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Das Christentum, der Islam und die Aufklärung

Es ist gut, über den Islam, seine Vorstellungswelt, seine Entstehungsgeschichte und seine Glaubensüberzeugungen informiert zu sein. Daran mangelt es in der heutigen Zeit, obwohl oder gerade weil islamistische Straftaten, Menschenrechtsverletzungen und auch islamistischer Terror in den Medien allgegenwärtig sind. Dem grundsätzlichen Informationsdefizit wollte bereits die Katechese Nr. 51 »Der Islam« begegnen.

Hier wollen wir Christentum und Islam nicht aus theologischer Perspektive vergleichen — also zum Beispiel die Frage stellen, ob Gott »nicht gezeugt wurde und nicht gezeugt hat« (wie der Islam festhält) oder in sich »Vater, Sohn und Heiliger Geist» ist, also ein dreifaltig-lebendiger Gott.

Wir wollen vielmehr der modernen Vermutung nachgehen, alle Religionen seien (1) in ihrer Wahrheit ununterscheidbar und deshalb (2) eher eine »Geschmackssache«. Und über Geschmack lässt sich »vortrefflich streiten« - oder überhaupt nicht (je nach Belieben). Wenn dem so ist, können wir Christen dann überhaupt über und mit dem Islam eine inhaltliche Auseinandersetzung führen?

Ja - wir können und wir müssen. Ausgerechnet die Aufklärung hilft uns dabei, zu den wesentlichen Unterschieden zwischen diesen beiden Religionen vorzudringen - ohne dabei auf hochtheologische Beweisführungen zurückzugreifen.

I. Das Verhältnis von Religion und moderner Gesellschaft
1. Die Religion in der aufgeklärten Gesellschaft

a. Religion gehört ins Private! — Als Privatsache dürfte Religion allgemein akzeptiert sein - »man muss ja schließlich an irgendetwas glauben« heißt es gelegentlich. Und die, die keinen Glauben haben, betrachten sich zwar als den »Kinderschuhen der Religiösität« entwachsen, billigen den (in ihrer geistigen und emotionalen Entwicklung zurückgebliebenen) Religionsanhängern aber natürlich »ihre Religion« weiterhin zu. So, wie man seufzend zur Kenntnis nimmt, dass auch große Kinder gelegentlich noch ein Kuscheltier brauchen.

Aber Religion im öffentlichen Raum? Das geht gar nicht! Nicht nur, weil ein Kuscheltier-Phantom in der harten Realität der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nichts zu suchen habe, sondern auch weil einer jeden Religion unterstellt wird, potentiell gewalttätig und gefährlich zu sein, wird häufig jeder politische und moralische Anspruch der Kirchen beargwöhnt. Aufgeklärte Menschen könnten eben nicht religiös sein, heißt es. Erst durch die Befreiung von Kirche, Glauben und Religion ist Europa zum friedliebenden Kontinent geworden. Und an Europas Wesen soll nun die ganze Welt genesen.

Nicht wenige Zeitgenossen billigen der Kirche und der Religion deshalb in öffentlichen Fragen kein besonderes Mitspracherecht zu - die Kirche sei (so die verbreitete Meinung) letztlich so etwas wie ein Kegelverein, dessen Mitglieder nach ihren eigenen, selbsterfundenen Spielregeln handeln. Für alle Vorgänge innerhalb des Vereins seien diese Regeln brauchbar; wer möchte, dürfe danach leben. Aber warum sollte der Staat Kegelclubs, Kaninchenzuchtvereine, die Kirche oder die FIFA nach ihrer Meinung fragen, wenn es zum Beispiel um die Diskussion bezüglich der Embryonenforschung geht?

b. Islamkritik ist Islamophobie! — »Ob ein Gott existiert, lässt sich weder beweisen noch widerlegen.« Dieser Satz gehört zu den Dogmen des modernen Humanismus (oder Atheismus - Materialismus - Agnostizismus - Naturalismus usw.). »Und wenn sich Gott nicht erkennen und rational durchdringen lässt, gilt das natürlich auch für die Religion, die Kirche und die kirchliche Lehre.« Dieses Dogma ist inzwischen so oft wiederholt worden, dass sich darin nicht nur die Mehrheit der modernen Menschen absolut sicher ist - sondern sogar auch viele Christen.

Dann kann es natürlich auch keine gewaltfreie Mission geben (wer nicht argumentieren kann, weil es keine Argumente gibt, muss entweder überreden, verführen, manipulieren oder Gewalt anwenden); Religionen können nicht miteinander in ein vernünftiges Gespräch kommen (worüber auch? Über Geschmack lässt sich nicht streiten!); und wenn Religionen zum dem Schluss kommen, dass andere Ansichten falsch seien, muss das emotional oder psychologisch begründet sein. Aus einer Islamkritik wird dann folgerichtig eine Islamphobie. Eine Weiterführung des jüdischen Glaubens aus christlicher Sicht kann in diesem Horizont nur Antisemitismus sein. Und eine Ablehnung von praktizierter Homosexualität ist dann Homophobie.

Wer entschieden hat, dass Religionen grundsätzlich irrational sind und deshalb keine Argumente haben können, braucht auch auf die vorgetragenen Gedankengänge nicht eingehen. Er darf munter allen, die sich mit anderen Auffassungen auseinandersetzen, psychologische - ja, psychopathische Beweggründe unterstellen. Ein Kind, das die Kuscheltiere anderer Kinder schlecht redet, muss krank sein. Von Wahrheit kann in Bezug auf Kuscheltiere oder Gott doch keine Rede sein.

c. Die Religion in der Aufklärung: Lessings Ringparabel. — Auch wenn immer wieder von der Aufklärung gesprochen wird, so fallen unter diesen Begriff sehr unterschiedliche und einander auch widersprechende Ansätze. Aber auch, wenn die Aufklärer keinen einheitliche Haltung zur Religion entwickelten, so lässt sich doch sagen, dass das Verhältnis der Aufklärung zur Religion im allgemeinen kritisch war. Am ehesten gibt die Ringparabel aus Lessings Drama »Nathan der Weise« (1779) einen Grundkonsens der Aufklärung wieder:

Ein Mann besitzt ein wertvolles Familienerbstück, einen Ring, der die Eigenschaft hat, seinen Träger »vor Gott und den Menschen angenehm« zu machen, wenn der Besitzer ihn »in dieser Zuversicht« trägt. Dieser Ring wurde über viele Generationen vom Vater an jenen Sohn vererbt, den er am meisten liebte. Doch eines Tages tritt der Fall ein, dass ein Vater drei Söhne hat und keinen von ihnen bevorzugen will. Deshalb lässt er sich von einem Künstler exakte Duplikate des Ringes herstellen, vererbt jedem seiner Söhne einen der Ringe und versichert jedem, sein Ring sei der echte.
Nach dem Tode des Vaters ziehen die Söhne vor Gericht, um klären zu lassen, welcher von den drei Ringen der echte sei. Der Richter aber ist außerstande, dies zu ermitteln. So erinnert er die drei Männer daran, dass der echte Ring die Eigenschaft habe, den Träger bei allen anderen Menschen beliebt zu machen; wenn aber dieser Effekt bei keinem der drei eingetreten sei, dann könne das wohl nur heißen, dass der echte Ring verloren gegangen sei. [...] Der Richter gibt den Söhnen den Rat, jeder von ihnen solle daran glauben, dass sein Ring der echte sei. Wenn einer der Ringe der echte sei, dann werde sich dies in der Zukunft an der ihm nachgesagten Wirkung zeigen. Jeder Ringträger solle sich also bemühen, diese Wirkung für sich herbeizuführen. (zitiert nach wikipedia)

Lessing sieht hier - wie auch in der heutigen Sicht der Religion - von einer Prüfung der Wahrheitsfrage (der Echtheitsfrage) ab; er hält sie schlicht für nicht möglich. Aber dennoch sind die Religionen (für die in der Parabel die Ringe stehen) nicht einfach gleich: Sie erweisen ihre Wahrheit (Echtheit) durch ihre Wirkung.

