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Das Schiff des Theseus - oder: Was ist Identität?

Die Katechesen der Karl-Leisner-Jugend sind keine philosophischen Abhandlungen. Aber echtes Nachdenken kommt nicht ohne Philosophie aus. Und manchmal sind ganz alte philosophische Probleme (wie hier die Frage nach dem Schiff des Theseus) geeignet, unseren christlichen Glauben in einem anderen Licht erstrahlen zu lassen.
Neugierig? Na, dann mal los.


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Dieser Diskussionsbeitrag ist auch als gedrucktes Heft (Nr. 152) erhältlich: Kostenlose Bestellung

Das Schiff-des-Theseus-Problem

Die Frage, worin die Identität eines Gegenstandes begründet ist, wurde schon in der Antike gestellt und anhand eines fiktiven Beispiels erläutert. Darin spielt ein Schiff eine große Rolle - und dieses Schiff gehört Theseus.

Bei Plutarch heißt es: «Das Schiff, auf dem Theseus mit den Jünglingen losgesegelt und auch sicher zurückgekehrt ist, eine Galeere mit 30 Rudern, wurde von den Athenern bis zur Zeit des Demetrios Phaleros aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und ersetzten sie durch neue intakte. Das Schiff wurde daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.»

Die Frage, ob das Schiff des Theseus nach dem Austausch der Planken immer noch als «Schiff des Theseus» gelten darf, ist ein bis heute immer noch diskutiertes philosophisches Problem. Wodurch erhält ein Ding - in diesem Fall das Schiff - seine Identität? Noch drängender wird die Frage, wenn wir sie auf den Menschen anwenden: Was macht eine Person aus? Die Bestandteile? Der Bauplan?
Wenn ein Mensch im Laufe seines Lebens über seine materielle Zusammensetzung hinaus auch noch Eigenschaften, Charakter und Persönlichkeit verändert: Wodurch ist er über die Zeiten hinweg mit sich selbst identisch? Hat er überhaupt eine überzeitliche Identität? Oder ist das nur eine Illusion?
Mit diesem Problem verwandt, aber nicht identisch, ist eine Weiterentwicklung des Beispiels, das als «Problem der doppelten Identität» bezeichnet wird:

«Theseus besitzt ein etwas älteres, aber seetaugliches Schiff. Er beschließt eines Tages, es in die Werft zu bringen und dort erneuern zu lassen. Er bittet den Werfteigner, die 1000 Planken gegen neue auszutauschen. Der Eigner der Werft besitzt mehrere Docks und findet es schade, die alten Planken von Theseus’ Schiff einfach wegzuwerfen, also beschließt er, in Dock A das Schiff des Theseus nach und nach auseinanderzunehmen und ersetzen zu lassen und die Planken in Dock B zu bringen, wo sie in der ursprünglichen Reihenfolge und an ihrer ursprünglichen Position wieder zu einem Schiff zusammengesetzt werden, was gelingt.»

Ist das erste, erneuert Schiff immer noch das eigentliche Schiff des Theseus? Oder doch das zweite mit den Original-Planken? Oder gibt es jetzt plötzlich zwei Schiffe, die beide als «Schiff des Theseus» gelten können?

Die philosophische Frage, die hinter diesen Geschichten steht, ist die Frage nach der Identität. Wann ist ein Gegenstand noch der gleiche - und wann sind Veränderungen so ausschlaggebend, dass etwas Neues entstanden ist?

Was hat das mit mir zu tun?

Nun ist das Problem schon echt alt (es stammt aus der Antike), zudem scheint die Frage keinen Bezug zu unserem Leben und Alltag haben (die wenigsten von uns dürften Eigentümer eines Schiffes sein). Aber das täuscht: Je nachdem, wie wir die Frage beantworten, ändert sich alles in unserem Leben. Wirklich alles.

Einmal angenommen, wir würden entscheiden, dass das Schiff des Theseus nach dem Austausch der meisten Planken ein anderes Schiff ist, hätte diese Entscheidung weitreichende Konsequenzen. Gilt das dann auch für den Menschen? Es ist mittlerweile schon eine Binsenwahrheit, dass alle unsere körperlichen Bestandteile (Moleküle und Atome) sich ständig austauschen und spätestens nach zehn Jahren vollständig ersetzt wurden (abgesehen von Augen, Herz- und Gehirnzellen).

