für diese Katechese ist Peter verantwortlich.