Natürlich gibt es noch weitergehende Ablehnungen der Religionen im Zuge der Aufklärung; von der vorsichtigen Scheidung von Glauben und Wissen durch Kant, über die offene Ablehnung jeder Metaphysik durch Feuerbach und Voltaire bis hin zur gewaltsamen Verfolgung und Hinrichtung der katholischen Geistlichen z. B. in der französischen Revolution.

Die Botschaft von Lessings Ringparabel verweigert zwar weiterhin eine theologische Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum; dennoch wollen wir in diesem Sinne nach dem Verhältnis von Islam und Christentum fragen.

Dabei können wir natürlich nicht damit argumentieren, dass sich die Christen (oder die Muslime) in Vergangenheit und Gegenwart sichtlich besser verhalten haben. Eine solche Wertung ist schlicht unmöglich; weder können wir historisches Fehlverhalten gegen häusliche Gewalt aufrechnen, noch ist es sinnvoll, Leid arithmetisch hochzurechnen und wie zwei Reaktionsprodukte gegeneinander abzuwägen. — Vielmehr müssen wir fragen, wie sich das Wesen der beiden Religionen zu den Erscheinungsformen verhält: Ist zum Beispiel Terrorismus (den es im christlichen Raum genauso gegeben hat wie im muslimischen) im Gottesbild oder Menschenbild der beiden Religionen angelegt oder gefordert? Oder verboten und geächtet? Hat es jemals so etwas wie einen »christlich motivierten Terrorismus« gegeben? Worauf richtet sich genau der Anspruch auf Wahrheit der Religion? Wie ist das Verhältnis von kultureller Ausprägung und Offenbarung? Worauf zielt die Religion: Auf eine Erziehung des Menschen oder auf eine Erhaltung der Ordnung?

2. Vom gleichen Gott und verschiedenem Gottesbild

a. Von der Ähnlichkeit und Verschiedenheit. — Viel Verwirrung entsteht bei der Frage, ob (und inwieweit) sich Christentum und Islam ähnlich sind. Manche meinen, Christentum und Islam würden sich im Grunde nicht wirklich unterscheiden - nur hat uns die Aufklärung von den negativen Auswirkungen der Religionen befreit (auch vom »Terror des Christentums«), und so sei eine Aufklärung dringend auch in den arabischen und islamischen Staaten nötig. Auch die gegenteilige Behauptung - Islam und Christentum seien grundverschieden - wird oft erhoben, aber wenig reflektiert. Beide Behauptungen über die Identität oder Grundverschiedenheit von Islam und Christentum sind angreifbar - zumindest, wenn sie nicht näher beleuchtet und konkretisiert werden.

Die Ansicht, Islam und Christentum seien im Grunde eine Religion von gleicher Qualität und deshalb beide abzulehnen (siehe oben: Religionen sind immer unaufgeklärt und gefährlich) ist zumeist verbunden mit einer Glorifizierung der Aufklärung oder des Atheismus. Demnach sei nur der wirklich tolerant, der die »irrationale Kindheitsphase der Religion« hinter sich gelassen habe. Ein Blick ins Geschichtsbuch lässt diese Ansicht schnell als nicht belegbar erscheinen: Gerade die aufgeklärten, sich als ausdrücklich atheistisch gebärenden Regime Europas haben wenig Frieden, dafür eher neuen Terror gebracht. Weder die französische Revolution, noch die großen atheistischen Systeme (Nationalsozialismus und Kommunismus), und auch nicht die neueren atheistischen Staaten (Nordkorea oder früher Albanien) können die These stützen, die Abschaffung der Religion führe zu einem paradiesischen Zustand. — Wenn sich deshalb Teile der arabischen Welt grundsätzlich gegen eine aufgeklärte Gesellschaft nach westlichem Vorbild wenden, darf das nicht überraschen.

Wenn wir im Folgenden von dem Islam reden, ist immer zu beachten, dass es mindestens zwei Hauptrichtungen und unzählige Varianten gibt, die Botschaft Mohammeds zu lehren und zu leben. Ausgehend von der islamischen Revolution im Iran 1979 und der Erneuerung der wahabitischen Richtung in Saudi-Arabien ist sowohl bei den Schiiten (Iran) als auch bei den Sunniten (circa 80 % der Moslems) eine Rückbesinnung auf den Koran zu beobachten. Da diese radikalere Form uns daher mehr beschäftigt, beziehen wir uns in dieser Katechese eher auf die strengere Auslegung des Koran.
Die mehrheitlich türkischen Moslems in Deutschland sind eher gemäßigt. Dies liegt an den Reformen Atatürks, der nach dem Ersten Weltkrieg die Türkei als weltlichen Staat gegründet hat. Auch vertritt ein Drittel der Türken den Islam in alevitischer Prägung und damit bewusst gemäßigter Ausrichtung. Aber auch hier verstärkt sich der Einfluss Saudi-Arabiens und des Irans.

b. Die unheilvolle Mär vom gleichen Gott. — »Im Grunde verehren wir doch alle den gleichen Gott. Die einen nennen ihn Jahwe, die anderen Allah und wieder andere sagen einfach Gott. Aber letztlich meinen wir doch alle den Einen. Oder?«

Diese Aussage war vielleicht einmal gut gemeint: Sie wollte eine emotionale Nähe zu anderen Religionen herstellen, das Gemeinsame betonen anstelle des Trennenden - zumal mit den anderen großen monotheistischen Religionen wie dem Judentum und dem Islam. So sollte Frieden gestiftet werden, wo bislang eher Unwissenheit oder gar Feindseligkeit herrschte.

Allerdings hat sich die Verbreitung der Illusion »Wir haben doch alle den gleichen Gott!« inzwischen gegen ihren Urheber gewendet: »Wenn der Islam eine Religion ist, die so große Gewalt in den Menschen hervorruft - und wenn Islam, Judentum und Christentum im Grunde den gleichen Gott anbeten -, dann sollten wir am besten alle Religionen gleichermaßen ablegen!« Die Verbrüderung mit dem Islam erscheint nun wie die Gleichsetzung mit einem ungeliebten und verpönten Mitmenschen: Sie lässt auch die in einem schlechten Licht erscheinen, die glauben, es eigentlich nicht verdient haben.

In der Osterausgabe des SPIEGEL 2016 wird diese Schlussfolgerung wider besseren Wissens durchexerziert: Demnach sind alle monotheistischen Religionen gewaltbesessen; das Problem ist nicht eine bestimmte Religion, sondern die Religion überhaupt. Besonders schlimm seien die Monotheisten, die davon überzeugt sind, dass ihre Religion wahr sei. Daraus folgert der Autor des SPIEGEL-Artikels sogar, dass auch Jesus Gewalt, Krieg und Terror gepredigt habe; allerdings seien diese Aussagen wohl später aus der Bibel entfernt worden. Aha.

Beide Behauptungen sind einfach nur dumm; mit anderen Worten: undifferenziert. Der Islam verehrt weder den gleichen Gott wie die anderen Religionen, noch hat er das gleiche Ziel vor Augen. Natürlich: Es gibt nur einen Gott; das ist die Grundüberzeugung der drei monotheistischen Religionen. Aber ihr Gottesbild unterscheidet sich gewaltig - und damit auch das Bild von der Welt, dem Menschen, der Moral und dem Umgang mit den Mitmenschen. Genausowenig ist aber auch der Islam von vorneherein eine gewalttätige Religion, von der wir uns in jeder Hinsicht distanzieren sollten. Deshalb ist das erste Anliegen dieser Katechese die Differenzierung: Was haben wir mit dem Islam gemeinsam - wo liegen Unterschiede? Was an den Differenzen ist auf die Religion, was dagegen auf die kulturellen Bedingungen zurück zu führen? Und nicht zuletzt sollte immer unterschieden werden, ob ein Verhalten eines Mitglieds einer Religion für diese Glaubensgemeinschaft repräsentativ ist - oder ob es eben nur ein Einzelversagen von Menschen ist, das von der jeweiligen Religion verurteilt und nicht gefordert ist.