«Die Körperzellen erneuern sich, und nach allem, was heute bekannt ist, hat der Mensch tatsächlich alle sieben bis zehn Jahre einen fast neuen Körper. Dabei erneuern sich manche Zellen, etwa die der Haut, innerhalb von Tagen, andere bleiben ein Leben lang in ihrem Urzustand, etwa die Zellen des zentralen Nervensystems.» - «Zum Beispiel Knochen: Jedes Jahr tragen Osteoklasten 8 bis 10 Prozent altes Knochengewebe ab, Osteoblasten bauen es wieder auf. Alle zehn Jahre haben wir dadurch ein neues Skelett.» (aus: www.oepb.at)
Was die Identität des Menschen ausmacht

Müssten wir also nach zehn Jahren alle Gefängnis-Insassen entlassen, weil sie (fast) nichts mehr mit denen gemeinsam haben, die damals das Verbrechen begangen haben? Sind nach zehn Jahren alle Vertragspartner aus ihren Verträgen entlassen, weil es ja andere waren, die den Vertrag geschlossen haben?
Nein, natürlich nicht. Wobei das «natürlich» überrascht. Denn nach einigem Nachdenken wäre es eher natürlich, eine Identität über einen längerem Zeitraum zu verneinen.

Das gilt auch für das Schiff des Theseus: Es gibt bei der Ansammlung der Planken nichts, was es objektiv zum «Schiff des Theseus». Diese Bezeichnung ist schlicht eine fiktive Zuschreibung, kulturbedingt und auf Vereinbarung beruhend. Objektiv. d. h. materiell, gibt es kein Schiff «des Theseus». (Und auch keine zwei davon).

Und dennoch erscheint es uns als absurd, die Identität des Menschen als nur eine kulturelle Zuschreibung, als eine fiktive Vereinbarung zu betrachten. Immerhin machen wir Menschen für ihre früheren Taten verantwortlich - und das nur aufgrund einer kulturellen Fiktion?! Das liegt uns fern.
Dieses Aufbegehren gegen die Annahme einer alle sieben Jahre wechselnden Identität bedarf einer Begründung. Noch mehr, wenn wir die Selbst-Identifikation eines erwachsenen Menschen mit der Kleinkind-Version seiner selbst in den Blick nehmen. Wir haben kein Problem, auf unser Kinderfoto zu zeigen und «Das bin ich - als Baby!» zu sagen. Dabei hat vermutlich unser Nachbar materiell mehr mit mir gemeinsam als das Kleinkind auf dem Foto!

Natürlich können wir auf etwas Bleibendes wie die DNA, den Fingerabdruck oder Gesichtserkennungsmerkmale verweisen. Aber selbstverständlich machen diese bleibenden Merkmale nicht meine Identität aus (die je nicht zerstört wird, wenn mein Gesicht operiert oder meine Finger amputiert werden), sondern wurden nur deshalb als Erkennungsmerkmal ausgewählt, weil sie sich kaum ändern. Aus welchem Grund auch immer. - Das gilt übrigens auch für unsere DNA. Es mag im Moment Zukunftsmusik sein, aber wenn wir mit irgendeinem medizinischen Mechanismus unsere DNA verändern könnten (zum Beispiel um Erbkrankheiten zu eliminieren), sind wir doch immer noch wir selbst. Oder?
Auch die Ausbildung der persönlichen Identität durch die Entwicklung der Gehirnstruktur kann keine Identität hervorbringen, wenn wir schon vor der Entstehung und Ausdifferenzierung des Gehirns davon sprechen, dass meine Mutter «damals mit mir schwanger» war.

Nein: In Bezug auf die Identität des Menschen sind wir (religiösen Abneigungen zum Trotz) immer noch sehr gläubig: Wir setzten stillschweigend das Konzept einer immateriellen Komponente (also der Seele) im Menschen voraus, die meine Identität durch jede zeitliche Veränderung hinweg sichert.

Warum muss es denn die Seele sein?

Natürlich erscheint es ein wenig übergriffig, die Hypothese einer Seele als ein religiöses Konzept zu bezeichnen. Ja, manche Zeitgenossen (nicht nur Philosophen) verstehen die Seele als materialistisches Konzept, das lediglich eine Erscheinungsform beschreibt, die wir als etwas Geistiges deuten, die sich aber vollständig aus materiellen Strukturen heraus erklärt. Das brauche keinen religiösen Bezug.

