Theologische Anmerkungen zu Harry Potter |
1. Literaturkritische Vorbemerkungen
Harry Potter als Vorbild für neuheidnischen Aberglauben,
als neuer Mythos des kindlichen Erlösers, als gesellschaftskritisch
gemeinten Stellvertreter einer neuen Mitmenschlichkeit...
? solche und noch weitere unvereinbaren Meinungen finden
sich in den Stellungnahmen (etliche darunter im Internet)
zu den bisher erschienenen vier Bänden des Bestsellers "Harry
Potter" von Joanne K. Rowling.
Alle Kritik und Verteidigung, die sich vor allem an der magischen
Zauberwelt Harry Potters entzündet, entscheidet sich an der
Frage: Welche Art von Literatur liegt hier vor? Ist es ein
Märchen, ein Fantasy-Roman, eine Allegorie oder etwas ganz
anderes?
1.1. Der unmittelbare Zugang
Rowling sagt in einem Interview: "I absolutely did not
start writing these books to encourage any child into witchcraft,"
she says with an uncomfortable chuckle. "I'm laughing
slightly because to me, the idea is absurd. I have met thousands
of children now, and not even one time has a child come up
to me and said, 'Ms. Rowling, I'm so glad I've read these
books because now I want to be a witch.' They see it for what
it is," she emphasized. "It is a fantasy world and
they understand that completely. I don't believe in magic,
either". (
http://www.cnn.com/books/news/9910/21/rowling.intvu/index.html)
Rowling beschreibt, was jeder normale Leser unmittelbar empfindet:
Es ist eine Phantasiewelt! Wir werden erinnert an Tolkien:
"Der Herr der Ringe" oder an C. S. Lewis: "Der
König von Narnia". Aber wir müssen differenzieren...
1.2. Bild- und Sachebene und verwendete
Allegorien
Wie bei jedem Gleichnis oder Märchen muss klar unterschieden
werden zwischen Bild- und Sachebene. Beide Ebenen sind durch
einen Vergleichspunkt miteinander verbunden. Gibt es mehrere
Vergleichspunkte, dann handelt es sich um eine Allegorie.
Dafür ein Beispiel aus Mt 21, 33-40:
"Ein Gutsbesitzer legte einen Weinberg an, zog ringsherum
einen Zaun, hob eine Kelter aus und baute einen Turm. Dann
verpachtete er den Weinberg an Winzer und reiste in ein anderes
Land. Als nun die Erntezeit kam, schickte er seine Knechte
zu den Winzern, um seinen Anteil an den Früchten holen zu
lassen. Die Winzer aber packten seine Knechte; den einen prügelten
sie, den andern brachten sie um, einen dritten steinigten
sie. Darauf schickte er andere Knechte, mehr als das erste
Mal; mit ihnen machten sie es genauso. Zuletzt sandte er seinen
Sohn zu ihnen; denn er dachte: Vor meinem Sohn werden sie
Achtung haben. Als die Winzer den Sohn sahen, sagten sie zueinander:
Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn töten, damit wir seinen
Besitz erben. Und sie packten ihn, warfen ihn aus dem Weinberg
hinaus und brachten ihn um. Wenn nun der Besitzer des Weinbergs
kommt: Was wird er mit solchen Winzern tun?"
Wenn diese Erzählung ein reines Gleichnis wäre, dann hätte
sie genau einen Vergleichspunkt, etwa den Sachverhalt eines
Vertragsbruchs, und zwar angewendet auf das Verhältnis von
Gott zu seinem Volk (Israel). Jesus hätte dann gleichnishaft
sagen wollen, dass das Volk Gottes (= die Winzer) den Bund
(= den Pachtvertrag), den Gott (= der Gutsbesitzer) mit ihm
geschlossen hat, gebrochen hat. Die Frage am Schluss liefe
darauf hinaus: Der Weinbergbesitzer (Gott) wird seinerseits
den Vertrag (Bund) aufkündigen. Offensichtlich wäre
damit aber nur ein Teil des Gleichnisses verstanden. Denn
es gibt mehr als nur diesen einen Vergleichspunkt: Da ist
von Knechten die Rede, die geprügelt, gesteinigt und umgebracht
werden, und das gleich mehrfach. Dann schickt der Gutsbesitzer
auch noch seinen Sohn; auch dieser wird umgebracht, und zwar
mit dem Ziel, ihn zu beerben. Um diese Erzählteile zu verstehen,
ist es erforderlich, ihnen eine eigene Funktion zuzuschreiben,
eben eine allegorische Funktion: Die gesandten Knechte sind
nicht einfach nur Handlungsträger, die zur inneren Logik des
grundlegenden Vergleichspunktes (Vertragsbruch) gehören, sondern
sie stehen für Menschen, die zur Sachebene (= Israel im Verhältnis
zu Gott) gehören: die Propheten. Der Sohn im Gleichnis steht
ebenso für eine in der Sachebene antreffbare Gestalt: den
Sohn Gottes, Jesus Christus. Und sein Hinauswurf aus dem Weinberg
und sein Tod sind ebenfalls allegorisierend zu verstehen:
gemeint ist die Verwerfung des gottgesandten Messias und sein
Kreuzestod. Das Gleichnis vom Weinberg ist eine Allegorie
auf die Heilsgeschichte insgesamt, kein reines Gleichnis.
