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Die Errungenschaften des Christentums

Wir leben in einer aufgeklärten Gesellschaft, deren Vorzüge wir alle genießen. Demokratie, Frieden, Freiheit des Glaubens, Sicherheit, Kultur, Bildung - nichts davon ist eine menschliche Selbstverständlichkeit, wenn wir auf frühere Kulturen schauen - oder auf nicht-westliche Kulturen unserer Zeit.
Da diese Vorzüge so sehr auf der Hand liegen, verwundert es nicht, dass Viele diese Erfolge für sich reklamieren: Von politischen Richtungen, Vertretern der Wissenschaften bis hin zu verschiedenen Religionen oder deren anti-religiösen Entsprechungen. Der Kampf um die Urheberschaft ist dabei hart: Während die einen sich als Urheber der modernen Gesellschaft bezeichnen, werden sie von anderer Seite bezichtigt, genau diese Werte zu gefährden.
So ist es unpopulär oder gar gefährlich, den Kern unserer westlichen Gesellschaft als «christlich» zu bezeichnen. «Hat denn das Christentum diese Werte in langen Zeiträumen der Geschichte nicht mit Füßen getreten?» - «Sind das nicht alles Werte, die sich Reformation und Aufklärung in Abgrenzung zu Kirche und Dogma erkämpfen mussten?» - «Ist das Christentum und die katholische Kirche nicht immer noch ein Hindernis für das vollkommene Glück, das in der vollkommenen Freiheit der Personen liegt?»
Und überhaupt: Was ist das eigentlich: Das Christliche?


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Dieser Diskussionsbeitrag ist auch als gedrucktes Heft (Nr. 148) erhältlich: Kostenlose Bestellung

Das Präventions-Paradox

Während der Corona-Pandemie machte der Begriff «Präventions-Paradox» die Runde durch die Medien. Dort war die Rede von Maßnahmen zur Verhinderung von schweren Folgen der Pandemie, die deshalb in Frage gestellt wurden, weil sie (angeblich) erfolgreich waren: Weil die zu verhindernde Katastrophe ausbleibt, regen sich Stimmen, die darauf verweisen, dass doch alles gar nicht so schlimm gewesen sei. Warum hat man sich also den harten Einschränkungen unterworfen?

Eine Version des «Präventions-Paradox» der besonderen Art ist mir einmal erzählt worden, wobei ich nicht herausfinden konnte, ob es sich um einen Witz oder eine tatsächliche Begebenheit handelte: Angeblich brachen zwei Wanderer zu einer Bergtour auf, ein Einheimischer und ein Tourist war. An einer Stelle des Weges öffnete sich ein wunderbarer Blick auf die unten liegende Landschaft - aber auch nur deshalb, weil der Weg kurz vor dem Abgrund eine harte Rechtskurve machte. Der Tourist bewunderte zwar die Aussicht, wies aber auf die Gefahr hin, dass man hier leicht herabstürzen könnte. Ob es nicht sinnvoll sei, hier ein Schild aufzustellen, das vor der Gefahr warnte? Der Einheimische antwortete: «Ja, das haben wir auch eine Zeit lang gedacht. Über dreißig Jahre hat hier ein Schild gestanden, aber da nie jemand abgestürzt ist, haben wir es wieder entfernt. Schließlich hat es nur die schöne Aussicht verschandelt.»

Mir scheint, wir sind an einer ähnlichen Stelle unseres kulturellen Wegs angelangt. Das, was diese wunderbare Gesellschaft hervorgebracht hat - durch ihren christlichen Glauben - wird zwar dankbar geehrt, aber deren Grund, das christliche Gottes- und Menschenbild, wird eher als lästig empfunden. Manchmal sogar als eine Gefahr für die daraus entsprungenen Werte.

Eines schönen Morgens glitt vom hohen Baum am festen Faden die Spinne herab. Unten im Gebüsch baute sie ihr Netz, dass sie im Laufe des Tages immer großartiger entwickelte und mit dem sie reiche Beute fing. Als es Abend geworden war, lief sie ihr Netz noch einmal ab, um es auszubessern. Da entdeckte sie einen Faden, der ihr schönes Netz störte, weil er nicht in das Muster hineinpasste. Außerdem schien er vollkommen sinnlos zu sein - keine einzige Fliege hatte sich daran gefangen. Da sie schlecht gelaunt war und auch nicht mehr wusste, wozu er diente, biss sie ihn kurzerhand ab. Sofort fiel das Netz mit ihr in die Tiefe, wickelte sich um sie wie ein nasser Lappen und erstickte sie; denn es war der Faden, an dem sie herabgestiegen war und der das Netz über dem Boden hielt.
Der letzte Schritt: Die Überwindung des christlichen Dogmas

