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Fragen zum Missbrauchsskandal

Bereits viele haben es unternommen, zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche ihre Analysen, Gedanken und Meinungen zu äußern. Für uns Priester ist das besonders schwierig und heikel; wir müssen uns davor hüten, daran etwas zu beschönigen. Manchmal ist deshalb das schweigende Zuhören die bessere Alternative.

Aber nach einigem Zuhören, aufmerksamen Mitlesen der verschiedensten Veröffentlichungen, dem Bedenken eigener Erfahrungen und dem Erwägen von Berichten der (mir zum Teil persönlich bekannten) Opfern drängt es mich nun doch, ein paar Gedanken der Diskussion beizusteuern. Nicht, weil die bereits diskutierten Ansichten falsch wären. Sondern weil meiner Meinung nach ein paar wichtige Wurzeln des ganzen Übels übersehen werden. Oder werden sie gar bewusst ausgeblendet? Wenn wir tatsächlich unsere blinden Flecken haben und uns weigern genau zu sehen, wird die nötige Reinigung der Kirche nicht stattfinden.

Deshalb möchte ich zuerst drei vorschnelle Antworten «in Frage stellen», und danach selber noch drei Fragen in die Runde werfen, deren Beantwortung sicherlich interessant sein dürfte.

Unbequem sind die Fragen allemal: Zum Teil für die, die aus dem Missbrauchsskandal kirchenpolitisches Kapital schlagen; zum Teil für die Bischöfe, weil von ihnen eine Haltung erwartet wird, die der Öffentlichkeit nicht gefallen wird.


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Diese Katechese ist auch als gedrucktes Heft (Nr. 127) erhältlich: Kostenlose Bestellung

I. Biedermann? Oder die Brandstifter?

Im bekannten Drama «Biedermann und die Brandstifter» von Max Frisch beherbergt ein Herr Biedermann zwei Untermieter in seinem Haus, die sich zunehmend als Terroristen (also als Brandstifter) herausstellen. Dennoch unternimmt Biedermann nichts dagegen, da die beiden als zu Unrecht Verdächtigte an die Menschlichkeit Biedermanns appellieren. Biedermann (der sehr wohl weiß, dass es diese Form der Brandstiftung gibt und sich noch kurz zuvor über diese Verbrecher aufregte), gefällt sich nun in der Rolle des Menschenfreundes, ignoriert alle zunehmend deutlichen Hinweise auf die geplante Tat – bis schließlich sein Haus brennt.

Fragt man nun Zuschauer (oder zum Beispiel Schüler, die dieses Drama im Unterricht behandeln) nach dem eigentlich Schuldigen, so fällt immer als erstes das Urteil über den Biedermann: Er habe sich selbst betrogen und doch alles kommen sehen! Warum hat er nicht reagiert? Wie kann man sich nur so selbst täuschen?! – Und doch hat nicht der Herr Biedermann das Haus angezündet, die beiden Brandstifter haben es getan. Eindeutig sind sie die Täter, kriminell und hinterlistig. Wer hat Schuld am zerstörten Haus? Die Brandstifter!

Max Frisch hat uns mit diesem Drama, das bereits 1958 uraufgeführt wurde, ein meisterhaftes Lehrstück hinterlassen. Vor allem das von Max Frisch später hinzugefügte Nachspiel, in dem die Frage nach der Schuld des Biedermanns gestellt wird, wiederholt sich schon fast ritualisiert bei jedem Anschlag und Attentat: Hat die Polizei geschlampt und ist deshalb schuld am Anschlag? Hat das Ausländeramt geschlampt? Hat das Innenministerium gefuscht? War das Sicherheitskonzept nicht ausgereift? Wer hat Schuld daran, dass Terroristen Menschen getötet haben?!?

So wichtig diese Fragen nach der Tatvorbereitung sind: Schuld hat immer erst einmal der (oder die) Täter. Sie sind böse, kriminell und verantwortlich. Richtig ist, dass immer auch andere eine Mitschuld tragen. Aber nur, weil jemand hätte etwas verhindern können, wird der Täter nicht von seiner Schuld entlastet: Er ist und bleibt die Ursache das Übels. Nicht die Polizei. Und nicht das Innenministerium.