Es hat nicht nur einen Vergleichspunkt, sondern mehrere, weil
die wesentlichen Handlungspersonen der Bildhälfte je für sich
eine Entsprechung in der Sachebene haben. Fassen wir dies
zusammen:
Allegorische Elemente im Gleichnis:
Gutsbesitzer
|
Gott
|
Winzer
|
Das Volk Gottes (Israel)
|
Knechte
|
Propheten
|
Sohn
|
Jesus
|
Hinauswurf und Tötung des Sohnes
|
Ablehnung und Tötung Jesu
|
In ganz ähnlicher Weise hat C. S. Lewis in Band II der Narnia-Geschichte
(auch 7 Bände) eine Allegorie auf den Erlösertod Christi geschrieben:
Aslan
|
Jesus Christus
|
die Kinder
|
die Menschen (gute, böse, bekehrte)
|
die Hexe
|
vielleicht der Teufel (?)
|
der Tod des Löwen
|
der Opfertod Jesu
|
das uralte magische Gesetz
|
Gottes geheimnisvoller Ratschluss
|
Strenge Allegorien sind selten, und meistens sind sie langweilig.
Das sieht man an schlechter Fantasy-Literatur. Auch Lewis
erzählt vieles ganz ohne allegorische Absicht. Tolkien allegorisiert
überhaupt nicht.
Literatur, die nicht wörtlich oder historisch verstanden
werden, aber etwas Wahres oder Sinnreiches aussagen will,
entwirft eine fiktive Welt (Bildebene), in der sich Ähnliches
abspielt wie in der Wirklichkeit (Sachebene). Für ein genaueres
Verständnis ist es von maßgeblicher Bedeutung, ob der Vergleich
sich nur auf einen einzigen Punkt beschränkt (der in der Regel
in einer "Moral in der Geschichte" besteht), oder
ob mehrere Vergleiche gezogen werden. Gibt es nur einen Vergleichspunkt,
dann sind die einzelnen dargestellten Charaktere rein erfunden
und zufällig; sie dienen dann nur der einen Gesamt-Aussageabsicht,
z.B. ein gewisses charakterliches Ideal (in seinen Schattierungen
und Gefährdungen) zu veranschaulichen. Anders ist es, wenn
über diesen Rahmen hinaus einzelne Elemente je auch für sich
eine unmittelbaren Bezug zu Personen oder Zusammenhängen in
der Sachebene (Wirklichkeit) haben. In diesem Fall ist eine
(teilweise) Allegorisierung beabsichtigt.
1. 4. Wie also ist "Harry Potter"
zu interpretieren?
Der erste Eindruck ist, dass wir es mit einer rein erfundenen
Welt ohne jede allegorische Anspielung zu tun haben:
Es wird eine reiche Bildebene aufgebaut, die sehr phantasiereich,
aber eben deswegen auch ohne tiefere Bedeutung ist. Das Bild
selbst könnte durch ein anderes ersetzt werden: Die Sache,
die im Bild zum Ausdruck kommen soll, ist eindeutig: psychologisch
und moralisch bestimmte Charaktere, die als Identifikationsmuster
dienen sollen wie im klassischen Bildungsroman. Alles, was
sich in Hogwarts und allgemein in der Welt der Zauberer abspielt,
ist ein Bild für das, was in unserer Wirklichkeit geschieht.