Es gibt nicht wenige Menschen, die im Namen der Freiheit die Überwindung der christlichen Prägung unserer Gesellschaft fordern. In ihren Augen stellt sich die Entwicklung der westlichen Welt als eine fortschreitende Überwindung der religiösen Enge dar. Ausgehend von Luther, der das katholische Dogma abschaffte, über die französische Revolution, die Aufklärung und die sich daran anschließende Philosophie ist die Freiheitsgeschichte der westlichen Welt nichts anderes als eine Überwindung von Religion, Glauben und Moral.

Ludwig Feuerbach hat z. B. um der Nächstenliebe willen gefordert, den Menschen nicht mehr nur deshalb zu lieben, weil Gott es befiehlt, sondern ganz ohne Gott: Einfach um des Menschen willen. Er versprach sich dadurch eine bessere Welt.
Dass die Welt trotz abnehmender Religiösität nicht spürbar besser geworden ist (wobei sich die Ansicht hier auch unterscheiden), erklären die Vertreter des kämpferischen Neo-Atheismus durch die immer noch verbleibenden religiösen Strukturen in den Köpfen der Menschen und der Gesellschaft.

So ist das Werk der endgültigen Verbesserung der Welt durch Überwindung der letzten religiösen Überbleibsel noch nicht vollendet. Die Vertreter des atheistischen Humanismus verweisen auf die letzten Bastionen der Unfreiheit, die sie vornehmlich in der kirchlichen Sexualmoral, dem Lebensrecht für Ungeborene, der Ablehnung von (assistiertem) Suizid und der rückständigen Ehemoral ausmachen.

Ungeliebte Wahrheit: Die westliche Welt ist christlich

Natürlich bin ich den Erweis schuldig, dass die Vorzüge der heutigen Gesellschaft tatsächlich Errungenschaften der christlichen Religion sind. Wir schauen allzu gerne auf die Schattenseiten der Kirchengeschichte, ohne deren Zusammenhänge wahrzunehmen.

  • Das Leben im römischen Reich war keineswegs besonders moralisch - schon gar nicht im heutigen Sinn. Personenrechte hatten nur die römischen Bürger - und sie konnten ihnen zu- und aberkannt werden. Rechtsprechung war vom gesellschaftlichen Status abhängig, Gewalt an der Tagesordnung - nicht nur als kriminelle Handlungen, sondern als legales Verhalten der Patriarchen, Machthaber oder Amtsträger. Erst die Christianisierung des römischen Reiches führte fundamentale Werte (Person, Würde, Toleranz, Freiheit) in die antike Welt ein.

  • Das Mittelalter war keineswegs die Zeit der Verdunklung des Christentums, sondern die Geschichte seiner Ausbreitung in die Naturreligionen und Naturvölker der Germanen, Merowinger, Sachsen und Franken. Die christliche Durchdringung dieser gewalttägigen Gesellschaften verlangte dem Christentum so einiges ab; Misserfolge blieben nicht aus. Diese sind aber keine Folgen der neu verkündeten christlichen Lehre, sondern zeigten sich immer dort, wo das Christentum nicht (oder nicht genügend) verkündet wurde; sich nicht auf die Gesellschaft auswirken konnte - oder daran gehindert wurde.

  • Auch die Neuzeit offenbart, wie eine Schwächung des christlichen Glaubens zu einem Anstieg der Gewalt führte. Die schrecklichen Wellen der Hexenverfolgungen, die sich durch Europa wälzten, waren kein Phänomen des Mittelalters (dort stand der Glaube an Hexen unter kirchlichem Verbot), sondern der frühen Neuzeit. Und überall dort, wo der katholische Glaube fest verwurzelt war (so zum Beispiel in Italien und dem Vatikan, aber auch in Spanien und Portugal), konnte der Hexenwahn schnell eingedämmt werden. Ganz anders in den Gegenden Europas, in denen sich religiöse Überzeugungen durch Krieg, Pest und Hunger in Auflösung befanden.