Das sieht natürlich etwas anders aus, wenn es sich um Naturkatastrophen handelt (bzw. um Bausünden etc.). Da man einem Erdbeben kein moralische Schuld zuordnen kann, ist derjenige, der beim Bau eines Hauses Sicherheitsvorschriften vernachlässigt hat, der moralisch Letztverantwortliche. Aber kriminelle Personen sind keine Naturereignisse! Und grundsätzlich damit zu rechnen, dass über kurz oder lang jeder Mitmensch sich als Monster entpuppt, kann und darf nicht die Grundlage unserer Gesellschaft sein!

Das gilt auch für die Verbrechen innerhalb der Kirche; und ohne Abstriche für die Verbrechen, die im Rahmen des Missbrauchsskandals geschehen sind. Die Täter sind die missbrauchenden Seelsorger. Sie sind kriminell, sie haben sich moralisch höchst verwerflich verhalten. Sie sind der Grund allen Übels. Sie gehören hinter Gittern, bei weltlichen Gerichten angezeigt und aus dem Priesterstand entfernt und exkommuniziert. Ein schwerer sexueller Missbrauch von Kindern ist auch moraltheologisch dem Mord, der Vergewaltigung und der Folter gleichrangig. Schwerer sexueller Missbrauch ist eine in sich schlechte Tat.

1. Sind die Bischöfe schuld?

Die Frage nach Möglichkeiten der Verhinderung dieser Taten muss man stellen (dazu dann gleich noch mehr!). Wenn es aber in manchen Kommentaren so klingt, als haben die Bischöfe (und ihre Behörden) mittlerweile eine Hauptschuld an den Verbrechen der missbrauchenden Priester, so steckt dahinter zwar eine emotional verständliche Anklage gegen manche phlegmatische Bischöfe oder Mitarbeiter der bischöflichen Behörde. Aber jede Schuld, die den Bischöfen angelastet wird, wird den Tätern erspart. Wer gar eine Hauptschuld bei den bischöflichen Behörden und Bischöfen sieht, spricht die Täter in der Hauptsache frei und scheint sie wie ein Naturereignis zu werten. Damit wird unterstellt, dass pädophile Priester nur rechtzeitig erkannt werden müssten – wie ein Tsunami nach einem Erdbeben. «Wenn die Wellen als Folge des Bebens dann über unschuldige Menschen hereinbrechen, liegt die Schuld ja auch bei denen, die nicht rechtzeitig die Alarmglocken haben läuten lassen!» – Nein, nochmal: Die Täter sind die missbrauchenden Priester. Sie sind kriminell, sie haben sich moralisch höchst verwerflich verhalten. Auch ein pädophil veranlagter Seelsorger ist verantwortlich für seine Taten. Bischöfe und ihre Behörden tragen wahrscheinlich eine Mitschuld. Diese gilt es zu benennen, ohne jedoch die Täter zu entlasten.

2. Ist der Zölibat schuld?

Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass gesunde und normal veranlagte Menschen durch sexuelle Enthaltsamkeit (wie zum Beispiel das Zölibat) nicht pädophil werden. «In jedem Fall werden Menschen in ihrer Entwicklungsphase zu Pädosexuellen, und nicht erst, nachdem sie lange Zeit auf Sex verzichten mussten. Man wird, nebenbei bemerkt und rein statistisch gesehen, eher vom Küssen schwanger, als vom Zölibat pädophil.» (Hans-Ludwig Kröber, Deutschlands bekanntester Kriminalpsychiater und «nicht-gottgläubiger Lutheraner»).

Der Zölibat verursacht keine Pädophilie. Es wäre nicht nur absurd zu behaupten, dass begünstigende Umstände aus normalen Priestern, Lehrern und Erziehern pädophilen Monster machen. Bischof Stefan Oster weist darauf hin, dass wir vielmehr mit dem falschen Zusammenhang von Zölibat und Kindesmissbrauch alle Singles und alleinlebenden Menschen unserer Gesellschaft diskriminieren und unter einen unhaltbaren Generalverdacht stellen.

Dennoch könnte ein Zusammenhang zwischen der Ehelosigkeit der Priester und den sexuellen Übergriffen bestehen – wenn auch nur ein mittelbarer. Prof. Dr. Manfred Lütz, Psychiater und Theologe, sagt dazu: «Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein zölibatärer Priester ein Kind missbrauche, sei 36-mal niedriger als bei einem nicht zölibatären Mann (...) Es ist umgekehrt. Pädophile suchen sich Berufe aus, in denen sie an Kinder herankommen. Da ist die Kirche nicht ausgenommen.»