3. Der Islam, das Christentum und die Aufklärung

Immer wieder hört man die scheinbar plausible Analyse, der Islam habe eine Zeit der Aufklärung noch vor sich; das Christentum dagegen sei deshalb modern und human, weil es durch die Säkularisierung gezwungen worden sei, ein aufgeklärtes Weltverständnis zu entwickeln. Erst durch den Druck, den Politik, Wissenschaft und Gesellschaft seit den Zeiten der Aufklärung auf die Kirche ausgeübt hätten, habe sich die christliche Religion zu einer in modernen Zeiten akzeptablen Religion entwickelt. Das stehe beim Islam noch aus.

Im Hintergrund steht bei dieser Geschichtsbetrachtung die Behauptung, alle Religionen seien Quelle von Gewalt, erst die »Befreiung« von der Religion durch die Aufklärung habe damit Schluss gemacht. Verbunden ist damit der Aufruf: Lasst ja keine Religion (welche auch immer) Denken, Politik und Gesellschaft bestimmen! - Nun, schauen wir, ob sich diese Sicht mit der Wirklichkeit vereinbaren lässt.

a. Der Islam und die Aufklärung. — Das Christentum hat die Zeit der Aufklärung erlebt und überstanden - das ist korrekt. Zu einer modernen Religion ist das Christentum aber nicht durch Druck von außen geworden - eine Modernisierung der Grundprinzipien einer Religion lässt sich weder durch die Guillotine noch durch Zwangs-Säkularisation erzwingen. Das sehen wir zur Zeit auch beim Islam: Das Problem des Islam ist nicht, dass in den muslimisch geprägten Ländern keine Gelegenheit zur aufklärerischen Reformen gegeben war; vielmehr liegt eine entsprechende Erneuerung des Islams im Widerspruch zu seinem Wesen, weshalb er sich beharrlich weigert, diese anzunehmen. Je größer der politische Druck in diese Richtung, umso größer der religiöse Widerstand! Säkulare Regierungen hat es z.B. in Nordafrika und dem Iran genügend gegeben; diese führten aber weder zu einer Reform der religiösen Grundaussagen (ähnlich dem Christentum während der Aufklärung), noch zu einer Veränderung der Lebensform (im Gegensatz zur christlichen Religion). Vielmehr sind wir Zeugen dafür, dass äußerlicher Druck im Islam eher zu einer Verhärtung und Radikalisierung des islamischen Widerstandes führt.

b. Die Wurzeln der Aufklärung. — Dass die Aufklärung nicht nur vom Islam, sondern auch in vielen Geschichtsdarstellungen als ein »anti-religiöses« Phänomen wahrgenommen wird, mag an den späten Früchten der Aufklärung liegen: der Religionskritik, dem Deismus und schließlich dem Atheismus bzw. den Agnostikern. Aber die Aufklärung begann nicht mit Feuerbach und Voltaire, sondern bereits zuvor auch in kirchlichen Kreisen und hat ihren Ursprung in der (schon erwähnten) christlichen Philosophie des Spätmittelalters. Anstatt sich bei jedweder Erkenntnis auf Bibel, Papst, adlige Autoritäten, altehrwürdige Traditionen und Amtsinhabern zu verlassen, begann die Aufklärung mit der Herleitung von Erkenntnissen durch Vernunft, Sachargumenten und Ableitungen aus nachprüfbaren Erfahrungen und (natur-)wissenschaftlichen Entdeckungen. Doch »Aufklärung« ist keine Errungenschaft der Neuzeit: Eine erste Aufklärung gab es bereits im 4.-2. Jahrhundert vor Christus in Griechenland. Schon damals wurde die Religion als einzige Quelle der Erkenntnis und deren Verbote und Gebote (durch Sokrates, Platon und vor allem Aristoteles) hinterfragt, abgelehnt und die Voraussetzungen für eine rationale (und eben nicht bloß traditionsgestützte) Deutung der Welt gelegt. Überraschenderweise hat sich das Christentum genau diese Haltung selbst zueigen gemacht (z.B. in der Kritik an der antiken Welt). Im Hochmittelalter wurde Aristoteles wiederentdeckt und seine Philosophie zur Grundlage der katholischen Theologie - durch Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Duns Scotus, Bonaventura und zahlreiche weitere Theologen. In der Neuzeit aktualisierten ausgerechnet die katholische Naturrechtsphilosophen Franz de Vitoria und der Jesuit Franz Suarez diese Tradition. Die Beschäftigung des Islams mit Aristoteles, die es auch in islamischen Ländern gab, fand hingegen im Mittelalter ihr Ende.

Und selbst die enormen Fortschritte der Naturwissenschaften in der Astronomie (Nikolaus von Kues, Kopernikus, Bruno, Kepler, Galileo), die mathematischen Naturbeschreibungen von Isaac Newton und Leibniz; die Entdeckungen von Harvey (Blutkreislauf), Galvani (Elektrizität), Linné (Biologie), Winckelmann (Archäologie und Kunstgeschichte) sind oft genug unter dem Schutz der Kirche, in ihren Universitäten und mit ihrer Billigung entstanden; Newton sah beispielsweise in der Erforschung der Natur Gott als ihren Schöpfer verherrlicht.

Dass Europa überhaupt die Aufklärung entwickelte und sich zum Hauptfaktor der modernen Weltgeschichte entwickelte, geschah nicht trotz des christlichen Erbes - sondern anknüpfend an der kirchlichen Bewahrung des griechischen Denkens. Die Kirche ist mindestens Mit-Begründerin der Aufklärung; ohne die christliche Grundlegung hätte eine Aufklärung und die Entstehung einer modernen Naturwissenschaft wohl auch in Europa keine Chance gehabt.

c. Das Christentum und die Aufklärung. — Europa hat einen anderen Weg in die Moderne genommen hat als der Orient, China und Nordafrika. Was genau daran Verdienst der Kirche oder der christlichen Theologie, Philosophie oder Kultur ist, lässt sich nicht einfach und schnell benennen. Nicht nur bei uns sind Alltagskultur, religiöse Überzeugung, große Politik und christliche Ethik so stark miteinander verwoben, dass es schlichtweg nicht möglich ist, eine gesellschaftliche, politische, wissenschaftliche oder kulturelle Entwicklung als »rein säkular« zu isolieren. Das gilt für die modernen Naturwissenschaften, die sich nur in einem religiösen Umfeld entwickeln konnten, das die Welt grundsätzlich dem Mythos entzogen und als dem menschlichen Forschen zugänglich verstanden hat. Das gilt für die Ethik, die eine Moral auch dann für begründbar und erkennbar hielt, wenn sie nicht durch einen göttlichen Gesetzgeber legitimiert gedacht wurde. Das gilt weiterhin für Gesellschaftsformen, die Sklaverei, Adelsherrschaft oder Königtum nicht als gottgegeben betrachteten.

Natürlich bezeichneten sich die christlichen Herrscher auch als »Könige/Kaiser von Gottes Gnaden« - was aber nicht verwechselt werden darf mit der Behauptung, die Abschaffung der Monarchie wäre unvereinbar mit der christlichen Religion!

Der christlichen Theologie wird oft eine zu große Nähe zu den griechischen Philosophen vorgeworfen (vor allem in der Frage, ob Jesus Gott oder Mensch ist); aber gerade die breit gefächerte Übernahme griechischen Gedankenguts durch die christliche Theologie und Philosophie (z.B. die Naturrechtsphilosophie in der Ethik und die Staatsphilosophie des Aristoteles) hat der Kirche immer eine große Offenheit für Entwicklungen verliehen, die dem Judentum und dem Islam (und zahlreichen anderen Religionen und Hochkulturen) letztlich fehlen.

