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Mein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden

 

Mein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden

Heinrich Kalhaus, 76 Jahre:

«Kinder, die was wollen, krieg'n was auf die Bollen», so habe ich gelernt. Schon als kleines Kind haben mir meine Eltern beigebracht, nichts selber zu wollen, nicht meinen eigenen Willen durchzusetzen. Das habe ich sehr genau befolgt, denn ich merkte auch, dass es ungesund ist, wenn man etwas wirklich will. Immer, wenn ich mir sicher war, dass ich etwas haben wollte, musste ich feststellen, dass es sehr weh tut, wenn es mir verweigert wurde. Nichts wollen und nichts wünschen ist da sehr viel bequemer: solange ich meinen eigenen Willen verleugnete, konnte ich auch nicht enttäuscht werden. Willenlos zu sein war eine lohnende Sache, so habe ich festgestellt.

Bis dann eines Tages das Kind vor mir lag. Ich glaube, ich war damals 20 oder 22 Jahre. Und das Kind lag vor mir auf der Straße, blutete und war bewusstlos. Ich hätte an diesem Kind vorbeigehen können, genauso wie alle anderen es taten. Und ich war auch schon soweit gegangen, dass das Kind nicht mehr in meinem Blickfeld lag. Aber ich hatte es trotzdem noch vor Augen, das Bild des Kindes, das da auf der Straße lag und sich nicht bewegte, nicht mehr rühren konnte. Man erwartete von mir, dass ich ebenso vorbei ging wie alle. Der Wille der Passanten, das Kind dort verbluten zu lassen, war genauso real spürbar wie die eisige Kälte an diesem Februarmorgen. Mir war klar, dass ich Ärger bekommen würde, wenn ich mich diesem Willen entzog, wenn ich meinen eigenen Willen hervorkramen würde - wenn ich ihn überhaupt finden würde in meinem Inneren, dass von jahrelanger Willenlosigkeit restlos überwuchert war. Ich habe mich dann doch dem fremden Willen gebeugt, wie ich es gelernt hatte, und wie es meine Angewohnheit war. Wie es mir meine Eltern und der Herr Pfarrer beigebracht haben. Ich habe meinen eigenen Willen ignoriert. Ich hätte ohnehin keine Kraft gehabt, selber etwas zu wollen. Ich habe mich einfach dem Willen des blutenden Kindes hingegeben.

Natürlich haben sie mich eingesperrt, als ich das Kind zum Arzt brachte. «Verrat an der deutschen Rasse» wurde mir vorgeworfen. Unterstützung von «jüdischen Agitationen» war ein Punkt der Anklage. Dabei war es mir doch egal gewesen, ob das Kind jüdisch gewesen ist oder deutsch. Es hatte geblutet. Und es wollte, dass ich ihm helfe. Ich habe doch nichts anderes getan, als mich dem Willen des Kindes zu beugen.
Ich glaube heute, mehr als 55 Jahre nach diesem Ereignis, dass meine eingebildete Willenlosigkeit Illusion gewesen ist. Ich war nie so willenlos, wie ich mir vorgenommen hatte.

Ich glaube heute, gut 50 Jahre nach meiner Entlassung aus dem Zuchthaus, dass die Leute, die behaupten, sie würden sich keinem fremden Willen beugen, die eigentlichen Übeltäter sind.

Das Leben gewinne ich nur, wenn ich lerne, meinen Willen zu beugen. Und zwar dem zu beugen, der mich braucht.

Das blutende Kind auf der Straße war mein erster Meister, dem es sich lohnte zu dienen. Nicht mein Wille geschah damals, sondern sein Wille.»