Das gilt auch für andere Eigenschaften des Priesterberufes, die das geistliche Amt für pädophil veranlagte Männer besonders attraktiv erscheinen lassen. Dazu gehört sicherlich auch das hohe Ansehen des Priesteramtes und das Vertrauen, das Priestern (zumindest in früheren Zeiten) grundsätzlich entgegengebracht wird. Vielleicht gehört dazu auch der Zölibat.

Umstände, Gepflogenheiten und pastorale Situationen, die pädophile Männer anlocken und vielleicht auch sexuellen Missbrauch begünstigen, müssen selbstverständlich auf den Prüfstand! Sie gehören aufgedeckt und wenn möglich eliminiert. Was in vielen anderen Bereiche unserer Gesellschaft (in Internaten, Sportvereinen, Kindergärten und Schulen) gilt, muss auch für die Kirche gelten.

Ist es wirklich nötig, den Beichtstuhl zu meiden und mit Kindern in ein Beichtzimmer zu gehen? – Sollte der beliebte Priester allein mit einer handvoll Kindern auf eine Freizeit fahren? – Darf man etwa einen Priester nicht kritisieren, weil er doch ein Amt innehat und sich so sehr für seine Gemeinde einsetzt? – usw.

Aber: Etwas «auf den Prüfstand» stellen heißt, gut zu überlegen, wie wertvoll ein Brauch ist, der eine Gefahr darstellen kann. Vielleicht kann man den Schutz der Kinder auch auf andere Weise garantieren? Wer alles abschaffen will, das Gelegenheit für Kriminelle gibt, ihre Taten zu verüben, kommt mit dem Abschaffen an kein Ende. Nein: Was gut ist in unserer Gesellschaft, muss geschützt werden, damit wir weiterhin eine lebenswerte Gesellschaft haben. Wenn es aber keine solchen guten Gründe für eine Fortsetzung von gefährdenden Situationen gibt, dann sollten diese auch vermieden werden. Im Zweifelsfall auch verboten.

Gehört nun der Zölibat dazu? Gehört es verboten, weil es pädophile und unreif-homosexuelle Männer anzieht? Da sind sich progressive Kreise schnell einig: Da sie im Zölibat bereits aus anderen Gründen ein sinnloses Kirchengesetz vermuten, lohnt es sich aus ihrer Sicht nicht im geringsten, daran festzuhalten; auch wenn der Zusammenhang zwischen Zölibat und pädophilen Übergriffen noch so entfernt oder gar nicht feststellbar ist, sind sie für die Abschaffung.

Aber das wird der kirchlichen Wirklichkeit nicht gerecht, da in der Ehelosigkeit der Priester ein hohes Gut liegt. Schon seit Jahrhunderten nimmt die Kirche es lieber in Kauf, dem Priester zusätzliche Vorkehrungen zuzumuten (wie z. B. Gitter im Beichtstuhl und Abstand beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen); anstatt den Zölibat abzuschaffen. Genauso, wie wir weiterhin am Unterricht durch einzelne Lehrpersonen festhalten und Internate für eine grundsätzlich gute Einrichtung halten.

Nun ist auch die kirchliche Wirklichkeit in unserer hiesigen Kirche in Bezug auf den Zölibat gespalten. Aber selbst, wenn es einen entfernten Zusammenhang zwischen Zölibat und Pädophilie gäbe, wäre es eine unzumutbare Entschuldigung der Täter, deren Schuld zu schmälern und in der freiwillig gewählten Lebensweise den Kinderschändern eine Entschuldigung ihrer Taten zuzugestehen.

3. Ist die Sexualmoral schuld?

Auch die kirchliche Sexualmoral wird immer wieder ins Spiel gebracht, wenn nach den Wurzeln für die sexuellen Übergriffe gefragt wird.

Dabei wäre es absurd, die kirchliche Sexualmoral im Ganzen abzuschaffen. Denn genau genommen könnten wir ohne eine klare Sexualmoral gar nicht von sexuellen Übergriffen reden: Was sexuell noch gut und was schlecht bis hin zu böse ist, erkennen wir nur, wenn wir in Bezug auf die Sexualität eine Moral haben und diese auch konsequent anwenden.
Die Vermutung, eine klare und konsequente Sexualmoral der Kirche könne am unmoralischen Sexualverhalten einiger Priester schuld sein, ist somit nicht im geringsten naheliegend. Die Argumentation der Gegner der Sexualmoral ist daher auch um einige Ecken gedacht:

Nicht die Sexualmoral im Ganzen, sondern die Verwerfung von homosexuellen Taten sei verantwortlich für die Übergriffe; aber auch dies nur indirekt, indem sie unreif-homosexuellen Männern, die Priester geworden sind, die Möglichkeit nimmt, sich mit ihrer Homosexualität so auseinanderzusetzen, dass sie ihre Unreife überwinden.