Natürlich hat sich aus der Freiheit der Naturwissenschaften und der Philosophie auch die Möglichkeit ergeben, in Widerspruch zur kirchlichen Lehre zu geraten. Die Kirche hat diese Nutzung der Freiheit zur Abwendung von der Kirche zumeist mit großer Langmut getragen und sogar geschützt, auch wenn kritische Historiker manchmal das Gegenteil behaupten. Ein genauer Blick in die Akte Galileo Galilei, dem Verhalten der Inquisition und dem Umgang mit den Ketzer- oder Hexenprozessen lässt deutlich erkennen, dass der damalige Umgang mit der Freiheit der Wissenschaften und der Lehre sogar manchen modernen Staaten voraus ist, vor allem aber dem Islam und noch mehr den heutigen totalitären Regimen.

Ähnlich dem Islam hat auch das Christentum überzogene Ansprüche der Aufklärung zurückgewiesen, die oft eher anti-kirchlich und anti-religiös gewesen sind - anstatt nur religiös neutral zu sein. Aber das Christentum war gleichzeitig in der Lage, die berechtigten und positiven Anliegen anzunehmen und zu integrieren. Aufgrund der eigenen, inneren Kraft zur Wandlung in der Form bei gleichzeitiger Treue zur Offenbarung waren die Christen in der Lage, diesen Prozess mitzugestalten und zu lenken. Vor allem durch die Fähigkeit zur Vergebung und Barmherzigkeit konnten Phasen der staatlichen Gewalt erlitten und überwunden werden, ohne dass die Kirchen sich radikalisierten. Durch den christlichen Auftrag zur Caritas und zum Engagement für die Armen und Benachteiligten wurden manche gewalttätigen Auswüchse der scheinbar aufgeklärt agierenden Politik überhaupt erst erträglich.

Fazit. — Nicht die Aufklärung hat das Christentum modernisiert und fehlt heute dem Islam; vielmehr hat das Hochmittelalter die Zeiten der Aufklärung ermöglicht; die christliche Kirche hat diese dann mitgestaltet und begleitet. Der Islam dagegen hat bislang die vielen Chancen, Prozesse der Modernisierung in muslimisch geprägten Ländern mitzutragen, ausgeschlagen und sich stattdessen in einer radikalisierte Fundamentalopposition (der »Westlichen Welt« gegenüber) verschanzt.

Worin aber gründet sich die Fähigkeit unserer christlichen Religion, selbst an den Prozessen mitzuwirken, die zum Teil gegen sie gerichtet waren? Warum hat ausgerechnet die christliche Theologie die aufklärerischen Ansätze des Aristoteles bewahrt und weitergeführt - und der Islam nicht? Und wie können wir uns die Quellen unserer Kraft erhalten, aus der das Christentum über Jahrhunderte hinweg schöpfte?

II. Unterschiede im Glauben zwischen Islam und Christentum
1. Das Wort Gottes

a. Der Unterschied zwischen Christentum und Islam. — Eines der ersten, großen Missverständnisse im Vergleich von Islam und Christentum rührt aus einer verständlichen Gleichsetzung der beiden »Religionsstifter«: Jesus und Mohammed. Es liegt ja auch nahe, beide als Urheber der jeweiligen Religion zu sehen und die Schriften, die von Jesus und Mohammed zeugen, entsprechend zu vergleichen. Dabei begehen wir allerdings schon den ersten und vermutlich auch entscheidenden Fehler. Natürlich wissen wir, dass die Christen in Jesus den Messias und den Sohn Gottes sehen; die Muslime in Mohammed jedoch »nur« den Propheten Gottes.

Deshalb mögen es die Muslime nicht, wenn wir sie als »Mohammedaner« bezeichnen. Während wir uns gerne als Christen - also als Anhänger des Jesus Christus - bezeichnen lassen, reagieren die Muslime auf eine Übertragung dieser Benennung allergisch. Aber warum eigentlich?

Wir vermuten, dass der Islam sich selbst eher etwas niedriger ansetzen müsste, da nicht Gott selbst in Mohammed Mensch geworden ist. Verwunderung macht sich breit, wenn wir feststellen, dass der Anspruch des Islams sogar noch über den des Christentums hinausgeht. Was ist der Grund dafür?

Wir erliegen einem Trugschluss, wenn wir Mohammed und Jesus auf die oberste Ebene setzen - und Bibel und Koran als schriftliches Zeugnis der Gründer eine Ebene tiefer einordnen. Tatsächlich sind im Christentum die beiden Positionen vertauscht:

Während im Christentum das Wort Gottes nicht die Bibel, sondern Jesus Christus ist (Er ist das Wort, das vom Vater ausgeht [Joh 1,1f], ihn bezeichnet die Kirche als den »Logos«, das Wort Gottes), nimmt dieses absolute Position im Islam der Koran ein. Der Koran ist nicht wie die Bibel Menschenwort, das von Gottes Wort in sich birgt - der Koran ist direktes Wort Gottes. Mohammed ist Zeuge und Diener des Korans.

Diese Verschiebung ist fundamental. Denn nun verbietet sich jede Veränderung am Koran (sogar jede Übersetzung ist ein Verrat am Wort Gottes, der Koran kann gültig und verbindlich nur auf arabisch gelesen werden); jede zeitgeschichtliche Einordnung oder Differenzierung (wir nennen dies die »historisch-kritische Methode«) ist verboten und eine Verfälschung. Der Hinweis, Teile des Korans seien in Zeiten der Unterdrückung des Islams geschrieben, andere Teile in Zeiten der islamischen Machtfülle und deshalb anders zu lesen, bedeutet eine Herabwürdigung des Korans auf die Ebene eines menschlichen literarischen Produktes.

Diese Zementierung gab es nicht schon immer: Bis ins 11. Jahrhundert durfte und wurde der Koran interpretiert und ausgelegt - der berühmte islamische Gelehrte Averroes schrieb ein wichtiges Werk über die Auslegung des Korans mit dem sperrigen Titel »Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz (Scharia) und der Philosophie«. Darin vertritt Averroes auf dem Weg der logischen Beweisführung die Auffassung, dass der Mensch nicht nur das Recht hat, den Koran auszulegen (»Tawil«) und zu kommentieren (»Tafsir«), sondern sogar die Pflicht hat, ihn auf die authentische Bedeutung für die jeweilige Zeit zu interpretieren. Aber wenig später kamen die islamischen Gelehrten darin überein, dass nun das »Tor der Auslegung« geschlossen sei - seitdem hat es zahlreiche Vorstöße gegeben, das »Tor der Auslegung« wieder zu öffnen, die aber am Gewicht der Tradition und der Angst, gewonnene Sicherheiten in Frage zu stellen, gescheitert sind.

Die Bibel dagegen kann sehr wohl differenziert gelesen und muss aus ihrer jeweiligen historischen Situation heraus verstanden werden. Nicht die Bibel ist das Wort Gottes, sondern Jesus! Deshalb ist das Christentum ja auch nicht in erster Linie eine Schriftreligion - wie man so oft und immer noch lesen kann.

Das überrascht natürlich. Nicht immer hat man sich an diese Unterscheidung erinnert; und noch heute beantworten wir die Lesung im Gottesdienst mit »Wort des lebendigen Gottes«. Aber wir sagen eben nicht: »Worte« des lebendigen Gottes - weil das, was Gott uns sagt, in die Worte menschlicher Autoren gegossen wurde.

Angesichts des Gespräches mit dem Islam - aber auch in der Diskussion mit fundamentalistischen Tendenzen innerhalb der christlichen Konfessionen - ist es sinnvoll, an diese Unterscheidung stärker zu erinnern.