Vergleichspunkt ist einzig die Darstellung der Charaktere
und ihrer Entwicklung. Sie sind so wie in der bekannten Welt.
Der Wert der Erzählung bemisst sich dann lediglich daran,
wie gut die ganze Vielfalt der charakterlichen Möglichkeiten
zum Ausdruck kommt, ob auch nichts zu sehr vereinfacht oder
verkitscht wird.
Die Zauberei gehört, so betrachtet, ganz der Bildwelt an,
sie ist dort ebenso alltäglich wie auf der Sachebene die Technik
und das Handwerk. Zaubern muss man genauso lernen wie in der
wirklichen Welt. Es gibt eine echte Schule, es gibt Lehrer,
Stundenpläne, Prüfungen und nebenbei alles, was einen Heranwachsender
während der Schulzeit sonst noch plagt, sorgt, erfreut, mit
Hoffnungen erfüllt usw. Soweit ist "Harry Potter"
kein besonderes Buch und muss sich lediglich an den üblichen
literarischen Kriterien messen lassen. (Diesen genügt die
einfallsreich und witzig geschrieben Romanfolge freilich durchaus;
sie zeichnet sehr unterschiedliche realistische Charaktere,
lässt Raum für überraschende Entwicklungen und kennt die Vielfalt
des Lebens in seiner Härte und Grausamkeit wie in seinen schönen
und liebenswürdigen Details...)
Dennoch wäre eine fein säuberliche Trennung und Zuordnung
von Bild- und Sachebene verkürzend, und jeder spürt es. Da
ist mehr gemeint! Die Frage ist nur, wo und wie das genannte
Schema durchbrochen wird. Genau darüber ist ein Streit entbrannt,
der manche religiösen Gemüter erhitzt: Denn einige meinen,
Rowling wolle vielleicht doch teilweise wörtlich verstanden
werden, spreche also über wirkliche Magie. Andere hingegen
finden im Roman Allegorisierungen, durch welche die fiktionale
und die wirkliche Welt anders und tiefsinniger zugeordnet
werden. Die religiösen Kritiker, die offensichtlich voraussetzen,
dass es in unserer Welt Zauberei gibt und davor anscheinend
Angst haben, bestreiten, dass die Rede und Praxis von Magie
und Zauberei im Roman nur der Bildebene zugehörig sei; sie
mutmaßen, die Autorin wolle zum Okkultismus anleiten. Dafür
scheint zu sprechen, dass es im Roman Andeutungen gibt dafür,
dass nicht alles rein fiktional gemeint ist, sondern die Wirklichkeit
selbst im gewählten Bild erscheint. Dennoch ist dieses wörtliche
Verständnis schlechthin abwegig mit demselben Recht
könnte man Grimms Märchen als gefährliche Verführung kritisieren.
Viel plausibler ist die Erklärung, Rowling habe den besonderen
Wirklichkeitsbezug ihres Romans durch allegorische Momente
hergestellt.
Da ist vor allem die Tatsache, dass Harry Potter in beiden
Welten zu Hause ist, in der Muggelwelt und in der Zauberwelt.
Dem Elfjährigen werden die Augen geöffnet für eine Wirklichkeit,
die den meisten Menschen verborgen ist. Das bedeutet aber,
dass die Bildwelt nicht nur als reine Fiktion verstanden werden
will, sondern allegorisch eine metaphysische Wahrheit birgt:
Neben der sichtbaren gibt es auch eine unsichtbare Welt! Was
gemeint ist, ist offenbar: In der wirklichen Welt gibt es
zum einen Menschen, die sich mit dem Sichtbaren begnügen und
zufrieden sind, und zum anderen solche, die eine transzendente
Wirklichkeit annehmen und aus dieser ihren Lebenssinn beziehen.
Harry Potter wird so zum Symbol für den Menschen, der
unverhofft und ungefragt aus der reinen Diesseitigkeit
herausgerissen wird und die Glaubenswelt entdeckt! Das ist
übrigens wieder ganz ähnlich bei Lewis, Narnia II: Auch hier
betreten die Kinder eine zweite Welt, deren religiöse Struktur
auch die normale Welt bestimmt.
1.5. Wie aber ist die Glaubenswelt
bei Harry Potter gekennzeichnet?