Dennoch will ich es anderen überlassen, die christlichen Wurzeln unserer modernen westlichen Welt herauszuarbeiten und aufzuzeigen. Besonders möchte ich hier auf Tom Holland verweisen («Herrschaft - Die Entstehung des Westens», im englischen lautet der Titel: «Dominion - How the Christian Revolution Remade the World» oder «The Making of the Western Mind»), der vor allem deshalb unverdächtig ist, weil er sich ausdrücklich als Atheist bekennt. Obwohl Tom Holland viele der besten ethischen und politischen Instinkte in Christus wurzeln sieht, lehnt er persönlich das Christentum ab.
Aufschlussreich ist auch das entsprechende Kapitel im Bestseller «12 Rules for Life» von Jordan B. Peterson, der zwar auch weitere, vor allem aktuelle Hinweise auf den immer noch hohen christlichen Ethos der westlichen Welt findet, aber die zunehmende Distanzierung der intellektuellen Eliten ebenso kritisch wie psychologisch naheliegend beschreibt. Es käme in allen Kulturen die Phase, wo die eigenen Grundlagen nicht nur in Frage gestellt werden, sondern als Grund für die ausbleibende Perfektionen identifiziert wird. («12 Rules for Life», Kapitel 7, «Das Christentum und seine Probleme», S. 288-295)
Die folgende Aufzählung steht also hier ohne ausführliche Begründung dar, lässt sich aber leicht verifizieren.

Der Personenbegriff

Fakt ist, dass erst durch das Christentum der philosophische Personenbegriff geschärft wurde (durch die Offenbarung der Dreifaltigkeit und die Menschwerdung Jesu) - bzw. der juristische Personenbegriff überhaupt erst eingeführt wurde (durch die Verheißung der Unsterblichkeit und dem Glauben an die persönliche unsterbliche Seele).

Die unverletzbare Würde

Die unverletzbare Würde eines jeden Menschen ist ein religiöses Konzept, das durch keine Naturwissenschaft begründet - und in seiner absoluten Geltung keine kulturelle Entwicklung sein kann. Die unantastbare Würde eines jeden Menschen, ganz unabhängig von jeder Leistung, sozialem Stand oder körperlicher Ausstattung lässt sich allein auf den christlichen Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen zurückführen - und hat nur dort seinen Grund.

Das Naturrecht und die Menschenrechte

Dass alle Gesetzgebung und jede Staatspolitik an einen Maßstab gebunden ist, den kein Machthaber und keine Regierung ändern kann, ist die Grundlage der Verkündigung der Menschenrechte. Diese wurden entdeckt und verkündet - nicht erlassen. Sie ergeben sich auf der Schöpfungsordnung. Ohne einen Gottesbezug sind sie nicht denkbar.

Die Religionsfreiheit

Jede Religion neigt dazu, sich mit staatlichen Institutionen zu verbinden. Das sichert den Staat und festigt die Religion. Das katholische Christentum hat sich aber in allen Phasen der Geschichte gegen eine staatliche Vereinnahme gewehrt - zum Teil bis aufs Blut der eigenen Märtyrer (wobei es gleichzeitig auch unrühmliche Ausnahmen gab). Auch wenn Orthodoxie und Protestantismus einen anderen Weg gewählt haben: Die christliche Religion ist eine Frage der persönlichen Beziehung zu Gott und Jesus. Eine Herzensangelegenheit. Staatliche verordnete religiöse Bekenntnisse sind ein Widerspruch in sich. (Auch, wenn manche Staaten das anders sehen).

Gleichwertigkeit von Mann und Frau

Auch, wenn das heute verbreitete Bild von Religion (vor allem auch von der katholischen Kirche) das Gegenteil behauptet: In keiner anderen Religion und keiner anderen Kultur hat sich die Überzeugung der fundamentalen Gleichwertigkeit von Mann und Frau so sehr ausgeprägt wie in der christlichen Gesellschaft. Nicht nur ein Blick in die Lebenswelt der jüngsten monotheistischen Religion - dem Islam -, sondern auch ein Blick in die vorchristlichen Kulturen der Naturvölker lässt erkennen, wie sehr dieses Ideal verwirklicht wurde.

Dass das noch nicht zu allen Zeiten in der Kirchengeschichte der Fall war, ist nicht in erster Linie ein Versagen der Kirche - sondern ein Widerstreben der vorchristlichen Kulturen, in die hinein der christliche Glaube gewirkt hat. Oder eine Folge der nachlassenden christlichen Verkündigung in einer zunehmend entchristlichten Gesellschaft.

Alle diese Grundpfeiler unserer Gesellschaft beginnen zu wanken, wenn das christliche Fundament aufgelöst wird. Natürlich wollen und können auch nach-christliche Generationen an der Würde des Menschen festhalten. Aber wie sollte ihnen das gelingen, wenn es keine übernatürliche Begründung z. B. für die Unverletzlichkeit der Würde der menschlichen Person mehr gibt?
Alle oben genannten Merkmale unserer modernen Gesellschaft, die erst durch die Christianisierung der westlichen Welt verwirklicht wurden, könnten ohne christliche Verankerung verloren gehen. Manches Auflösungserscheinungen beginnen sich schon jetzt abzuzeichnen.