Wir reden also nicht mit gleichen Begriffen und einheitlichen Vorverständnis über zwei konkurrierende Religionsstifter und zwei parallele »Heilige Schriften« - und können deshalb im Gespräch mit Muslimen aneinander vorbeireden, wenn wir diesen Unterschied vergessen.

b. Gibt es diese Verwechslung auch im Christentum? — Ja, auch im Christentum ist in historischer Sicht und in aktuellen Gruppierungen eine Verschiebung von Schrift und Person Jesu feststellbar. Besonders viele evangelikale Gruppen sprechen von der Bibel als eigener Autorität (»Die Bibel hat mir geholfen«; »Die Bibel sagt klar, dass wir nicht erlöst werden, ohne...«; »Ohne Bibel wüsste ich nicht ein noch aus«); in diesen Zusammenhängen würden wir Katholiken anstelle von »Bibel« von »Gott« oder von »Jesus« sprechen, weil wir die Autorität hinter dem biblischen Text sehen. Auch die Absolutsetzung der biblischen Schriften (sogenannte christliche »Bibel-Fundamentalisten«), die Ablehnung aller historischen Einordnungen und die gelegentlich aus dem Zusammenhang gelösten »Wort-Zitate« z.B. bei den Zeugen Jehovas deuten in die Richtung, dass hier das Wort Gottes in seiner Bedeutung und Autorität von Jesus auf die Bibel übertragen wurde.

c. Ist der Islam modernisierbar? — Immer, wenn wir diese Frage stellen, müssen wir daran erinnern, dass die Antwort darauf eigentlich nur durch die Angehörigen des Islam selbst gegeben werden kann. Vor allem die Frage, ob eine theoretisch mögliche Veränderung des Glaubens auch tatsächlich geschehen wird, entzieht sich unserer Kompetenz. Allerhöchstens eine Wahrscheinlichkeit können wir abschätzen:

Theoretisch wäre es möglich, dass der Islam den Koran aus seiner Absolutsetzung löst und einzelne Aussagen relativiert, die im Widerspruch zu einer vernünftig begründeten Ethik stehen. Praktisch ist dies schwierig, denn dann fehlt dem Islam der absolute Bezugspunkt, der bei uns immer noch der lebendige Jesus Christus ist. Diese Position kann im Islam nicht durch Mohammed eingenommen werden - Mohammed ist nicht Gott und auch nicht Gottes Sohn. - Auch der christliche Garant der Wahrheit, der Heilige Geist, der uns Katholiken durch Lehramt und Tradition einen starken Background und eine klare Identität gibt, fehlt im Islam. Ohne den Koran als absoluten Halt und ohne den Beistand des Geistes könnte eine Relativierung des Korans der Auflösung des Islams gleichkommen.

Allerdings: Da es auch im Christentum immer wieder gelingt, die fundamentalistischen Tendenzen einer Verabsolutierung der biblischen Texte zu widerstehen, mag dies auch für den Islam einen möglichen Weg darstellen. Bis zur »Schließung des Tors der Auslegung« im 11. Jahrhundert war eine Auslegung des Korans üblich; denkbar ist durchaus, dass es wieder geöffnet wird.

2. Ein moralischer Gott - ein Gott jenseits der Moral

a. Der Unterschied zwischen Christentum und Islam. — Die Frage nach dem Gottesbild einer Religion ist letztlich der entscheidende Punkt, um das Wesen der jeweiligen Religion zu erkennen; um nichts anderes ging es in der berühmten »Regensburger Rede« von Papst Benedikt XVI. Für unser jüdisch-christliches Menschenbild ist eine Episode aus dem Alten Testament bezeichnend (und revolutionär im Vergleich zu damaligen Gottesbildern:

In Genesis 18, 20-25 heißt es: »Der Herr sprach also: Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, ja, das ist laut geworden, und ihre Sünde, ja, die ist schwer. Ich will hinabgehen und sehen, ob ihr Tun wirklich dem Klagegeschrei entspricht, das zu mir gedrungen ist. Ich will es wissen. Die Männer wandten sich von dort ab und gingen auf Sodom zu. Abraham aber stand noch immer vor dem Herrn. Er trat näher und sagte: Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen wegraffen? Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt: Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen. Dann ginge es ja dem Gerechten genauso wie dem Ruchlosen. Das kannst du doch nicht tun. Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?«

»Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?« ist eine Anfrage an Gott, die ein radikal verändertes Gottesbild bedeutet: Nicht Gott setzt erst das Recht in die Welt - die Existenz Gottes an sich ist gut. Somit sind gut und böse Maßstäbe, die wir auch auf alles, was wir von Gott erkennen, anwenden können. Ja: anwenden müssen.

Für Muslime ist etwas, das von Gott kommt, deshalb schon über jeden Zweifel erhaben - man muss nur sicher sein, dass es sich um eine Anweisung Allahs handelt. Nicht anders ist die takia, die erlaubte Lüge (bzw. Verstellung) im Islam zu erklären.

Auch der Terrorismus kann sich nur im Islam rechtfertigen: Wenn einem Christen im Traum ein Engel erscheint und zum Sprengstoffanschlag auf eine Abtreibungsklinik auffordert, ist das moralische Bewusstsein des Christen in der Lage, diese Aufforderung als böse und damit als nicht von Gott kommend zu erweisen.
Erst ein Gott, der jenseits der Moral steht, kommt überhaupt als Quelle eines (für uns Christen) offensichtlichen Unrechtstaates in Frage.
Wohlgemerkt: Der Islam ist seinem Wesen nach nicht terroristisch - aber er hat ein Gottesbild, das Terrorismus nicht von vorneherein ausschließt.

b. Gibt es so etwas auch im Christentum? — Natürlich gibt es im großen Raum des Christentum auch Verbrechen, Terror und Ungerechtigkeit. Und natürlich versuchen immer wieder Einzelpersonen oder auch christliche Herrscher, ihr Verhalten mit Argumenten auch vor Gott und der Religion zu rechtfertigen. Aber diese Versuche sind zumeist leicht zu durchschauen und wurden in der Geschichte der Kirche schon bereits von Zeitgenossen als unzulässig abgelehnt; Terror, Kriegsverbrechen und Gewalt gegen Unschuldige wurden immer als dem Wesen Gottes entgegengesetzt angesehen.

Allerdings gibt es sowohl evangelikale Gruppen als auch christliche Sekten, die Schriftauslegung und die Gebote Gottes jeder vernünftigen Kritik entziehen wollen und z.B. beim Gebot des Blutgenusses lieber das Gebot Gottes respektieren als menschliches Leben zu retten. — Noch mehr Ähnlichkeit mit dem islamischen Verständnis von Gott und Moral hat vor allem die säkulare Bewegung im Westen. Im modernen Atheismus und einseitigem Humanismus wird oftmals jede moralische Wertung als eine subjektive und religiöse Einschätzung beschrieben, die eben einem Mitglied einer anderen Religion (oder keiner Religion) nicht vorgeschrieben werden darf. Demnach wäre Gott die Quelle der Moral und nicht verbindlich für Nicht-Gottgläubige; eine Ansicht, die dem islamischen Verständnis sehr nahe kommt.

Ein vor kurzem (2015) erschienenes Buch von Frans de Waal behauptet: »Moral ist älter als Religion« (»Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote«). Verblüffend an diesem Buch ist vor allem, dass Frans de Waal glaubt, das Christentum wäre der Ansicht, Moral sei eine Erfindung der Religion. Dieser Ansicht sind nicht die Christen, sondern die Muslime.

Vielleicht wäre es vermessen, von mir aus darauf zu verweisen, dass auch in vielen evangelischen und evangelikalen Theologien Gott scheinbar oder tatsächlich jenseits der menschlichen Vernunft angesiedelt wird. Deshalb verweise ich auf wikipedia, die im Artikel zur Regensburger Rede des Papstes anmerkt: »Von protestantischer Seite verwies der Theologieprofessor Rolf Schieder darauf, dass der Papst nicht nur der islamischen, sondern vor allem auch der protestantischen Theologie mangelnde Vernunftbindung unterstellt habe.« Zumindest fühlte Rolf Schieder sich und seine Kirche in der Regensburger Rede angesprochen.

c. Ist der Islam modernisierbar? — Die Antwort fällt uns Christen besonders schwer. Denn selbstverständlich verpflichtet ein »voluntaristisches Gottesbild« (also ein Gottesbild, in dem Gott alles wollen kann, selbst das Widersprüchliche und moralisch Verwerfliche) nicht zu Gewalt und Terror. Ist aber ein grundsätzlicher Ausschluss von Gewalt im Islam möglich, ohne dass sich auch das Gottesbild ändert? Wäre Allah, der unfähig ist, Böses zu tun und zu wollen, noch der Gott des Islam?