Ganz unabhängig, ob uns eine solche Anschuldigung einleuchtend oder viel zu weit-hergeholt klingt: Nicht die katholische Sexualmoral (insbesondere die kirchliche Sicht der Homosexualität) erschafft unreif-homosexuelle Männer; ebensowenig lädt die Sexualmoral solche Männer ein, Priester zu werden; die Sexualmoral der Kirche hindert auch niemanden, sich mit homosexuellen Neigungen auseinanderzusetzen.

Die Kirche betont immer wieder, dass nicht die Neigungen selbst Sünde sind; von daher besteht auch keine sexual-moralischer Grund, diese zu verleugnen oder zu ignorieren. Daran wird er auch nicht dadurch gehindert, dass weder einem homosexuell empfindenden Priester, noch einem heterosexuellen Zölibatären sexuelle Handlungen erlaubt sind.

Manfred Lütz schrieb in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Februar 2010: «... Bevor sich Jan Carl Raspe in die RAF verabschiedete, pries er 1969 im „Kursbuch“ die Kommune 2, in der Erwachsene Kinder gegen deren Widerstand zu Koitierversuchen brachten. Bei den Grünen gab es 1985 einen Antrag auf Entkriminalisierung von Sex mit Kindern, und noch 1989 erschien im renommierten Deutschen Ärzteverlag ein Buch, das offen für die Erlaubnis von pädosexuellen Kontakten warb.
In diesen Zeiten wurde insbesondere die katholische Sexualmoral als repressives Hemmnis für die „Emanzipation der kindlichen Sexualität“ bekämpft. (...) Was immer man schließlich von der katholischen Sexualmoral halten mag, sie war jedenfalls auch in Zeiten der Verharmlosung von Pädophilie für jeden, der sich daran hielt, ein Bollwerk gegen Kindesmissbrauch. ...»
Peter Seewald («Hört auf! Denkt nach!») schreibt: «Wir sind entsetzt über Fehlentscheidungen, über falsches Verhalten. Aber das wird uns nicht daran hindern, genau hinzusehen, zu differenzieren, unseren Verstand zu benutzen... Über 220 Millionen Kinder werden nach Angaben von UNICEF weltweit jährlich zum Sex gezwungen. Das geschieht nicht im „Dunkelraum Kirche“. Der Kinderschänderring von Belgien, der vor Jahren Aufsehen erregte, bestand nicht aus Priestern und Ordensleuten, sondern aus Politikern und Managern. Täglich werden in Deutschland hundertausendfach pornografische Kinderbilder aus dem Internet heruntergeladen. Diese Täter leben nicht zölibatär. Und das Problem der Pornografisierung einer ganzen Gesellschaft, die Kinder bereits am Schulhof trifft und auch Erwachsene ins Grauen führt, ist keine Folge von kirchlicher Sexualmoral, sondern von deren Abhandenkommen.»

Kein pädophiler priesterlicher Verbrecher kann sich darauf berufen, er hätte die Tat nur deshalb begangen, weil die Kirche ihn mit dem zölibatären Leben eingeladen habe, trotz seiner unreifen sexuellen Identität Priester zu werden und aus ihm dann als Priester durch das Verbot sexueller Handlungen und der indirekten Unterdrückung seiner sexuellen Neigungen einen pädosexuellen Triebtäter gemacht habe. Zur Erinnerung: «In jedem Fall werden Menschen in ihrer Entwicklungsphase zu Pädosexuellen, und nicht erst, nachdem sie lange Zeit auf Sex verzichten mussten.»

II. Das Versagen der Priester, der Bischöfe und ihrer Behörden

Damit mich niemand missversteht: Mit diesen ersten Gedanken will ich keineswegs die Versäumnisse der Bischöfe leugnen oder relativieren; erst recht nicht Versuche, schuldig gewordene Priester zu schützen, Verbrechen zu vertuschen und manchmal sogar die Opfer zu diskriminieren. Noch weniger möchte ich mit den nun folgenden Gedanken, die die Mitschuld der Bischöfe an anderer Stelle wieder benennt, den Tätern ihre Schuld nehmen. Oder gar das Leid der Opfer kleinreden. Wo es eine Mitschuld gibt, muss diese auch erwähnt werden.