Es ist nicht immer leicht, die Grenze zwischen nur bildlich
und allegorisch Gemeintem zu ziehen; beides ist manchmal merkwürdig
vermischt. Klar ist auf jeden Fall, dass Voldemort, dessen
Name kaum einer zu nennen wagt, mehr ist als nur eine fiktive
Gestalt. Er symbolisiert denjenigen Menschen, der sich dem
falschen Heilsweg verschrieben hat, denn er sucht die Unsterblichkeit
mit magischen (d.h. technischen) Mitteln und endet schließlich
in der Unfähigkeit zur Liebe; er weiß nicht einmal mehr, was
Liebe ist und was sie bewirken kann (I 324; IV 682); Voldemort
symbolisiert die dunkle Seite, er ist Handlanger des Teufels.
Klar ist zweitens, dass die Guten aufgerufen sind, gegen diesen
Bösen zu kämpfen mit ihrem Handwerk (dem Zaubern),
mehr aber noch durch ihre Gemeinschaft (und die gibt es nicht
ohne geübte Tugend!). Drittens scheint ebenfalls klar zu sein,
dass die rein menschliche (Zauber-)Kraft nicht ausreichend
ist, aber tatsächlich eine höhere Kraft im Spiel ist, die
den Bösen in die Schranken weist: Das Opfer der Liebe der
Mutter schützt ihr Kind und schwächt den Bösen gewaltig. (Auch
hier ist die Parallele zu Lewis offenkundig; s.u.) Es fragt
sich freilich, ob die Deutung von Voldemort, der darin nicht
mehr als "uralte Magie" (IV 682) sieht, auf Dauer
standhält. Darüber ist erst in späteren Folgen Auskunft zu
erwarten, aber bisher sieht es ganz danach aus, dass Rowling
annimmt, dass Liebe etwas durchweg anderes und Höheres darstellt
als Magie (Technik) und darum auch den Raum für die Gnade
offenhält.
Die Gnade wird freilich nicht allegorisiert, doch das ist
theologisch auch unmöglich, denn so wäre sie naturalisiert.
Von daher versteht sich, dass Gott und Jesus Christus nicht
unmittelbar auf der Bildebene fixiert werden können. Dennoch
wird die Wirkung der Gnade an bestimmten Höhepunkten ahnungshaft
angedeutet: Der Phönix Fawkes bringt zur rechten Zeit Hilfe
(II 324). Überhaupt scheint dem Phönix eine allegorische Nähe
zum Heiligen Geist zu eignen: seine Tränen heilen wie eine
Salbung (II 330f), und er ist Harry Potter nahe, weil er seinem
Herrn (Dumbledore) vertraut und ihm die Treue bewahrt. (II
342) Der Phönix erscheint so als eine quasi göttliche Gabe
an den Treuen, vermittelt durch Dumbledore.
Bei alledem bleibt unklar, ob die Gestalt Dumbledores eventuell
selbst allegorisierende Züge besitzen soll (ob ihm etwa eine
Rolle zukommt wie dem Engel Michael oder einer Art Hohenpriester).
Jedenfalls nimmt er an entscheidenden Stellen eine Mittlerstellung
zu einer "Hilfe von oben" an. Dabei wird seine Macht
durchweg endlich skizziert, und gelegentlich kommen seine
menschlichen Schwächen durchaus zum Vorschein.
Überhaupt ist zu beachten, dass durchgängig unterstellt wird,
dass keine menschliche Macht (aber auch die Voldemorts nicht:
er fürchtet sich vor Dumbledore) unbegrenzt ist; niemand ist
allwissend oder gar allmächtig.
Dass Harry Potter selbst eine Allegorie auf einen kindlichen
Erlöser sein soll, ist abwegig. Dazu wird er viel zu schwach
geschildert, ist er doch dauernd auf fremde Hilfe angewiesen.
Vielmehr bildet er zusammen mit Ron und Hermine die Identifikationsfigur,
in die der (jugendliche) Leser sich versetzt und in der er
sich selbst und seine eigenen moralischen Kämpfe wieder findet.
Nur eine nicht allegorisierbare Gestalt taugt als Identifikationsfigur!
Von diesem Deutungsansatz kann nun auch die wichtige Frage
geklärt werden, welchen Stellenwert Magie und Zauberer im
Roman hat. Sollen okkulte Praktiken unserer Welt idealisiert
und verherrlicht werden, wie einige religiöse Kritikern behaupten?