Vermutlich lässt sich der Islam nur reformieren, wenn sich auch sein Gottesbild ändert. Ob der Islam dazu in der Lage ist, hat schon Papst Benedikt in seiner Regensburger Rede gefragt - die Antwort müssen uns die Muslime geben.

3. In- und Exkulturation

a. Der Unterschied zwischen Christentum und Islam. — In unserem heutigen Sprachgebrauch beziehen wir die Adjektive katholisch und evangelisch auf die jeweiligen Konfessionen. Ursprünglich haben diese beiden Eigenschaftsworte aber einen eigenen Inhalt gehabt: »Evangelisch« meint soviel wie »dem Evangelium entsprechend«. Und »katholisch« bedeutet »allgemein«.

Allgemein ist eine Religion dann, wenn sie nicht einem bestimmten Kulturkreis zuzuordnen ist (im Gegensatz zur römischen, griechischen und auch jüdischen Religion, die zugleich an eine Volkszugehörigkeit und damit an einen Kulturraum gebunden war). Zugleich ist die Katholizität eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Christentum und dem Islam.

Eine Religion, die bestimmte Werte und Moralvorstellungen enthält, prägt natürlich jede Kultur auf ihre Weise; bestimmte Kulturen sind sogar prinzipiell unverträglich mit bestimmten Religionen (so dürfte sich eine Mafia-Kultur ebensowenig mit dem Christentum verbinden lassen wie die nationalsozialistische Ideologie oder der russische Stalinismus). In diesem Sinne ist selbst das Christentum oder auch die katholische Kirche nicht wirklich katholisch. Aber im Unterschied zu den alten Stammes- und Nationalreligionen hat sich das Christentum dennoch als bemerkenswert katholisch, sprich allgemein erwiesen: Die Ausbreitung des Christentums aus der jüdischen in den griechischen, römischen und germanischen Kulturraum hat bemerkenswert schnell und zügig stattgefunden. Natürlich hat die enorme Kraft des Christentums diese Kulturen verändert (wir würden »verbessert« sagen); aber keine dieser Völker und Gesellschaften musste sich dabei auflösen, um das Christentum anzunehmen. Sogar kleine und kleinste Völker konnten wesentliche Eigenheiten ihrer Kultur bewahren und mit den neuen Werten verbinden: Das zeigen auch die friedlichen Missionserfolge in Amerika und Afrika.

Selbstverständlich hat es auch enorme Reibungen gegeben - sowohl weil ein Volk oder dessen Repräsentanten gegen den neuen Glauben wehrten; als auch weil der Glaube bei der Aufnahme in die alte Kultur verändert und manchmal auch verfälscht wurde. Ein Vorwurf, den die Zeugen Jehovas heute immer noch erheben, wenn sie Weihnachtsfest und Tannenbaum ablehnen.
Aber es hat auch nicht-friedliche Missionen gegeben, bei denen ganze Kulturen ausradiert oder gewaltsam aufgelöst wurden. Dazu kommen wir bei der »1. Frage«.

Der Islam hat sich nicht von seiner ursprünglich arabischen bzw. orientalischen Kultur gelöst. Die Ausbreitung des Islam schließt die Annahme der Scharia (der islamischen Rechtsordnung) ebenso mit ein wie grundsätzliche Kleidungsvorschriften und sonstige Elemente, die auf den ersten Blick nicht wesentliche Bestandteile des Glaubens, sondern nur kulturelle Ausprägungen sind (wie z.B. die Fastenvorschriften im Ramadan). Von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. in Persien oder Indien) bringt der Islam eine (Rechts-)Kultur mit, während das Christentums sich in bestehende Kulturen einfindet.

Es ist kein Zufall, dass die wichtigste Wissenschaft des Islam nicht die Theologie oder Spiritualität wie in der christlichen Tradition ist, sondern die Rechtswissenschaft (»Jura«).

b. Gibt es die Verabsolutierung der Kultur auch im Christentum? — Die Antwort ist glasklar: Ja, leider. Zuhauf. Die Geschichte des Christentum ist von Anfang an geprägt durch die mühevolle Unterscheidung zwischen kulturbedingten (also menschlichen) Erscheinungen und dem glaubensbedingten (also göttlichen) Wahrheiten. Schon als die Judenchristen (die sich beschneiden ließen und das jüdische Gesetz hielten) mit den Heidenchristen (die sich diesen jüdischen Bräuchen nicht unterwerfen wollten) in Streit gerieten, trat dieses Phänomen zutage. Und bis heute ist jede Inkulturation (= Annahme einer Religion unter Beibehaltung einer Kultur) begleitet von einem neuen Ringen um die Erkenntnis, was göttliche Wahrheit und was menschliche Zutat ist.

Allerdings: Die christliche Kirche hat dieses Ringen und die manchmal bis zur Spaltung gehenden Kämpfe als notwendig und hilfreich angesehen! Die Erkenntnis, was gesellschaftliches Gewand und was erlösende Botschaft ist, war immer ein Erkenntnisgewinn - und jede Inkulturation mit ihren neuen Anfragen an die jeweils vorherrschende Kultur wurde als Chance zur Reinigung (und zu einer größeren Durchsichtigkeit) des Glaubens begriffen - auch wenn es genügend Kräfte gab, die sich jeweils mit Haut und Haaren gegen diese Prozesse wehrten.

Denn das ist die andere Seite der Medaille: Auch wenn jede Inkulturation im Nachhinein als ein Gewinn angesehen wurde - das immer neue Infragestellen der Erscheinungsform des Christentums führte zu massiven Spannungen zumeist mit der etablierten Schicht und dem gut situierten Bürgertum.

Und selbst heute fällt es vielen Christen sehr schwer zu unterscheiden, was bloße Kultur und was eigentliche Identität des Glaubens ist. So kämpfen christliche Bürger verzweifelt gegen Halloween, eine Islamisierung des Abendlandes und eine Abschaffung des Adventskranzes in der Öffentlichkeit - und vernachlässigen dabei den eigenen Kirchgang und das persönliche Gebet. Auf ausländerfeindlichen Kundgebungen werden christliche Symbole mitgeführt; während die lasche Sexualmoral in der westlichen Kultur sogar von Bischöfen zur neuen Offenbarungsquelle und Maßstab für die Religion erklärt wird.

Es ist richtig: Theoretisch freut sich das Christentum über eine Klärung von göttlicher Wahrheit und menschlicher Ausgestaltung; damit kann sie am wesentlichen festhalten und Freiheit in der kulturellen Ausgestaltung z.B. von Festtagsbräuchen gewähren. Praktisch tut sich aber auch das Christentum damit immer wieder schwer.

Der Islam dagegen zeigt sich genau spiegelbildlich: Während es in Reformgemeinden immerhin praktische Bemühungen gibt, alte kulturelle Zöpfe abzuschneiden und sich auf die Gottesbeziehung zurückzubesinnen, ist der Islam grundsätzlich (theoretisch) auf eine bestimmte Kultur festgelegt und verlangt deren Einführung in Wirtschaft, Politik und Rechtsprechung.

c. Ist der Islam modernisierbar? — Wenn der Islam sich von seiner tradierten Kultur trennen will und die überzeitlichen Elemente davon isolieren möchte, so wäre dies eine vollständige Neu-Definition dieser Religion; während das Christentum darin eine 2000-jährige Übung und Erfahrung hat, muss der Islam diesen Prozess von Grund auf lernen. Sämtliche Vorgehensweisen, Prinzipien, Entscheidungsinstanzen und Argumentationen müssten überhaupt erst einmal entwickelt werden. Aber, so zeigen uns einzelne Reformansätze z.B. im »Euro-Islam« (von Bassam Tibi 1991 ins Leben gerufen): denkbar wäre das schon.

Vor allem, weil der Islam in erster Linie eine Rechtskultur ist, wäre eine Loslösung der religiösen Botschaft von seinen weltlichen Rechtsvorstellungen und eine Verlagerung auf grundsätzliche ethische Prinzipien ein doch sehr tiefer Wandel.