Es stellen sich nun zwei weitere Fragen: (1) Die Frage, wie es zu solchem Fehlverhalten der Priester kommen konnte, und (2) die Frage nach dem Versagen bezüglich der Schutzpflicht, die die Bischöfe den Gläubigen gegenüber haben.

Wie konnte es dazu kommen, dass bis in die jüngste Zeit und in die höchsten Ränge der Kirche eine Kultur des Wegsehens und Leugnens der bitteren Realität so um sich greifen konnte? Warum haben nicht nur einzelne Bischöfe sich so sehr versündigt – sondern so viele Bischöfe, in vielen Diözesen und vielen verschiedenen (zumeist westlichen) Ländern?

Die Antwort in der Sexualmoral der Kirche zu finden, ist vordergründig und gefährlich. Dasselbe gilt für die naheliegenden "üblichen Verdächtigen" wie zum Beispiel, die Gründe im Zölibat, dem Klerikalismus oder dem Versuch der Bischöfe und Kardinäle, den guten Rufe der Kirche zu wahren (und diesen über den Schutz der Kinder zu stellen) zu suchen.

Vordergründig und gefährlich: Selbstverständlich haben diese Faktoren einen Anteil an dem skandalösen Verhalten der Beteiligten; aber gerade weil diese Antworten so schnell zur Hand waren, sollten wir skeptisch sein. Existiert denn diese Sexualmoral und das Zölibat nicht schon seit Jahrhunderten? Und waren in früheren Zeiten Priester und Bischöfe nicht noch viel «klerikaler», angesehener und menschlich überhöhter? Und haben nicht in feudalen Zeiten die Fürstbischöfe noch viel mehr Wert auf den Nimbus ihrer Kirche gelegt? Wie sollen das dann Ursachen für die jetzige Situation der Kirche sein?

Vielleicht sind das nicht die eigentlichen Wurzeln des Skandals. Vielleicht sind das nur Ausreden auch von kirchlichen Würdenträgern, die die Schuld auf etwas schieben, das sie selbst nicht zu verantworten haben. Das wäre gefährlich: Denn wenn die wahren Gründe für das Wegschauen und Vertuschen nicht wahrgenommen und konsequent bekämpft werden, dann wird das Übel weiter um sich greifen.

1. Eine Kirche der Barmherzigkeit

Schon Papst Benedikt hat zu seiner Zeit auf die Frage, wie es zu einem solch großen Skandal in der Kirche kommen konnte, auf die falsch verstandenen Barmherzigkeit verwiesen. Und im oben erwähnten Zitat von Manfred Lütz verweist dieser ebenfalls darauf, dass der damalige Zeitgeist die Bischöfe, die konsequent die sündigen Priester bestraften und aus der Pastoral entfernten, als «als repressives Hemmnis für die „Emanzipation der kindlichen Sexualität“ bekämpft» hat.

Es galt noch bin in die 90er Jahre hin als «un-Jesuanisch» für einen modernen Christen, eine an Recht und Gerechtigkeit orientierte Moral zu haben. Nicht nur Bischöfe, auch Priester und Seelsorger, die mit Gesetzen und Geboten argumentierte, bekamen den Hinweis, dass «der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht». Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass ich mich in Ferienlagern, Fahrten und Freizeiten dafür rechtfertigen musste, wenn ich den sexuellen Schutz der Kinder einforderte. Die Antwort, ich sei doch «sehr verklemmt, konservativ und rückständig», nur weil ich auf Missstände im sexuellen Umfeld der Kinderarbeit hinwies, musste nicht nur ich mir anhören. Anderen Priestern ist es ebenso ergangen.

Hinzu kam, dass nicht nur die Moral lasch gehandhabt oder gar abgelehnt wurde, sondern dass der Kirche jede Berechtigung, diese auch rechtlich zu verfolgen, abgesprochen wurde. Die Kirche sei zur Barmherzigkeit verpflichtet! Die Gerechtigkeit und deren Durchsetzung jedoch sei das genaue Gegenteil dessen, was Jesus gepredigt und gelebt habe.