So wird in der Medizin und der Psychologie der Begriff der «Seele» nicht im immateriellen Sinne verwendet (obwohl er auch hier oft als Gegenbegriff zur rein materiellen, physischen Wirklichkeit dient). Das Wort «Seele» steckt zwar im Begriff der Psychologie (psyche ist griechisch für Seele), der Psychiatrie oder in der Psycho-Somatik, dennoch sind deren Vertreter nicht gläubig oder religiös. Viele Mediziner, vor allem die Hirnforscher, sehen in der Seele nur ein sogenanntes Epiphänomen, das sich letztlich als Funktion von Hirnstrukturen beschreiben lässt.

Das ist nicht sonderlich gut begründet: Nehmen wir einmal an, die Identität eines Menschen ergebe sich aus der unterschiedlichen Ausdifferenzierung der körperlichen Struktur im Laufe der Entwicklung. Dann wären wir Menschen also in einem frühen Stadium unserer Entwicklung austauschbar und ununterscheidbar. Ist dann eine Identifizierung von Säuglingen nach der Geburt oder die Zuordnung von Eizellen einer bestimmten Mutter gegenüber nur eine Fiktion? Ein kultureller Brauch?
Wenn aber allein schon die DNA die Identität ausmacht, sind wir wieder bei dem Problem, dass eine Veränderung der DNA aus mir eine andere Person machen würde. Wäre das dann eine Möglichkeit für jeden Verbrecher, sich durch Wechsel der persönliche Identität jeder Verantwortung zu erledigen...?
Die andere Seite des Problems: Eineiige Zwillinge. Dass die materielle Gleichheit nicht Grund der Identität sein kann, ergibt sich auch aus der zweiten Version des «Theseus-Problem», der doppelten Identität. Denn wenn eineiige Zwilling eine bis in die DNA gleiche materielle Identität besitzen, aber dennoch zwei immer schon verschiedene Personen sind, dann muss die Unterschiedlichkeit der Person einen anderen Grund haben als die materielle Struktur.
Es muss etwas Immaterielles sein

Aber in der Frage, was denn die Identität eines Menschen durch die Zeit hinweg sichert, wenn materiell der Körper ein ganz anderer geworden ist, scheidet ein rein materieller Erklärungsversuch schon logisch aus. Wenn sich die materielle Struktur und Zusammensetzung so radikal ändert wie von einem Embryo hin zum erwachsenen Menschen, ist das Konzept eines immateriellen Träger der Identität unverzichtbar. Dabei ist es dann zweitrangig, ob ich diesem immateriellen Ich den Namen Seele gebe oder ein anderes Wort verwende. Was aber immateriell ist, ist eben keine Eigenschaft der Materie - das liegt im Wesen des Begriffs.

Alles was lebt, hat eine Seele

Wir wollen die Frage, ob wir mit diesen Gedanken ausreichend nachgewiesen haben, dass der Mensch eine immaterielle Seele haben muss, offen lassen. Ich persönliche halte zumindest die Selbstverständlichkeit, mit der jeder Mensch die überzeitliche Identität mit sich selbst (und seiner eigenen Version als Embryo in der Schwangerschaft seiner Mutter) und bei allen anderen Menschen (selbst nach Gentherapien oder Großoperationen) voraussetzt, für Glauben, der ohne religiösen Grund in der Luft hängt. Auch wenn sich viele dessen nicht bewusst sind.
Zu diesen offensichtlich religiösen Einstellungen gehört auch das natürliche Empfinden der allermeisten (auch nicht-religiösen) Menschen, dass es einen Wesens-Unterschied zwischen allen Tieren und der unbelebten Natur (selbst bei einem Roboter mit künstlicher Intelligenz) gibt.

Zu den größten Verbündeten unseres christlichen Glaubens gehört offensichtlich die Wirklichkeit, die wir trotz aller materiellen und atheistischen Ausrichtung unserer Gesellschaft nicht leugnen können: Alles Leben, jeder Mensch, jedes Tier und alle Pflanzen sind mehr als nur eine materielle Struktur. Leben setzt immer die Wirksamkeit eines immateriellen Lebensprinzips voraus, das wir Christen (zusammen mit Aristoteles und vielen anderen griechischen Philosophen und christlichen Theologen) als Seele bezeichnen.

Unbelebtes ist nur ein Kompositum

Alles rein Materielle dagegen hat keine eigene Identität. Das Schiff des Theseus ist nur eine Struktur aus Holz. Manche Menschen, die um die Geschichte dieser Struktur wissen, bringen das Schiff mit Theseus in Verbindung. Aber das ist Ansichtssache, eine reine Zuschreibung, die man teilen kann, aber nicht muss. Jedes Ding bleibt ein bloßer Gegenstand, ein Zusammengesetztes (Kompositum). Wenn die Zusammensetzung sich ändert oder verändert wird, bleibt es unserem Gutdünken überlassen, dem veränderten Ding einen neuen Namen zu geben oder beim alten zu bleiben.