Dazu ist festzustellen: Die gewöhnlichen Zaubersprüche verbleiben
ausschließlich in der Bildhälfte, d.h. sie spielen dort dieselbe
Rolle wie in unserer Welt das Handwerk, die Wissenschaft und
die Technik. Jede technische Errungenschaft unserer Welt hat
in Hogwarts eine zauberhafte Entsprechung: Verkehrsmittel,
Telekommunikation, Medizin usw. Die "normale" Zauberei
in Hogwarts spielt darum in keiner Weise auf okkultistische
Praktiken an. Was die "Unverzeihlichen Flüche"
angeht, legt sich folgendes Urteil nahe: Schon der Name deutet
auf die moralische Dimension hin, die über das bloße Handwerk
hinausgeht und eine praktische Entscheidung erfordert. "Unverzeihlich"
heißt: die Menschenwürde unmittelbar angreifend. Das gibt
es auch bei uns: Der "Cruciatus"-Fluch versinnbildlicht
die Folter, der "Imperius"-Fluch die totale Willensmanipulation,
der "Avadra-Kedavra"-Fluch schließlich den Mord.
Freilich wäre es abwegig, der Autorin zu unterstellen,
hier eine Anleitung zur unmittelbaren Imitation geben zu wollen
(sie würde nichts ausrichten), eher wäre man geneigt, eine
Anspielung auf moderne "unverzeihliche" Beraubungen
der Menschenwürde herauszuhören, auf Manipulation und vielleicht
auch Gentechnik. (Nur nebenbei: P. N. Pfluger versteigt sich
darin, in der Seitenzahl 666 der dt. Ausgabe, wo der "Avadra-Kedavra"-Fluch
zur Ausführung gelangt, eine Anspielung zu sehen.)
Es gibt freilich eine (einzige) Stelle, wo ein echtes (d.h.
in unserer Welt bekanntes) okkultes Ritual geschildert wird,
nämlich bei Voldemorts Neubeschaffung eines Körpers (IV 665-672).
Welche Bedeutung hat diese Szene im Gesamtzusammenhang? Wird
hier eine satanische Praxis gerechtfertigt? Eine solche Deutung
ist schon deshalb widersinnig, weil das Ritual allzu deutlich
mit negativen Wertungen besetzt wird. Dennoch fragt sich,
warum die Autorin zu einer derart drastischen Schilderung
greift, während sie sonst auf rituelle Einzelheiten keinen
Wert legt, ja diese vermeidet. Anders als sonst erfindet sie
nicht, sondern greift auf Elemente zurück, die aus okkulter
Praxis und entsprechender Gruselschocker-Literatur bekannt
sind. Das ist seltsam und nicht im Sinne ihres sonstigen Stils.
Verständlich wird dieses Vorgehen allenfalls aufgrund der
dramaturgischen Bedeutsamkeit des Erzählten: Harry Potter
wird einer intensiveren Stufe des Grauens ausgesetzt und seine
Treue so auf eine neue Probe gestellt; wird er jetzt klein
beigeben, oder wird er weiter kämpfen? Das Ritual ist so verstanden
nicht zufällig ausgewählt, denn es verkörpert die Antithese
zum Opfer, aus dem Harry lebt, es ist dessen Zerrbild: Harry
lebt, weil seine Mutter für ihn gestorben ist, Voldemort sucht
sein Leben, indem er das Fleisch und Blut anderer Menschen
für sich benutzen will; die Mutter gibt ihr Leben freiwillig,
Pettigrew (genannt Wurmschwanz) wird dazu gezwungen.
Fassen wir die allegorisierenden Elemente zusammen:
sichtbare und unsichtbare Welt
|
Muggelwelt Zaubererwelt
|
Handlanger des Teufels
|
Voldemort
|
Grenze des Bösen
|
Das Opfer der Mutter besiegt nach uralter
Magie den Teufel. (IV 682) Voldemort fürchtet
Dumbledore.
|
Endlichkeit jeder menschlichen und
dämonischen Macht
|
Zauberkräfte sind begrenzt.
Keiner ist allwissend oder gar allmächtig.
|
In manchen scharf ablehnenden Rezensionen werden indes ganz
andere Allegorien angenommen: Mit den Muggeln seien die Christen
gemeint. Das Zaubern meine allgemein magische Praxis (weiße
oder schwarze Magie), und darum sei die Botschaft: Wir brauchen
nicht Gott, sondern (weiße) Magie. Der Teufel sei stärker
als Christus.
