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KARL-LEISNER-JUGEND |
Der Gott des Alten Testamentes: Grausam, brutal - christlich?
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Im Zusammenhang mit seiner Kritik an jedem Gottesglauben legt Richard Dawkins ("Der Gotteswahn") auch ein "Psychogramm" des Gottes des Alten Testamentes vor. Demnach ist Gott "die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur, eifersüchtig - und noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger, ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann." (Gotteswahn, S. 45)
Sein Gedankengang ist bestechend einfach: Entweder ist der erste Teil der Bibel wörtlich zu nehmen: Dann wird es schwer für einen demokratischen Zeitgenossen, sämtliche Werte der modernen Gesellschaft zu retten angesichts eines Gottes, der Morde am laufenden Band befiehlt.
Oder das Alte Testament ist nur ein metaphorisches Sammelsurium, in dem nach Belieben all das gestrichen werden kann, was unserem heutigen Verständnis von Moral, Gerechtigkeit und Recht widerspricht. Dann kann aber auch Gott selbst gestrichen werden, wenn es dem Denken des modernen Menschen nicht mehr behagt. Wer einmal anfängt zu streichen und zu deuten, der wird nicht aufhören, bis die Bibel schließlich auf dem gleichen Glaubwürdigkeits-Level rangiert wie die Werke der Gebrüder Grimm.
Diese "Entweder - Oder - Falle" (entweder ist die Bibel unmittelbar Gottes Wort - oder ein Märchenbuch) wird nicht nur von Dawkins und anderen Kritikern der Religion aufgestellt, sondern übrigens auch von den evangelikalen, fundamentalistischen Christen. Beiden Gruppen ist es ein Dorn im Auge, dass die katholische Kirche glaubt, einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen gefunden zu haben - und ihn zudem noch rational begründet.
Die Vertreter des "Entweder-Oder" haben aber auch ein wenig recht. Denn ein Mittelweg braucht ein vernünftiges Fundament. Man kann nicht einfach nur sagen, dass weder der rechte noch der linke Graben zutreffen, die Grenzen der neuen Gattung müssen nicht einfach nur festgelegt werden, sondern müssen sich aus der Natur der Sache ergeben. Es muss sauber, einleuchtend und logisch nachvollziehbar unterschieden werden:
- Die Geschichte des Volkes Israel ist theologisch interpretiert
- Die Theologie des Alten Bundes hat sich entwickelt
- Gott ist ein Pädagoge
Daraus ergeben sich vier Fragen:
- Warum lässt Gott es zu, dass sein Volk sich so benimmt?
- Warum steht so etwas in der Bibel?
- Warum sollten wir so etwas lesen?
- Warum sagt Gott nichts dazu?
"Früher war alles anders ... und alles war besser." Obwohl wir genau wissen, dass dieser Grundsatz noch niemals gestimmt hat (und uns immer heftig wehren, wenn Oma oder Opa mit dieser Phrase mal wieder das goldene Zeitalter ihrer Jugend heraufbeschwören), denken wir immer noch, dass zu den biblischen Zeiten Gott unmittelbarer in der Welt zugegen war, Wunder häufiger geschahen und Gottes Rede deutlicher vernommen wurde.
Dann liegt natürlich der Gedanke nahe, dass die Welt damals auch heiliger war - mit Gott als Hauptakteur. Der Blick ins Alte Testament ernüchtert dann schnell und macht wütend: Wenn Gott doch damals alle Fäden selbst in der Hand hatte, warum ging es dann damals so grausam zu? Was für ein Gott ist das!?!
Aber Wut macht blind - vor allem für die eigenen Argumentationsfehler. Und in diesem Gedankengang (Früher war Gott präsenter - Früher müsste also alles besser gewesen sein - Das war es aber nicht, im Gegenteil! - Also ist Gott kein guter Gott - Gottseidank hält er sich heutzutage zurück!) liegt ein Fehler - bereits im ersten Satz. In den biblischen Zeiten war Gott keineswegs aktiver im Weltgeschehen und Seine Rede eben nicht klarer zu vernehmen. Im Gegenteil.
Sorry. Tatsächlich dürfte die umgekehrte Aussage zutreffender sein: Bei den geschichtlichen Ereignissen im Alten Testament handelt es sich um die ersten Versuche, sich auf Gott einzulassen.