So ist das unverlierbare Recht auf Leben einer jeden Person bereits abgeschafft, wenn Abtreibung, Euthanasie, assistierter Suizid und verbrauchende Embryonenforschung nicht nur erlaubt, sondern zum Menschenrecht erklärt werden. Wenn sich sogar amnesty international für das Recht auf Abtreibung einsetzt - wer schützt dann noch die Schwächsten in den Gesellschaften?
«Um gut zu sein, brauchen wir keine Religion»

Das größte Problem ist die Gewöhnung an das Gute. Wir denken, dass «gut zu handeln» für den Menschen das Normale ist und keiner weiteren Begründung (und Motivation) bedarf. Wir sehen dagegen mit Abscheu und Unverständnis auf das Böse in der Welt und fragen uns, was passiert sein muss, dass jemand so grausam und widersinnig handelt. Dabei ist es nicht das Böse, das einer Erklärung bedarf: Wer Schlechtes tut, glaubt immer, dafür gute Gründe zu haben. Hannah Arendt (und Jordan B. Peterson) hat das die «Banalität des Bösen» genannt.
Nein, nicht für diejenigen, die Böses tun, brauchen wir eine Rechtfertigung. Sondern die Aufforderung, gut und selbstlos zu handeln, ist uns eine Begründung schuldig. «Why to be moral?» ist die Schlüsselfrage - und sie lässt sich, entgegen aller Hoffnung der Neo-Atheisten und Humanisten, nicht ohne Religion beantworten. Vor allem dann, wenn gut zu handeln persönlich keine Vorteile bringt.

Die Verzweckung der Religion

So mancher Politiker fordert deshalb die Beibehaltung des christlichen Fundamentes aus politischen Gründen: Wir brauchen die Religion, um die gesellschaftlichen Werte nicht nur zu begründen, sondern auch einzuhalten.

So argumentiert zum Beispiel Gregor Gysi, der offen bekennt, nicht an Gott zu glauben, aber die Kirchen für staatstragend hält und deshalb fördern möchte.

Allerdings stoßen die Politiker und Staatsphilosophen mit ihrer zweckdienlichen Beibehaltung der Religion aus gesellschaftlichen Gründen überraschenderweise auf den Widerstand der Christen selbst, die um der Religionsfreiheit willen jede politische Instrumentalisierung der Religion ablehnen.
Wir können das christliche Fundament unserer Gesellschaft (und damit die Existenz unserer Gesellschaft) nicht retten, indem wir die Verkündigung unseres Glaubens auf die Moral reduzieren, den Zeigefinger erheben und fordern: «Seid doch bitte recht freundlich zueinander!» und «Haltet Euch an die Gebote!». Wir können das Gebot auch nicht durch die Drohung verstärken, sonst in der Hölle zu landen.
Die christliche Botschaft war nicht deshalb so erfolgreich, weil sie zu moralischem Verhalten aufgefordert hat - das tun letztlich alle Religionen, Staaten und Gemeinschaft in ihrer jeweiligen Diktion. Und drohen mit den ihnen möglichen Repressalien. Nein, der Kern der christlichen Religion ist ein anderer.

Die Moral ist nicht der Kern der christlichen Religion

Wir sind uns also einig, dass es nicht reicht, an christliche Werte zu glauben - sie müssen auch gelebt werden. Das fällt allen schwer, auch den Christen, vor allem dann, wenn die Einhaltung der Gebote persönliche Nachteile bedeutet. Um christliche zu leben reicht kein Gebot des Papstes, noch nicht einmal ein göttliches Gebot.
Natürlich, es gibt dieses Gebot schon: «Liebe Gott mit ganzem Herzen und all deiner Kraft - und den Nächsten wie dich selbst!». Und tatsächlich bildet dieses Doppelgebot der Liebe den Kern des ganzen Gesetzes und der ganzen Moral. Aber: Die Moral ist eben nicht der Kern unseres Glaubens.

Auch andere Religionen, Kulturen und Pseudo-Religionen fordern zur Liebe auf, wobei solche Gebote oft große Löcher aufweisen. So gilt das Gebot der Liebe manchmal nur für die eigenen Mitglieder, manchmal nur zur Unterstützung der Mission. Bei den Nazis waren anfangs nur die Juden vom Gebot der uneingeschränkten Volkssolidarität ausgenommen - und am Ende ordnete sich das «Liebesgebot» dem Gebot der Feindesvernichtung unter. Und der Vernichtung aller anderen, die dem Feind geholfen haben, ihm nahestanden oder nicht genug gegen ihn unternommen haben. Schließlich gab es das Gebot nicht mehr.
Das gilt für alle Gebote, die eine Ausnahmeklausel beinhalten: «Seid tolerant! Nur nicht gegenüber den Intoleranten!» - Sie lösen sich mit der Zeit auf.