Die Seele ist die Form der Materie

Alles was lebt, hat dagegen eine Identität über die aktuelle materielle Zusammensetzung hinaus - aber nicht unabhängig von ihr. Selbstverständlich können wir anhand der materiellen Struktur auf die jeweilige anwesende Seele schließen! Denn die Seele formt den Körper (den wir deshalb besser Leib nennen).
Alles andere widerspräche ebenfalls unser alltäglichen Erfahrung: Wir müssen nicht jeden Menschen zunächst auf seine seelische Identität überprüfen, bevor wir in ihm unseren Ehemann oder die beste Freundin erkennen (wie sollte das auch funktionieren?). Vielmehr identifizieren wir den Körper (oder Leib) und schließen dann auf die Anwesenheit der zugehörigen Seele.

Der Gedanke eines Seelen-Tausches bei gleichbleibender körperlicher Struktur (im Kino-Genres auch «Body-Switch», also Körpertausch genannt) ist also ein Widerspruch zum Wesen der Seele. Auch wenn ich mir solche Filme gerne anschaue - der Gedanke ist deshalb so reizvoll, weil er offensichtlich unmöglich ist.

Auch, wenn wir uns manchmal in der Identifikation täuschen (oder getäuscht werden), bleibt dieses Konzept davon unberührt.

Wo wohnt die Seele?

Manche Kinder fragen, wo Gott wohnt («...im Himmel?»). Ebenso haben frühere Philosophen und Naturwissenschaftler nach der Stelle im Körper geforscht, an dem die Seele zu finden sei.

Als Sitz oder körperlicher Träger einer solchen Seele erscheinen in den verschiedenen Kulturen unter anderem der Kopf, die Kehle, das Herz, die Knochen, die Haare und das Blut. Heute meinen wir eher, das Gehirn oder das Herz als Sitz der Seele benennen zu können; Rene Descartes glaubte die Seele in der Zwirbeldrüse zu finden, andere wiederum in den Nieren.

Genaugenommen ist die Frage nach dem Wohnort oder «Sitz» für Immaterielles sinnlos. Denn Immaterielles unterscheidet sich ja gerade von den materiellen Dingen dadurch, dass es nicht «ausgedehnt» ist. (René Descartes sprach von den res extensa und den res cogitans. Alles Materielle ist eben «ausgedehnt», extensa, und alles Immaterielle eben nicht.) Die Seele nimmt keinen Raum ein! Wenn wir vom Zusammenhang zwischen etwas Immateriellem (Gott, Engel, Seele) und dem Materiellem fragen, dürfen wir nicht nach Sitz oder Ort fragen, sondern nach der Wirkung: Wo wirkt die Seele?

Die Antwort darauf könnte lauten: «Die Seele wirkt im Gehirn»; eine solche Beschreibung wäre deutlich vernünftiger anstatt vom Gehirn als «Wohnort der Seele» zu sprechen. Ich persönlich würde der Aussage allerdings widersprechen: Der ganze menschliche Körper scheint mir Wirkungsort der Seele zu sein. Geistige Vollzüge bilden sich zwar vornehmlich im Gehirn ab, aber letztlich wirkt das Lebensprinzip bis in die kleinste körperliche Einheit hinein - noch bis in die untersten Zellstrukturen.

Das Wunder der Eucharistie

Mit diesem Hintergrund ist es auch verständlich, warum die katholische Kirche in ihrem Glauben an die Wesensverwandlung von Brot und Wein in der Messfeier (der Eucharistie) keinen Widerspruch zur Natur erkennt. Selbstverständlich ist die Wandlung von leblosen Dingen in eine lebendige Person ein Wunder, das unsere Alltagserfahrung sprengt. Aber gerade die soeben gedeuteten Alltagserfahrungen bieten genügend Erkenntnisse, um dieses Wunder zu beschreiben: Zu den Gegenständen von Brot und Wein, die zunächst nur Komposita sind und ohne immaterielle Identität, tritt eine immaterielle Seele hinzu. Wenn diese sich mit den eucharistischen Gaben verbindet, können wir von der leiblichen Anwesenheit einer Person sprechen.