Unterstellte Allegorien und Intentionen
Christen
|
Muggel
|
weiße Magie statt Gnade
|
das Gute siegt mit schlechten Mitteln.
Gott kommt nicht vor
|
Das Zeichen des Tieres
|
Harrys Narbe *
|
Teufel stärker als Christus
|
Voldemort wird nicht wirklich besiegt
Auch die relativ Guten sind verdorben
|
Diese Deutung entbehrt jeder Grundlage. * Insbesondere die
Narbe von Harry weist eher auf das göttliche Zeichen auf der
Stirn hin (Offb 7,3; 9,6; 14,1; 22,4) denn auf das dämonische
(Offb 13,6; 14,9; 17,5; 20,4).
Doch ebenso wenig überzeugt die Interpretation, wonach Rowling
lediglich den modernen Vernunftkult kritisieren und dagegen
das Ideal der Mitmenschlichkeit verkünden wolle.
2. Theologische Auswertung
Christa Meves sieht richtig, dass der Erfolg des Romans sich
nicht verstehen lässt ohne den modernen Hintergrund des Säkularismus
(sie spricht von "unserer gottlosen Zeit").
"Eine Zeit, die dieses Urbedürfnis [nach religiösem
Sinn des Lebens] über Jahrzehnte hinweg auszuhungern und die
religiöse Verhaftung mit Hilfe von Diffamierung in den Medien
auszutreiben sucht, erzeugt zunächst eine Verdrängung dieser
Aspekte mit einem Vakuum auf diesem Sektor, das nicht lange
erhalten bleibt." In dieses Vakuum habe die Autorin "einen
Pfeil mitten ins Zentrum abgeschossen". Rowling bringe
die metaphysische Macht des Bösen ins Gedächtnis zurück. Aber
die Lösung, die sie in Harry Potter biete, nämlich Humanismus
und gekonntes Sozialverhalten, sei unzureichend.
Natürlich ist zu fragen, ob man von einem Kinderbuch eine
Lösung des Säkularismus-Problems erwarten kann. Aber vielleicht
steckt in "Harry Potter" doch mehr, als Meves darin
entdeckt:: nicht nur die Aufdeckung der Gefährdung des Menschen
angesichts dämonischer Mächte, sondern auch der zumindest
ahnungshafte Hinweis auf die Rettung. Auch wenn solche Anspielung
auf die christliche Erlösungsbotschaft viel verhaltener ist
als bei C. S. Lewis, in Dumbledores Weisheit und Güte spiegelt
sich doch einiges davon. Das Opfer der Mutter habe ich schon
erwähnt. Was Rowling in diesem Kontext als "uralte Magie"
bezeichnet, ist nicht weniger als bei Lewis die Rede von einer
"tieferen Magie, die ihren Ursprung noch vor Beginn der
Zeit hat", eine Anspielung auf Gottes ewiges Gesetz.
Dies ist freilich bis Band IV einschließlich noch nicht ganz
klar. Es ist aber nicht unplausibel, dass Rowling nach und
nach den Schleier lüften wird und am Ende klar herausstellt,
dass das, was die weisen Menschen mangels angemessener Sprache
"tiefe Magie" nennen, in Wahrheit göttliche Fügung
ist.
Ein Buch kann auch dann theologisch wertvoll sein, wenn es
nicht unmittelbar von Gott und der göttlichen Gnade spricht.
Lediglich, wenn es die Gnade leugnete, wäre es abzulehnen.
Der Haupteinwand gegen "Harry Potter" besteht im
Vorwurf: An die Stelle der Gnade werde die Technik (des Zaubern
nämlich) gesetzt. Das ist so keineswegs der Fall. Die Macht
des Zaubern wird nämlich selbst durchgängig relativiert; es
gibt nur relative Unterschiede in der Zauberkraft; keiner
weder Voldemort noch Dumbledore besitzt eine
absolute Macht. "Kein Zauber kann die Toten wieder erwecken",
sagt Dumbledore (IV 729) und bestimmt damit die absolute Grenze
der menschlichen Technik. Dass Gott allein Herr über Leben
und Tod ist, wird damit nicht direkt gesagt, aber man kann
es heraushören.