„The First Contact" mit Gott ist wie der erste Funkkontakt in den Anfängen der Radiozeit: Auch wenn Gott damals wie heute seine Sendungen in bester Qualität ausstrahlt - sogar in Stereo, Dolby und 3D - nutzt das alles nichts, wenn die Empfänger zunächst nur der einfachsten Technik, mit instabiler Frequenz und wackeliger Stromversorgung entsprachen. Mittlerweile verfügt das Volk Gottes über modernste Technik (allesamt von Gott geschenkt) - im Lehramt der Kirche, einem ganzen Volk von Propheten und Heiligen, in jedem Getauften und Gefirmten, dem allgemeinen Priestertum.Aber abgesehen vom heute besseren Empfang unterscheidet sich die Zeit im Alten Bunde nicht sonderlich von unserer Gegenwart. Immerhin bezeichnet sich die katholische Kirche gelegentlich als „Volk Gottes" - als Fortsetzung des erwählten Volkes Israel, als „neues Israel". Nur mit dem Unterschied, dass in den moderneren Werken, die über Gottes Wirken handeln, nicht mehr sooft gemordet wird.
Das Alte Testament ist in erster Linie ein Geschichtsbuch über das Volk Israel, über seine Anfänge mit Abraham, Isaak und Jakob und seine oft schrecklichen Erlebnisse im Laufe der Jahrhunderte. Während die unbekannten Schreiber die Geschichte dieses ziemlich kleinen und weltgeschichtlich äußerst unbedeutendem Volkes aufschrieben, haben sie in der Geschichte das Wirken Gottes gesehen - sie haben interpretiert.
Die Zeugen Jehovas und bestimmte evangelikale Gruppen schlagen an dieser Stelle natürlich die Hände über den Kopf zusammen; immerhin hält einer der 5 fundamentalen Sätze (daher auch der ehemalige Name Fundamentalisten für die heutigen Evangelikalen) an der „wörtlichen Inspiration der gesamten Bibel" fest. Demnach ist jedes Wort der gesamten Bibel von Gott selbst diktiert und immer irrtumsfrei. („The Scripture: It is entirely inerrant and sufficient for all Christian life." oder: „The Bible is the Truth, the Whole Truth and Nothing but the Truth"). Diesen Glauben an die absolute Irrtumslosigkeit der Schrift - auch Verbalinspiration genannt - hat die katholische Kirche immer abgelehnt.Dass die Bibel - das Alte und das Neue Testament - eine Interpretation der Wirklichkeit sind, sollte uns nicht verwundern. Denn auch heute noch ist die Geschichtsschreibung - ob im Großen oder im Kleinen - immer auch eine Interpretation.
Das gilt für die Beweggründe, warum ein König einen Krieg anfängt oder ein anderer Frieden schließt genauso wie für die Aussage, ein Wunder sei geschehen. Wer sich lediglich an Fakten halten will, kann kein Historiker sein; Fakten-Fanatiker können übrigens auch niemals Naturwissenschaftler werden. Sie schaffen es allerhöchstens bis zum Buchhalter.Denn was für jede Wirklichkeit gilt, gilt natürlich auch für die religiöse Wirklichkeit. Jedes Ereignis, das als Wunder bezeichnet wird, setzt eine Interpretation der Wirklichkeit voraus (genauso wie der Leugner des Wunders). Jede „Fügung", sogar die anerkannten Wunder in Lourdes (genau genommen bedeutet „Anerkennung" nicht anderes als „offizielle Interpretation") als auch die Wunder des Alten und Neuen Testamentes sind nichts anderes als Interpretationen der Wirklichkeit.
Jede Wirklichkeit muss gedeutet werden - und wird für uns erst zur Wirklichkeit, indem sie gedeutet wird. Das gehört zum Wesen des Menschen dazu, der die Welt in sich nicht nur aufnimmt wie eine Videokamera, sondern sie deutet, begreift und sich erschließt.
Im Roman „Das Jesus-Video" erzählt Andreas Eschenbach von einem Video, das ein Zeitreisender von Jesus aufgenommen hat. Die Reaktionen auf diese kurzen Szenen sind genial geschildert: Die einen Betrachter sind begeistert von der Art und Weise, wie Jesus geht, lächelt und spricht - sie sind zutiefst angerührt. Die anderen Betrachter sind enttäuscht: Sie sehen nur einen Mann, der durch die Gegend geht. Wie langweilig.Interpretationen sind jedoch nicht eindeutig - immer sind unterschiedliche Interpretationen möglich. Um die Wirklichkeit angemessen zu verstehen, brauchen wir einen Vor-Begriff, ein Vor-Verständnis für das Wirkliche - einen Schlüssel.