Deswegen ist es sinnvoller, von einer Substantiation zu sprechen - und nicht von einer Transsubstantiation, wie es die katholische Kirche über Jahrhunderte pflegt. Denn mit Substanz ist das Wesen der Dinge gemeint, das über die materiellen Komponenten hinausgeht. Bei rein materiellen, unbelebten Dingen ist aber die Anwesenheit einer immateriellen Substanz nicht gegeben.

Dieses Hinzutreten ist aber auch nicht so zu verstehen, dass die immaterielle Wirklichkeit einfach Brot und Wein als «Wohnort» wählt und sich nun dort aufhält. Wie wir festgestellt haben, ist die Rede von wohnen und Aufenthaltsort für geistige Wirklichkeiten sinnlos. Vielmehr ist eine geistige Wirklichkeit nur über ihre Wirkung lokalisierbar. Eine Anwesenheit Gottes in der Hostie, ohne dass sie dort wirkt, ist dann aber ein Widerspruch in sich.

Die Person Jesu tritt also nicht einfach passiv zur Wirklichkeit der Hostie hinzu, sondern macht das Brot und den Wein deshalb zu «Leib und Blut Christi», weil sie dort wirkt. Im Normalfall - auch das haben wir festgestellt - bewirkt die Seele die Form des Leibes. Wir erkennen die Anwesenheit der Seele dann durch leibliche Merkmale. Im Fall der Eucharistie besteht die Wirkung der göttlichen Seele in den eucharistischen Gaben aber nicht in der Wandlung auch der materiellen Eigenschaften (indem aus Brot sichtbar Fleisch wird), sondern der Hinzufügung von geistigen Eigenschaften.

Auch das ist ein Wunder: Eine menschliche Seele kann durch leibliche Eigenschaften geistiges Bewirken (zum Beispiel durch eine Umarmung trösten). In der Eucharistie glauben wir allerdings an eine real geistige Wirkung der göttlichen Seele, obwohl der sichtbare Körper weiterhin wie ein lebloser Gegenstand aussieht. Deshalb sprechen wir vom Wunder der Eucharistie.
Das 4-in-1-Wunder

Wunder Nr. 1 ist, dass durch den Vollzug eines Rituals (wir nennen es die «Feier der Eucharistie») ein unabhängiges, weil göttliches Lebensprinzip sich mit Brot und Wein vereint. Wunder Nr. 2 ist, dass die Hostie eine Hostie bleibt (und der Wein weiterhin wie Wein aussieht, schmeckt und wirkt), obwohl eine göttliche Seele in ihr wirkt. Das Wunder Nr. 3 und zugleich das größte Wunder ist allerdings, dass Gott diesen Weg zur Heilung und Heiligung der menschlichen Seele gewählt hat. Gott wählt den Weg zum Menschen über einen Gegenstand!
Diese Erniedrigung der göttlichen Erhabenheit, die sich der Verbindung mit Brot und Wein nicht zu schade ist, erklärt sich aus dem göttlichen Willen zur Wahrung der menschlichen Freiheit: Dadurch, dass der Mensch nicht vom göttlichen Geist direkt umgestaltet wird, sondern sich leiblich-körperlich dem Empfang von Brot und Wein gegenüber öffnen oder verschließen kann, bleibt der Mensch frei. Liebe und Zuwendung vertragen sich nicht mit der Aufhebung dieser Freiheit.

Aber es gibt noch ein Wunder, Wunder Nr. 4. Das ist dann das, was durch den Empfang der göttlichen Gabe im Menschen geschieht. Aber das zu beschreiben, ist in Worten kaum möglich: Immer dann, wenn sich zwei Seelen begegnen, geschieht Unendlichkeit. Wenn einer dieser beiden Seele zugleich Gott ist, fehlen grundsätzlich die Worte, um die Auswirkungen in der menschlichen Seele zu beschreiben. Aber andere, heiligmäßige Menschen haben davon erzählt. Dazu verweise ich auf deren Berichte, Erzählungen, Betrachtungen und Zeugnisse.

Die Eucharistie als 4-in-1-Wunder ist das größte Wunder dieser Welt. Darin offenbart sich ein Gott, der sich aus Liebe auf einen Weg zu unserem Herzen begibt. Weil Gott unsere Seele umgestalten will, weil er uns liebt und uns zur Gottähnlichkeit berufen hat, gibt er sich in ein Stück Brot. Das ist unglaublich wunderbar! Wer hat schon einen Gott, der den Menschen so liebt?