An entscheidenden Stellen wird und das ist noch wichtiger
der Sieg gegen das Böse überhaupt nicht aufgrund der
Technik errungen, sondern aufgrund personaler Werte. Harry
steht Voldemort wie der junge David dem Goliath gegenüber;
wenn es nur um Zauberkraft ginge, wäre er schon im ersten
Band gestorben. Aber ihm wird fremde Hilfe zuteil, manchmal
aus einem gleichsam metaphysischen Reich. In diese Richtung
bewegt sich auch die Andeutung Dumbledores, dass die Verschonung
von Pettigrews Lebens durch Harry ihm eines Tages helfen wird
(III 387. 439). Der Wahrsagekunst begegnet das Buch
im übrigen mit dem größten Misstrauen, und Dumbledore macht
sich über die Lehrerin Trelawney lustig (III 439).
Übersieht man den bisher bekannten Gesamtentwurf, könnte
man in Harry Potter sogar eine großartige Allegorisierung
des geheimnisvollen Zusammenwirkens von Gnade und Freiheit
erblicken: Der Mensch muss alles geben und einsetzen, was
er hat doch das wäre immer unzureichend ohne göttliche
Gnade. Letztere wird zwar nur verschlüsselt unter Begriffen
aus der Welt der Magie, doch das ist eben die Sprache der
Magier. Dumbledore kennt sich da auch nicht richtig aus; er
ist nur ein Mensch, wenn auch ein außerordentlich weiser.
So wird Harry in Band I deshalb gerettet, weil er von Voldemort
und seinem Helfershelfer nicht berührt werden kann: das ist
eine Gabe, die aus einem höheren Reich stammt. In Band II
erscheint im letzten Moment der Phoenix, der ihm das helfende
Schwert "aus dem Hut zaubert". In Band III wird
der Kampf und die helfende Gnade ganz ins Innere Harrys verlegt:
Der pubertierende Junge muss sich entscheiden, wie er sich
seinem Gegner gegenüber verhält: Er widersteht der Versuchung,
ihn mit dessen eigenen Waffen zu schlagen, und verschont ihn,
ja vergibt ihm. (III 387) In Band IV schließlich, in dem breit
geschildert wird, wie Harry in die Welt der erwachsenen Männer
initiiert wird, lässt er sich nicht im entscheidenden Moment
entmutigen, sondern nutzt den einzigen Zauberspruch, den er
wirklich beherrscht ("Expelliarmus" IV 689.
692); und auch hier wird gleichsam von oben die Wendung herbeigeführt:
sein Zauberstab wehrt den tödlichen Fluch ab, und unter dem
Gesang des Phoenix (IV 694) verschaffen die toten Opfer Voldemorts
Harry einen rettenden Zeitgewinn ("Priori incantatem").
Theologisch wertvoll sind die erschienenen Bände besonders
auch deshalb, weil sie keinem simplen Happy-end-Schema oder
gar einem unwirklichen Heldentum huldigen, sondern die Wirklichkeit
in ihrer oft grausamen Härte unverkürzt zur Darstellung kommen
lassen. Angesichts der modernen Vergötzung der Gesundheit
und der rein materiellen und vitalen Werte ist die Welt von
Harry Poter erfrischend anders. Personale Werte wie Freundschaft,
Familie, Liebe, Reue, Vergebung, Treue, Hilfsbereitschaft,
Engagement und Ausdauer erweisen sich im konkreten Alltag
von Hogwarts als wichtiger. Der Leser, der in diese Welt eintaucht,
flieht somit nicht schlechthin in ein Reich der Phantasie
um wenigstens dort geboten zu bekommen, was die Verkünder
eines rein diesseitig orientierten Lebenssinns versprechen
und im Werbefernsehen präsentieren , sondern bekommt
reiches Beispiel- und Anschauungsmaterial, um in dieser Welt
menschlich zu bleiben:
Der unseriöse Journalismus der Rita Kimmkorn z.B. wird mit
all seinen üblen Folgen offengelegt; rassistische Niedertracht
wird von Hermine selbst erlitten (II passim und IV 130) und
in mitfühlendem Engagement für die unterdrückten Elfen bekämpft
nicht mit Magie, sondern mit einer Solidaritätskampagne
(IV 236). Falsche Verdächtigungen begleiten den ganzen III.