III. Wesentliche Unterschiede in der Ausprägung
1. Erziehung des Menschen — Erhaltung der Ordnung

a. Der Unterschied zwischen Christentum und Islam. — Es wäre falsch anzunehmen, der Islam lege keinen besonderen Wert auf den Schutz der Frau. Das Gegenteil ist der Fall - nur sieht der Schutz der Frauen nicht so aus, wie wir es uns in der modernen westlichen Welt wünschen würden. Denn im Islam wird die Frau durch die Mauern des Harems geschützt (da kommt so schnell kein fremder Mann herein), der Ganzkörperschleier (die Burka) schützt ebenfalls die Frau vor der Begierde des fremden Mannes; ebenso drastische Strafen, die zwar auch die Männer treffen, aber ungerechterweise noch mehr die Frauen. Wenn eine Frau (z.B. in Saudi-Arabien) vergewaltigt wird, dann wird sie unter Umständen ebenso bestraft wie der Mann, denn offenbar hat sie den Mann nicht genügend davor geschützt, gewalttätig zu werden.

Obwohl: Seien wir vorsichtig! Wir kritisieren gerade in dieser Hinsicht vor allem die arabische Kultur - zumal ganz bestimmter Länder - und nicht den Islam grundsätzlich. Auch das Christentum hat mit verschiedensten frauenfeindlichen Kulturen und gesellschaftlichen Erscheinungen zu kämpfen (und war manchmal auch Teil des Problems).

Aber während das Christentum im mangelnden Respekt vor Personen (z.B. der Frau) eine Schwäche des Täters sieht, die es zu überwinden gilt, wird in der frühen arabischen Kultur nur die Störung der Ordnung in der Gesellschaft sanktioniert. Ein Ehebruch ist vor allem die Verletzung dieser göttlichen Ordnung (und der Eigentumsordnung des Ehemannes); im Christentum ist der Ehebruch die Verletzung einer Person. Deshalb fehlte dem Islam die innere Kraft, eine ungerechte, aber funktionierende Gesellschaft zu verbessern.

Das Christentum dagegen verliert diese Kraft manchmal durch menschliche Korruption; das unbedingte Ziel des Christentum ist jedoch nicht die gesellschaftliche Ordnung, sondern die Hebung der persönlichen Gesinnung durch immer wieder neues Streben nach Tugend, Respekt und Achtung vor der eigenen Gottesebenbildlichkeit und der des anderen. Konkret schützt das Christentum die Frau nicht durch Mauern und körperliche Eingrenzung der männlichen Gewalt; sondern durch die Erziehung zu Tugenden wie Selbstbeherrschung, Achtung vor der Person, Zivilcourage, Opferbereitschaft, Selbstlosigkeit und Liebe.

b. Gibt es eine verdrehte Schuldzuweisung auch im Christentum? — Nicht selten hören wir auch aus christlichem Munde, dass ein als liberal empfundener Kleidungsstil der Frauen mitschuld sei an der Gewalt, die ihnen von Männern angetan wurde. Übersehen wird dabei, dass wir von Schuld nicht schon dann sprechen, wenn ein bestimmtes Verhalten Teil einer Ursachenkette ist (so ist auch ein Juwelierladen nicht Schuld an der Ausraubung, weil er seine Schätze im Schaufenster anpreist), sondern erst dann begeht jemand eine verwerfliche Tat oder hat Schuld, wenn er vorsätzlich Persönlichkeitsrechte verletzt.

Ja, selbst wenn sich eine nymphomanische Frau in verführerischer Absicht einem fremden Mann anbiedert, ist der Mann dazu angehalten, der Frau auch um ihres eigenen Schutzes willen zu widerstehen. Tut er es nicht, sündigt er - trotz ihres Verhaltens (...natürlich bedeutend weniger schwer als bei einer Vergewaltigung).
Grundsätzlich ist die Relativierung einer Sünde mit den Hinweis, beide würden ja zustimmen, nicht zulässig: Selbst wenn eine Person einer verwerflichen Handlung zustimmt oder dazu animiert, ist die andere Person dazu angehalten, die erste Person weiter so zu respektieren und zu achten, dass er sie auch vor sich selbst beschützt.

Auch der Hinweis aus - wiederum christlich-fundamentalistischen - Kreisen, die Bibel selbst würde den Frauen eine bestimmte Kleiderordnung auferlegen, ist nicht konsequent durchzuhalten: Was genau nun angemessene Kleidung für Männer und Frauen ist, wird in der Bibel nicht genannt und bleibt kulturbedingt.

Diese kulturbedingten Grenzen in der Kleiderordnung sind allerdings zu respektieren; dafür gibt es auch in den westlichen Ländern klare und zu respektierende Regeln! Auch die Kirchen haben ein Recht, für ihre Gebäude und Gottesdienste eigene Standards einzufordern. Dabei mag es sein, dass im Puritanismus (und in gesellschaftlichen Phasen, z.B. im Großbritannien zur Zeit der Königin Victoria und der Schriftstellerin Jane Austen) die gesellschaftlichen Regeln und Zwänge sehr eng ausgelegt wurden. Ein generelles Verbergen aller fraulichen Reize zur Verhinderung von Straftaten ist aber dem Christentum - und vor allem der katholischen Moral - entgegengesetzt.

c. Ist der Islam modernisierbar? — Sowohl das Bild der Frau als auch das tatsächliche Verhalten ihr gegenüber ist sowohl religiöse Pflicht als auch ein kulturelles Phänomen. Das kulturelle Erscheinungsbild des Islam ist reformierbar - dessen Grundlegung im Koran macht diese Reform aber sehr schwer. Auch dass Mohammed sich selbst Frauen gegenüber radikal anders verhalten hat als Jesus, ist eine hohe Hürde: Denn den Propheten zu kritisieren ist ein mitunter lebensgefährliches Unterfangen.

In einem sich reformierenden Islam dürfte dies erst möglich sein, wenn der Koran einer kritischen Interpretation unterzogen werden darf und seine Rechtsnormen nicht mehr alle ungekürzt umgesetzt werden müssen. Denn sowohl das Frauenbild selbst ist im Koran festgeschrieben (im Vers 228 der 2. Sure [»Die Kuh«]: Die Männer sind den Frauen überlegen; wörtlich: »Die Männer stehen eine Stufe über ihnen«), als auch die Rechtsnormen zur Entlassung einer Frau aus der Ehe (Verse 229-230), die Halbierung des Erbes für Frauen (Vers 11 in Sure 4 [»Die Frauen«]) und den Rat, die Frauen zu schlagen (Vers 34 in Sure 4: »Und wenn ihr fürchtet, dass irgendwelche Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!«). Auch die Polygamie, die zwar dem Mann bis zu vier Frauen erlaubt, eine Frau aber mit dem Tode bedroht, die mehrere Männer hat, geht auf Anordnungen aus dem Koran selbst zurück.

2. Sünde, Gebote und Strafe

a. Der Unterschied zwischen Christentum und Islam. — Sünde + Strafe: Der Islam denkt in weiten Teilen in innerweltlichen Kategorien und verhält sich eher wie eine Staatsphilosophie: Seine Moral verbietet die Sünde ähnlich wie auch im Christentum; die Strafen in islamischen Ländern (wie z.B. in Saudi-Arabien oder dem Iran) jedoch sind ungleich härter. In früheren Zeiten gab es entsprechende Strafen auch in christlichen Staaten: Der Verbrecher wird körperlich so bestraft, dass er vor allem weitere Verbrechen nicht begehen kann (Dieben wird die Hand abgehauen, Räubern eine Hand und ein Fuß). Strafe dient der Verhinderung neuer Verbrechen (Hand ab!) und der Wiederherstellung der Ordnung.

Im Christentum will Gott nicht den Tod des Sünders, sondern seine Rettung, Bekehrung und Heilung. Im modernen Europa hat sich der ursprünglich christliche Anspruch durchgesetzt, dass das Ziel der Strafe (neben der Erfüllung der Gerechtigkeit) vor allem die Erziehung des Sünders ist.