Das, was die Videokamera aufgenommen hat, sind blinde Informationen. Erst im Betrachter entsteht die Wirklichkeit; wobei es in der Freiheit des Menschen liegt, tiefere oder nur oberflächliche Wirklichkeiten zu sehen.
Der richtige Schlüssel zum Verständnis der Welt und der Wirklichkeit findet sich nicht nur in der Wirklichkeit selbst. Gerade der Blick des Menschen auf die Wirklichkeit ist seit dem Sündenfall getrübt und nicht mehr eindeutig. (Das wäre ja auch blöd - man kann eine Schatztruhe nicht öffnen, wenn der einzige Schlüssel dadrin eingeschlossen ist; das kann Dir jeder Pirat bestätigen).
Der richtige Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit kommt von Gott. Und zwar auch per Funk - um im Bild des Radio-Sender-Empfänger-Problems zu bleiben. Somit sind wir bei einem Gedanken, der ganz wesentlich ist zum Verständnis des Alten Testamentes: Das, was Gott uns zu sagen hat, wird zunehmend deutlicher, je mehr wir von Gott verstehen.
Das heißt: Die Empfänger (die Menschen des Alten Bundes) müssen erst nach und nach (im Laufe der Jahrhunderte) auf die richtigen Frequenz eingestellt werden (die richtige Interpretation der Wirklichkeit). Haben sie einmal die richtige Frequenz, können sie anfangen, mit dem dort empfangen Wissen auch bessere Empfänger zu bauen.
Oder, um es nun endlich in Klartext zu formulieren: Über die gesamte Zeitspanne des Alten Testamentes finden wir eine sich entwickelnde Theologie. Sowohl beim Gedanken an Gott (dem Monotheismus), an das Leben nach dem Tod, der Bedeutung der Gebote, der Rituale und des Gottesdienstes bis hin zur Moral - alles das ist nicht von Anfang an fertig und klar gewesen, sondern brauchte viele Jahrhunderte der Reifung und des Lernens. (Schau zum Beispiel in die Katechese zum Leben nach dem Tod - da findet sich ein kleiner Überblick über die Entwicklung dieses Glaubens im Alten Testament).
Das Alte Testament ist ein Verlaufs-, kein Ergebnis-Protokoll
Das Alte Testament zeichnet nun diese Entwicklung nach - und liefert uns nicht einfach nur die Ergebnisse. Wer sich allein für das Fazit dieses Dramas zwischen Gott und Menschen interessiert, kann gerne in einem Katechismus oder Dogmatik nachschlagen. Dort findet sich die Quintessenz der mühseligen Geschichte - aber, mal ehrlich, die "Moral von der Geschicht" ist am besten zu vermitteln, wenn es vorher auch eine "Geschichte" zu erleben gab. Die Moral allein ist blutleer. Dazu später mehr.
Entwicklung - aber keine Evolution
Wenn davon die Rede ist, dass das Alte Testament eine Entwicklung des Gottesglaubens darstellt, hören einige sofort "Evolution" heraus - und vermuten, dass sich da angeblich etwas von alleine entwickelt hat. Ganz ohne Gott.
Das ist natürlich nicht gemeint. Die Bibel ist das Buch Gottes. Und Gott ist der Handelnde. Deshalb ist es auch schöner, nicht von einer Entwicklung der jüdischen Religion zu reden, sondern von der göttlichen Erziehung. Auch dazu später mehr.
Kehren wir zurück zur "Entweder - Oder - Falle". Mit dem Entwicklungsgedanken haben wir klargemacht, dass Gott zwar irrtumsfrei sendet, aber nicht jeder Gedanke, der im Alten Testament aufgeschrieben ist, tatsächlich endgültig wahr sein muss. Es gibt tatsächlich Falsches in der Bibel!
Okay, soviel also zum rechten Graben; wir nehmen die Bibel nicht wörtlich. Sind wir jetzt im linken Graben gelandet? - Haben wir nun aus der Bibel ein Märchen- oder Bilderbuch gemacht?
Nein. Denn wer einmal die richtige Frequenz gefunden hat, erkennt, dass Gott schon von Anfang an Richtiges gesendet hat, der Mensch aber damals nur unscharf verstanden hat. Was in der Bibel steht, sind aber ausschließlich die Funksprüche, denen tatsächlich und sicher das Wort Gottes zugrunde liegt, wenn auch mit Rauschen überlagert.