In einer Pfarrexamensarbeit schreibt ein Priester: «Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist Gott vielerorts als der gerechte, strenge und strafende Gott verkündet worden. Im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils hielt man das jedoch für verfehlt und wollte Gottes Liebe, Güte und Barmherzigkeit wieder mehr herausstellen.
Argumentiert wurde teilweise, dass im Alten Testament Gott in Strenge gehandelt hätte, seit der Zeit des Neuen Testamentes diese aber durch die Barmherzigkeit ersetzt worden wäre und die Menschheit bis jetzt gebraucht hätte, um den Wechsel mitzuvollziehen.
Dieses Denken hat in den letzten Jahrzehnten auch die Arbeit in den Gemeinden stark geprägt, da die Pastoral naturgemäß mit dem Gottesbild korreliert. „Liebe“ wurde dabei nicht selten so verstanden, dass man mit allem und jedem nachsichtig und nachgiebig sein müsse.» (Robin Baier, Bistum Limburg, «Zeit versus Inhalt», Pfarrexamsarbeit 2018, S. 18)
...das Gegenteil von Gerechtigkeit

In der Kirche der letzten Jahrzehnte, so schreibt Baier weiter, «hat zwar die Liebe einen Schwerpunkt gebildet, aber nicht mehr auch ihr Komplementär, nämlich die Wahrheit. (...) Eine Wahrheit ohne Liebe wird hart, eine Liebe ohne Wahrheit wiederum verkommt zur Scheinheiligkeit. Die Ausrichtung der letzten Jahrzehnte ging leider auf Kosten der Wahrheit, denn in der kirchlichen Verkündigung (von Priestern und Bischöfen) wurde die Notwendigkeit der Bekehrung ausgeblendet.»

Ein Grund für diese verhängnisvolle Einstellung war sicherlich, dass «das Zusammenspiel von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nicht mehr verstanden wurde (und auch heute häufig nicht mehr beachtet wird). Es ist natürlich nicht richtig, die Gerechtigkeit nur dem Alten Testament und die Barmherzigkeit nur dem Neuen Testament zuzuordnen.» (Robin Baier, s.o., S. 19)

Weiter schreibt Baier: «Wenn Gottes Barmherzigkeit am Ende alle Unterschiede zwischen Guten und Schlechten ausgleichen würde, dann wäre es egal, wie sich der Mensch verhält. Wenn aber am Ende alles, was wir tun, gleichgültig wäre, dann würde das unsere Beziehung mit Gott konterkarieren. (...) Gottes Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich!» (Baier, s. o., S. 19)
«Wann und gegenüber wem Gott barmherzig ist, wird in der Heiligen Schrift immer wieder klar zum Ausdruck gebracht, gerade auch im Gleichnis vom Barmherzigen Vater:

Die Erzählung beginnt damit, wie sich der Sohn vom Vater entfernt. In der Folge wird in eindrücklichen Bildern beschrieben, welches Elend der verlorene Sohn durchlebt. Und was tut der Vater? Der Vater kann dem Sohn in dieser Situation seine Barmherzigkeit nicht schenken – nicht weil er unbarmherzig wäre, sondern weil sich der Sohn vom Vater abgewandt hat. Erst als der Sohn umkehrt, kann er die Barmherzigkeit des Vaters erfahren. Das macht deutlich: Ohne Reue und Bekehrung kann Gottes Barmherzigkeit niemanden erreichen. Sonst würde Gott die Freiheit des Menschen übergehen, und das tut er niemals.
Auch in dem Gleichnis von dem Pharisäer und dem Zöllner, die im Tempel beten (vgl. Lk 18,10-14), kommt eben dies zum Ausdruck: Beide sind Sünder, aber nur einer erfährt Gottes Erbarmen: der, der einsieht und bekennt, dass er Sünder ist.

Zusammengefasst heißt das also: Gott ist barmherzig gegenüber den Schwachen und Reumütigen, nicht aber gegenüber den Bösen und Selbstgerechten. Diejenigen, die das Gute wollten, es aber nicht geschafft haben, oder diejenigen, denen ihr böses Verhalten leid tut, erfahren seine Barmherzigkeit. Diejenigen aber, die das Böse wollen oder die sich selbst genügen, erfahren seine Barmherzigkeit nicht. Gott schenkt seine Barmherzigkeit nicht pauschal und auch nicht willkürlich, sondern gerecht.» (Baier, s. o.)

Das Gegenteil von Gerechtigkeit ist nicht Barmherzigkeit, sondern Ungerechtigkeit. Wer neben der Liebe die Wahrheit und neben der Barmherzigkeit die Gerechtigkeit vernachlässigt, öffnet dem Unrecht Tür und Tor.

Genau das ist in der katholischen Kirche über Jahrzehnte geschehen.