Die Gebote: Im Sinai-Bund, einem Vertrag zwischen Gott und seinem Volk, enthält die Bundesurkunde die Leistungen, die Gott seinem Volk erbringen will - und die das Volk als Gegenleistung für Gott erbringt. Der letzte Teil - die Bundesleistung des Volkes - wurde in Form der Zehn Gebote in der Bundeslade, im Bundeszelt und schließlich im Tempel in Jerusalem aufbewahrt. Betrachtet man allerdings die Gebote unter der Erwartung, dort seien die Leistungen des Volkes an Gott aufgeführt, so ist man überrascht, dass die Gebote in erster Linie Selbstverpflichtung des Menschen sind: Gott sucht nicht sein eigenes Glück - Gott will, dass der Mensch gut ist und anderen hilft, gut zu bleiben. Die Zehn Gebote als Bundesleistung sind daher weniger als staatsgründender Vertrag zu sehen, sondern wurden bereits im Judentum eher mit einem Ehevertrag verglichen: »Weil ich dich liebe, will ich, dass auch du gut auf dich achtest und gut zu dir bist.«

Im Islam sind die Gebote weniger Verpflichtung zur inneren Heilung als vielmehr Grenzziehungen durch Allah; Gesetze sollen eingehalten werden und dienen so der Ordnung in der Gesellschaft. Einem Staat ist es eigentlich egal, was seine Bürger denken - Hauptsache, sie verhalten sich ordentlich. Das Verständnis der Gebote als Eheversprechen denkt dagegen tiefer: Ein Ehepartner will nicht nur das richtige Verhalten seines Geliebten, sondern eine ehrliche und vollendende Beziehung.

b. Gibt es legalistische Tendenzen auch im Christentum? — Ja, gibt es. Nicht nur in früheren, mittelalterlichen Zeiten oder fernen Kulturen. Auch in unserer Gesellschaft wird immer wieder der Ruf laut nach Strafen für bestimmte Verbrechen, die auch dem Rachegefühl entspringen. Wir schwanken dabei oft von einem Extrem in das andere: Während wir gerade noch einem Kriminellen aufgrund seiner schweren Kindheit, seiner schlechten Eltern und mangelnden Erziehung jede Eigenverantwortlichkeit absprechen, fordern wir im nächsten Augenblick die Zwangskastration, Todesstrafe oder ein »Wegschließen für immer«. Wird unsere Welt wirklich sicherer, wenn wir ausländische Kriminelle abschieben? Für einen Christen ist es gleichgültig, ob Menschen nun in Deutschland oder Tunesien ihre Verbrechen begehen; nicht der Ort des Verbrechens, sondern das Herz des Verbrechers sollte geändert werden.

c. Ist der Islam modernisierbar? — In dieser Hinsicht: Ja. Auch im Christentum müssen die Menschen immer wieder, jeder Einzelne und zu jeder Zeit den Weg von einer Moral der äußeren Ordnung zu einer Moral der inneren Bekehrung finden. Das kann auch jeder Moslem und wird vermutlich auch ein großer Teil der Muslime praktizieren und vorleben. Die Frage ist nur, ob der Islam diese tiefere Sicht auch öffentlich unterstützt, indem er auf die Bekehrung der Herzen und nicht die äußere Gerechtigkeit verweist. Denn bislang ist der Islam eine normative Religion: Bei der Verrichtung der Gebete spielt die Erfüllung der äußeren Pflichten die entscheidende Rolle - die innere Spiritualität ist zumindest zweitrangig. So geht es in der Rechtsordnung auch nicht um die Bekehrung der Herzen - sondern um die Erfüllung der Normen.

Da diese Sichtweise im Judentum weit verbreitet war und sich im Christentum wandelte, dürfte es nicht unmöglich sein, dass sich dieses auch im Islam ereignet. Was das für die Identität des Islam bedeutet, ist allerdings unklar.

3. Die Geschichte des Christentum und die Geschichte des Islam

An einem letzten Punkt, der in der berühmten »Regensburger Rede« von Papst Benedikt XVI. nur als Auftakt-Zitat dient, soll vor allem die Frage nach der Reformierbarkeit des Islam geklärt werden. Denn: Ist nicht die Geschichte des Christentums genauso grausam und gewalttätig wie die des Islam - nur, dass der Islam noch nicht durch die aufgeklärte Gesellschaft korrigiert wurde?

Letztlich sind Geschichtswissenschaften durch Interpretationsleistungen geprägt; die Frage stellt sich also, inwieweit die Gräueltaten der christlichen Geschichte als Fehler der Religion interpretiert werden - oder als Fehler einer noch nicht genügend durch die Religion durchformten Gesellschaft.

Nehmen wir einmal an, die Errungenschaften der modernen westlichen Zivilisation (der Rechtsstaat, die Würde des Menschen, die Menschenrechte, die gesellschaftliche Ordnung und die sozialen Sicherungen) seien letztlich Frucht des Christentums - und die Verbrechen, Kriege und Verfehlungen der letzten 2000 Jahre ein Produkt der mangelnden christlichen Verwirklichung: Kann man so wohlwollend nicht auch den Islam sehen? Würde eine perfekte christliche Gesellschaft ähnlich aussehen wie eine perfekte islamische Gesellschaft?

Diese Frage lässt sich wohl nur historisch beantworten. Deshalb beginnt Papst Benedikt zu Beginn seiner Regensburger Rede (am 12. September 2006) mit dem Zitat einer Aussage zur Rolle der Gewalt im Islam, die der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaiologos (1350–1425) während der Unterhaltung mit einem persischen Gelehrten machte:

»Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von "Schriftbesitzern" und "Ungläubigen" einzulassen, wendet er (der Kaiser) sich in erstaunlich schroffer, uns überraschend schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: "Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten". Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. "Gott hat kein Gefallen am Blut", sagt er, "und nicht vernunftgemäß, nicht 'syn logon' zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider".«

So viel Widerspruch dieses Eingangszitat der Regensburger Rede auch aus islamischen Reihen erhalten hat, so berechtigt ist seine Frage. Würden wir an den Islam absolut wohlwollend herangehen und annehmen, alles Positive der islamischen Länder wäre Frucht des Islam und alle Verbrechen wären mangelnde Umsetzung der muslimischen Religion: Was sind denn die Errungenschaften, die islamische Länder und Kulturen von ihren Nachbarn unterscheiden? Mit den Worten des christlichen Kaisers Manuel II.: »Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat!«

Diese Frage möchte ich allerdings nur stellen - nicht beantworten. Diese Frage zu stellen ist allerdings immerwährende Pflicht aller Religionsvertreter und Missionare. Auch christlichen Missionare müssen sich fragen, ob sie fremden Völkern wirklich eine frohe Botschaft bringen - über den Import von Wohl und Wehe einer europäischen Kultur und deren Krankheiten (im medizinischen und im übertragenen Sinne) hinaus. Die Frage zu beantworten ist schwierig, sie zu stellen notwendige Selbstbesinnung: Ist die jeweilige Religion (das Christentum - der Islam - das Judentum) Teil eines damit verbundenen gesellschaftlichen Problems - oder die Lösung?

Fazit

In der medialen Diskussion (besonders nach Anschlägen oder kriminellen Einzeltaten durch Muslime) wird stereotyp von einem Problem mit Muslimen, aber nicht mit dem Islam gesprochen. Wer die Religion mitverantwortlich macht oder deshalb ablehnt, gilt als islamophob. Dahinter steckt allerdings die irrige Annahme, Religionen seien grundsätzlich nicht rational zu diskutieren und letztlich Geschmackssache.

Objektiv betrachtet gibt es jedoch fundamentale Unterschiede zwischen Christentum und Islam; eine Ablehnung des Islams mit differenzierten, aber sehr wohl rationalen Argumenten ist möglich; mit Islamophobie hat das nichts zu tun. Allerdings gilt der unverzichtbare Grundsatz: Wir reden hier über den Islam als Religion - nicht über die Muslime, ihre jeweilige moralische Integrität und ihre Aufrichtigkeit!

Möchtest Du mir schreiben? Für diese Katechese ist Peter verantwortlich.