Die Bibel ist eben nicht ein Buch der Menschen, die in allen Dingen und hinter jedem Busch (oder in jedem Busch) Gott gesehen haben. Paranoiden Gott-Fanatikern, die in jedem Donnergrollen eine Botschaft Gottes vermuten, ist der Zugang zur Bibel ebenso verwehrt geblieben wie tumben Dorftrotteln, die durch die Feuersäule Gottes wandeln können ohne etwas zu bemerken - außer vielleicht, dass es „ganz schön warm war".Es gibt einen Unterschied zwischen „schlechtem Empfang" und rosa Rauschen. Die Bibel ist verrauscht - okay. Aber der göttliche Sinn ist erkennbar - für den, der nicht (so wie z.B. Dawkins) lieber Störsingnale katalogisiert, anstatt den Sinn zu suchen.
Der brenndende Dornbusch
Noch heute stehen wir staunend vor den interpretierten Erfahrungen der alten Bücher. Zum Beispiel eines Mose, der vom brennenden Dornbusch berichtet (Exodus 3,1 - 4,17). Denn in der Botschaft, die Mose erfahren hat, leuchtet mehr auf als nur eine phantastische Deutung eines unbekannten Naturphänomens: Den Namen Gottes, den die Stimme aus dem Dornbusch genannt hat, hätte sich kein Mose und auch sonst kein Mensch ausdenken können - er passte zu keinem der damals bekannten Gottesbilder; zu keinem der jemals ausgedachten Gottheiten. Nein - was immer dort auf dem Sinai geschehen ist: Da hatte Gott seiner Finger im Spiel. Die Aufforderung an die Hebräer, die Ägypter im Vorbeigehen auszuplündern (Ex 3,22), dürfte dann allerdings unter das „Rauschen" fallen. So dachte man damals eben - und so wurde das angeblich unvermeidliche Plündern eben auch Gott in den Mund gelegt.
Jiftach
Natürlich ist das Versprechen Jiftachs (Das Buch der Richter, 11, 30-40), dem Herrn für seinen Sieg etwas zu opfern, keine Entschuldigung für die Hinrichtung seiner eigenen Tochter. Da hat Jiftach etwas falsch verstanden. Aber im Hintergrund dieser falschen Gewichtung der Werte (einer absolut falschen Gewichtung!) steht doch etwas Heiliges: Ein Versprechen Gott gegenüber darf nicht leichtfertig gebrochen werden.
Der Todesengel in Ägypten
Oder nehmen wir einmal die letzte der zehn Plagen in Ägypten (Ex 7,1 - 11,10). Wir erinnern uns: Die versklavten Hebräer wollen gerne aus Ägypten auswandern und schicken deshalb Mose als Anführer zum Pharao. Der Pharao hat aber wenig Interesse daran, die preiswerten Arbeiter zu entlassen. Da schickt Gott nach und nach zehn Plagen. Bei der zehnten Plage kommt es dann zum Höhepunkt: Der „Todesengel" zieht durch Ägypten und erschlägt alle männlichen Erstgeborenen - bei Menschen und beim Vieh. Nur bei denen, die ihre Türpfosten mit dem Blut eines Lammes bestrichen haben, geht der Engel vorbei und lässt die dortigen Hausbewohner am Leben.
Es drängt sich dem modernen Leser schon die unvermeidliche Frage auf, was denn die männlichen Erstgeborenen der Ägypter dafür können, dass der Pharao so ein Dickkopf ist? Warum schickt Gott seinen Engel, um ausgerechnet Kinder und Säuglinge zu töten?
Aber bedenken wir: Es handelt sich um eine geschichtliche Interpretation. Der Todesengel ist häufig ein Symbol für eine Krankheit oder ein Unglück - zum Beispiel auch für die Pest (so in 2 Sam 24, 10-17). Davon waren offensichtlich nur die Ägypter betroffen - die Hebräer nicht. Es handelt sich also schon um ein Wunder - aber eben nicht um eine Gräueltat, sondern um eine Rettungstat Gottes. Wenn Gott angesichts einer Krankheit, der Pest oder eine Naturkatastrophe Leben rettet, ist er deshalb nicht der Mörder der übrigen Opfer.
Ein letztes Beispiel: Das mosaische Gesetz
Das Bild vom schlechtem Empfang und dem Rauschen erklärt vor allem das mosaische Gesetz. Während wir den Zehn Geboten noch einen ungetrübten göttlichen Ursprung zubilligen können - denn immerhin handelt es sich augenscheinlich um überzeitliche, allgemeingültige Grundsätze -, fällt es uns deutlich schwerer, die anderen Gebote aus dem Buch Exodus, Leviticus und Deuteronomium (2., 3. u. 5. Buch Mose) zu akzeptieren. Einige der Gebote scheinen uns geradezu widergöttlich zu sein, wenn zum Beispiel die Sklavenhaltung erlaubt wird oder jemand für Nichtigkeiten mit dem Tod bestraft werden soll.