Freilich müssen wir uns klar machen, dass der Ausweg aus der Krise der permanenten Ungerechtigkeit kein leichter ist. Denn eine Kirche, die nun wieder Recht und Ordnung in ihrem Denken einen angemessenen Platz einräumt, wird dadurch nicht populärer. Ganz im Gegenteil.

Im Grunde hat die Kirche in der Popularitätsfrage so oder so verloren. Betont sie wieder Moral, Wahrheit und Gerechtigkeit, wird ihr mangelnde Liebe, zuwenig Toleranz und ein Fehlen von Barmherzigkeit vorgeworfen. Zurück zu einer selbstverschuldeten Blindheit gegenüber den Verbrechen in den eigenen Reihen will aber auch niemand (gottseidank!).

Das beste ist, die Kirche verabschiedet sich von dem Gedanken, populär sein zu wollen. Dadurch würde sie Christus wieder um einiges ähnlicher werden.

2. Homosexualität, Pädophilie und Ephebophilie

Bislang habe ich immer von pädophilen Priestern gesprochen und deren Taten als in-sich-schlechte Taten bezeichnet; darin dürfte mir wohl keiner widersprechen.

Allerdings ist der Befund der Missbrauchsstudien (auch derer aus Amerika, Australien, Irland, Chile und anderen Ländern) in einer entscheidenden Hinsicht zu differenzieren: Viele der sexuellen Übergriffe durch Priester geschahen nicht gegenüber Kindern, sondern männlichen Jugendlichen.

Übergriffe bleiben natürlich Übergriffe und sind zu verurteilen. Dennoch tut sich mit dieser Unterscheidung hier eine andere Sicht auf; Fachleute sprechen deshalb auch nicht mehr von «Pädophilie», sondern von «Ephebophilie». Beim Kindesmissbrauch geht es den Tätern im Grunde nicht um ein sexuelles Abenteuer, sondern um Machtausübung zur eigenen Befriedigung. Bei der Ephebophilie sieht das anders aus: Da steht für den Täter tatsächlich eine Lustbefriedigung durch Jugendliche im Mittelpunkt, die für die Täter einen ganz besonderen sexuellen Reiz besitzen.

Nur wer diesen Unterschied berücksichtigt, wird auch den unterschiedlichen Ursachen gerecht. Da zum Beispiel bei der Pädophilie keine sexuellen Präferenzen eine Rolle spielen (wie gesagt, es geht um Macht, Herrschaft und Dominanz), ist diese psychische Störung auch nicht signifikant mit Homo- oder Heterosexualität in Verbindung zu bringen. Deshalb ist der oft wiederholte Satz zumindest naheliegend:

Homosexualität führt ebensowenig zur Pädophilie wie Zölibat

Die Analyse der Missbrauchsstudien ergeben jedoch ein ganz anderes Bild, wenn wir nicht die eigentliche Pädophilie betrachten (also den Missbrauch von Kindern vor deren Eintritt in die Pubertät), sondern die Ephebophilie. Denn hier spielt der sexuelle Reiz durchaus eine Rolle. Kardinal Müller erklärte in einem Interview dazu: «Die große Mehrheit der Missbrauchsopfer von Klerikern sind nicht Kinder, sondern Jugendliche oder junge Erwachsene. (...) 80 Prozent und mehr der Opfer sind männlich, der größte Teil von 14 Jahren aufwärts. Das sind homosexuelle Angriffe, nicht pädophile. Das sind keine Kinder, sondern Jugendliche und noch älter.» – Zugegeben: Manche werden auf andere Studien verweisen oder dieser Interpretation widersprechen. Sicherlich wird man dann auch dem Widerspruch wieder begegnen. Dann wären wir in einer notwendigen Diskussion! Leider wird entweder gar nicht diskutiert – oder vorschnell unbequeme Positionen werden als diskriminierend und politisch nicht korrekt ins Abseits verbannt.

Ich möchte aber in diese Diskussion an dieser Stelle nicht selbst eintreten, sondern nur darauf hinweisen, dass in den Studien und deren Auswertungen Angaben zum Geschlecht der Opfer im Verhältnis zu deren Alter untersucht werden müssen. Es ist wichtig, dass diese Frage gestellt und diskutiert werden muss:

Ist die Ephebophilie ein blinder Fleck der Gesellschaft und der Kirche?