Band; Harry selbst ist der Lüge auf den Leim gegangen, und
nur Dumbledore und er mit seinen Freunden stoßen zur Wahrheit
durch, ohne indes dem Unschuldigen zu seiner öffentlichen
Rehabilitierung verhelfen zu können. Da nützt ihnen das Zaubern
überhaupt nichts, wie auch sonst in den vielen Intrigen, die
gegen Hauptpersonen gesponnen werden. In Band IV wird
dramatisch geschildert, wie sogar der Zaubereiminister Cornelius
Fudge aufgrund seiner Angst vor Voldemort geistig erblindet
und nicht wahrhaben will, wie nahe die Drohung schon gekommen
ist. Statt seinen Mut zusammenzunehmen, vertraut er auf die
Dementoren, wahrhaft finstere Wesen, die sich im geeigneten
Augenblick auf die Seite Voldemorts schlagen werden. Es ist
abzusehen, dass die Widerstandskraft von Fudge gegen die verstärkte
dunkle Macht zusammenbrechen wird. Wer denkt da nicht an ähnlich
erblindete Politiker, die auf die Macht des Militärs gesetzt
haben, oder gar an Demokraten, die der SA die Legitimation
für ihr unheilvolles Wirken gaben?
Obwohl Harry Potter auf eine dunkle Weise von der dunklen
Kraft Lord Voldemort infiziert zu sein scheint und wie dieser
Parsel (Schlangensprache) spricht (II 343) , kommt er nicht
ins Haus der Slytherins, sondern nach Gryffindor. Dumbledore
erklärt ihm den Grund: Der Sprechende Hut hat Harrys Willen
erkannt und berücksichtigt; dieser steht höher als die Veranlagung
der Natur: "Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es
unsere Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich
sind." (II 343) Das ist ebenfalls eine tiefe christliche
Einsicht, die in gewissen modernen Wissenschaften, aber auch
in alltäglichen (Vor)Urteilen vergessen ist.
Wenn behauptet wird, dass die in den Flüchen allegorisierte
Macht des Bösen allzu faszinierend dargestellt wird, so dass
mancher Leser sich insgeheim vom Okkultismus angezogen fühlt,
so ist darauf zu erwidern, dass der Leser selbst mehrfach
eine Läuterung durchmachen muss. So wird z.B. im Band IV faszinierend
geschildert, wie Mad-Eye Moody die "unverzeihlichen Flüche"
verbotenerweise anwendet scheinbar nur zum Besten ,
doch am Ende wird klar, dass dieser Lehrer der schlimmste
Helfer Voldemorts ist. Von daher fällt dann auch Licht auf
die Bosheit seines Tuns, die das schlechte Mittel durch den
angeblich guten Zweck rechtfertigen will.
Da wir nicht wissen, wie die Story am Ende ausgeht, können
wir natürlich auch noch nicht abschließend urteilen, als wie
wertvoll sich die Lebenshilfe im religiösen Sinn erweist.
Anmerkung: Hat sich J. K. Rowling
selbst als Satanistin bekannt?
Angeblich soll Rowling der London Times gegenüber am 17.
7. 2000 geäußert haben: "Diese Bücher helfen den Kindern
zu verstehen, dass der schwache idiotische Sohn Gottes ein
lebendiger Witz ist, welcher gedemütigt wird, wenn der Feuerregen
kommt."
Mittlerweile ist erwiesen, dass dieses Zitat von der Website
"The Onion" stammt, welche reine Satire schreibt.
Dazu eine eMail des Herausgebers der Zeitung "The Times":
»Danke für Ihre E-Mail wegen des angeblichen Zitats aus
der "London Times", das in einem Artikel in "The
Onion" (
http://www.theonion.com/onion3625/harry_potter.html)
auftaucht.
Wir überprüfen die Angelegenheit, da sie anscheinend bei
einigen Lesern für Verwirrung gesorgt hat, was uns natürlich
nicht gleichgültig ist.
In der Zwischenzeit möchte ich Sie daran erinnern, dass
"The Onion" als amüsante und witzige Website bekannt
ist, wo frei erfundene Artikel veröffentlicht werden - die
man nicht ernstnehmen darf. Das Zitat, das dort Frau Rowling
und der "Times " zugeschrieben wird, ist - selbstverständlich
- kein echtes Zitat.«
Fragen, Bemerkungen, Kritik? Schreib mir!
(Axel)