Dabei hat die christliche Moral sogar noch ein Plusultra: die Feindesliebe. «Liebt auch diejenigen, die sich euch gegenüber nicht korrekt verhalten haben! Liebt auch diejenigen, die sich nicht an die Gebote halten! Liebt auch die Intoleranten, verzeiht denen, die an euch schuldig geworden sind! Verzichtet auf Rechthaberei und Rache! Segnet die, die euch hassen! Tut denen Gutes, die euch verraten!»
Mag sein, dass es keine andere Religion gibt, die einen solchen hochstehenden Ethos verkündet, wie es die Feindesliebe verlangt. Aber auch dann wären es nur Gebote, die den Menschen noch mehr überfordern und die Frage provozieren: «Warum, bitteschön, sollte ich so etwas tun?» Nein, eine noch so hochstehende Moral ist eben nur ein Anspruch. Ein Gebot. Aber keine Wirklichkeit.

Der Kern des Christlichen

Mit Verwunderung standen schon die antiken Kulturen den Christen gegenüber und deren unbedingte Bereitschaft, sogar ihren Verfolgern und Peinigern zu verzeihen. Woher nahmen sie ihre Kraft? Warum verfluchten sie nicht diejenigen, die sie zum Tode verurteilten? Oder, persönlich formuliert: Warum soll ich lieben? Warum verzeihen? Warum ertragen?

In dieser großen moralischen Kraft liegt vermutlich auch der überwältigende Missionserfolg der frühen Christenheit verborgen. Die Bewunderung der heroischen Haltung der Christen angesichts ihrer Hinrichtung in den Arenen der Machthaber hätte sich niemals in einen Missionserfolg verwandelt, wenn sie mit einer Verachtung den Verfolgern einhergegangen wäre. - Aber die, die gestern noch die Christen verfolgt haben, waren am nächsten Tag bei den Angehörigen der Hingerichteten willkommen und zur Bekehrung eingeladen. Und das, obwohl sie sie verantwortlich waren für den Tod von Schwestern, Brüdern, Eltern oder Kinder der verbliebenen Christen. Das war eine Art von Verkündigung, die überzeugte!

Woher nahmen die Christen die Kraft, auch denen zu verzeihen, die sie gerade noch verraten und verkauft hatten? Nun, die Antwort liegt natürlich in ihrem Gottesbild: Weil Gott sich genauso auch ihnen gegenüber verhalten hat. Gott hat das Leben seines Sohnes nicht geschont, um die Sünder mit sich zu versöhnen. Er hat sterbend am Kreuz denen verziehen, die ihn dort angenagelt haben. Er ist gestorben für die Verräter, die Spötter und Gleichgültigen. - Das, und nichts anderes, ist die christliche Botschaft, der Kern der Verkündigung der ersten Christen (lies dazu einfach mal die erste Predigt, die Petrus am Pfingsttag gehalten hat: Apg 1, 14-36).
Weil auch uns Christen verziehen worden ist, sollen und können wir ebenso verzeihen! Das ist der Kern des Christlichen, die Grundlage für das Verhalten der Christen, das unsere Gesellschaft geprägt hat (Mt 18, 23-33). Und nur durch die gelebte Verkündigung können wir unsere Gesellschaft so erhalten, dass es sich lohnt, in ihr zu leben.
Die hochstehende christliche Moral mit dem Doppelgebot der Liebe und dem Aufruf zur Feindesliebe wäre nicht lebbar - und wäre untergegangen, bevor sie auch nur das Leben einer einzigen christlichen Gemeinde geprägt hätte -, wenn sie sich nicht aus der Erfahrung ergeben würde, dass Gott genau dies bereits für uns getan hat. Nur deshalb können wir die Personenwürde des Menschen absolut achten, weil Gott es getan hat. Nur deshalb ist die Freiheit des Menschen für uns unantastbar, weil Gott lieber ans Kreuz geht als sie anzurühren. Nur deshalb sind Mann und Frau absolut gleicher Würde, weil Gott selbst in seiner Hingabe keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht.
Schade, dass wir genau diesen Kern - den Sühnetod Jesu - vielerorts aus unserer Verkündigung gestrichen haben.