In diesem Zusammenhang muss allerdings die Kirche auch noch eine andere unangenehme Wahrheit hochhalten. Denn die Kirche erkennt in der Homosexualität eine schlimme Abirrung der menschlichen Sexualität (so im Katechismus der Katholischen Kirche). Das will natürlich keiner heutzutage hören - und deshalb will es wohl auch keiner heutzutage sagen. Und doch gehört es zur Lehre der Kirche:

Im Katechismus der katholischen Kirche (2016) heißt es (Artikel 2357): «Gestützt auf die Heilige Schrift, die sie als schlimme Abirrung bezeichnet, hat die kirchliche Überlieferung stets erklärt, dass „die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind“ (CDF, Erkl. „humana“ 8). Sie verstoßen gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen.»

Zugleich sollten wir nicht die abschließenden Aussagen des Katechismus vergessen:

Der KKK betont, dass die psychische Entstehung der Homosexualität noch weitgehend ungeklärt ist (2357) und Menschen mit dieser Neigung, die objektiv ungeordnet sei, mit Achtung, Mitgefühl und Takt begegnen (KKK 2358) und sich davor hüten solle, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen.

Lässt sich eine ungeordnete Neigung schlechter beherrschen?

Falls diese Sicht der Homosexualität korrekt sein sollte (viele Veröffentlichungen bestreiten dies), muss auch die Frage gestellt werden dürfen, ob die Homosexualität, wenn sie eine «objektiv ungeordnete Neigung» (KKK, 2358) der menschlichen Sexualität ist, also eine sexuelle «Unreife», deshalb nicht vielleicht auch schwerer zu kontrollieren ist.

Kann es sein, dass (nicht bei der Pädophilie, aber sehr wohl) bei der Ephebophilie ein klarer Zusammenhang zwischen der sexuellen Ausrichtung der Täter und der Häufigkeit der Übergriffe besteht? Und kann es sein, dass die Homosexualität, falls sie tatsächlich eine unreife Sexualität ist, deshalb einen größere und gewichtigere Neigung zu Übergriffen in sich birgt?

Allein diese Fragen zu stellen, kann sich heutzutage kein Bischof erlauben. Daher wundert es nicht, wenn eindeutige Belege für diese Verbindung in kirchlichen Verlautbarungen gar nicht erst diskutiert werden. «Es kann nicht sein, was nicht sein darf.»

Ist es tatsächlich eine gleich große Herausforderung, für einen Homosexuellen genauso wie für einen Heterosexuellen, als Priester den Zölibat zu leben und dabei auf jede sexuelle Tätigkeit zu verzichten? Also keinen Sexualpartner zu haben, auch keinen erwachsenen?

Nach den Missbrauchsfällen in den USA haben daher Papst Benedikt 2005 wie auch nun Papst Franziskus 2016 bestimmt, dass vom Priesteramt auszuschließen sind praktizierende Homosexuelle sowie Männer, die «tiefsitzende homosexuelle Tendenzen haben oder eine sogenannte homosexuelle Kultur unterstützen».
Dabei sind die Päpste vorsichtig, wie der «Osservatore Romano» erläutert: Die Nichtzulassung von praktizierenden Homosexuellen und Unterstützern der Homosexuellen-Bewegung vom Priesteramt bedürfe keiner weiteren Erläuterung. Interpretationsbedürftig sei jedoch, was unter «tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen» zu verstehen sei.
Gemeint sei hiermit, dass die homosexuelle Veranlagung zentral für Identität und Verhalten eines Mannes sei. Dies sei der Fall, wenn ein Mann sich und seine Außenwelt nur aus dem Blickwinkel seiner Homosexualität wahrnehme. Gleiches gelte, wenn die Beziehungsfähigkeit gestört sei, ein reifes Verhalten gegenüber Frauen unmöglich und das Verhältnis zu Männern stets erotisch aufgeladen sei. Nicht von dem Ausschluss betroffen seien Männer, in deren Leben Homosexualität nur ein vorübergehendes Phänomen in der Phase des Erwachsenwerdens gewesen sei.

In früheren Zeiten war es Aufgabe der Kirche, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und der Gesellschaft vorzuhalten, wo diese blind für Gefahren geworden ist. Der dazu erforderlichen Autorität entledigt sich die Kirche (zumindest in Deutschland), wenn sie zu wenig Mut zur Unpopularität zeigt oder gar die moderne Gesellschaft in moralischen Fragen zu einer Offenbarungsquelle hochstilisiert. In der Geschichte der Kirche waren es schon häufiger die Laien, die die nötigen Korrekturen öffentlich eingefordert haben – oder einfach mutig vorangegangen sind.