Dabei liefert uns Jesus selbst schon den Schlüssel zu diesem Gesetz. In Markus 10, 4 fragen die Pharisäer: "Mose hat erlaubt, eine Scheidungsurkunde auszustellen und (die Frau) aus der Ehe zu entlassen." Jesus entgegnete ihnen: "Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben." - Mose hat Euch dieses Gebot gegeben, heißt es dort und an anderen Stellen. Auch die Pharisäer zitieren das Gesetz mit der Einleitung: "Mose hat gesagt..." - Mt 22,24) Es handelt sich eben nur um das mosaische Gesetz - das Mose zwar im Hinhören auf Gottes ewiges Gesetz verfasst hat, das durch die damaligen Umstände, verhärtete Traditionen oder Verrohung der Sitten von einem kräftigen Rauschen überlagert wurde. Sinnvolle Hygiene-Vorschriften (rein-unrein) werden zu göttlichen Geboten und vermengen sich mit Irrtümern in der Tierordnung (der Hase sei ein Wiederkäuer - Lev 11,3 und Dtn 14,7), kluge und vernünftige Anordnungen stehen neben skurrilen Einzelproblemen... (besonders skurril: Dtn 25,11f) ...naja. Gerade in der Moral ist das vorgöttliche Rauschen besonders intensiv und verhängnisvoll.
Aber dennoch scheint Mose all diese Gebote aus einer echten Gottesschau heraus entwickelt zu haben. Denn in allem ist ein Maß an Gerechtigkeit zu spüren, ein Ethos, das in der damaligen Zeit ohne Parallele war.
Gott ist heilig. Aber das gilt nicht für sein Volk.
Zumindest, wenn wir unter "Heiligkeit" ein Mindestmaß an Vollkommenheit verstehen. Oder zumindest ein gewisses Streben nach Vollkommenheit.
Es gab zwar einmal eine Zeit, als die Menschen genauso heilig waren, wie Gott es sich wünscht - aber dieser paradiesische Zustand ist schon im ersten Kapitel der Bibel zerstört worden. Wir haben das Paradies verloren, und nun gibt es nur noch ein Ziel der Weltgeschichte: Die Menschen wieder zurückzuführen zur ursprünglichen Heiligkeit.
Aber das bedeutet gerade, dass Gott sich mit Leuten einlassen muss, die eben nicht Gottes Wege gehen, nicht denken wie er und nicht begreifen, was gut und schön ist.
Natürlich können wir Gott vorwerfen, er mache gemeinsame Sache einem Volk, das sich nicht sonderlich unterscheidet von einer Verbrecherbande. Aber wenn wir Gott kritisieren, dass er sich mit Sündern einlässt, dann sind wir auch nicht besser als die Pharisäer, die Jesus genau das vorgeworfen haben, als er mit Zöllnern, Prostituierten und Sündern zusammen gegessen hat. Seine Antwort war ganz klar: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken". (Lk 5,31)
Ja, das Volk Gottes besteht aus Sündern, die ziemlich viele ungöttliche Dinge tun. Und Gott muss nun damit leben, dass wir Ihm genau das vorwerfen: Er hat sich ein Volk von Brutalos erwählt. Aber Gott ist bereit, sich die Finger schmutzig zu machen - zumindest nimmt er diesen Vorwurf in kauf.
Aber dieser Vorwurf ist unfair. Natürlich kann man dem Gott des Alten Testamentes das gleiche vorwerfen wie Jesus, der mit den Sündern isst. Dass er sich lieber fern halten soll von diesem Pack. Aber, das lehrt uns jede Pädagogik: Man kann nur die Menschen ändern, die man liebt und der Nähe man sucht. Und Gott hat beschlossen, auch den Sünder zu lieben. Gott ist eben der Ur-Pädagoge.
In der Rock-Oper "Jesus Christ Superstar" wirft interessanterweise Judas genau das Jesus vor, nachdem dieser sich von der Sünderin hat Füße und Haare salben lassen: "It seemed to me a strange thing - mystifying - how a man like you can waste his time with women of her kind. Yes, I can understand that she amuses - but to let her kiss you, stroke your hair, is hardly in your line. It's not that I object to her profession; but it doesn't fit well with what you teach and say."Außerdem würden wir uns mit dem Grundsatz „Lieber Gott, lass Dich niemals mit einem Sünder ein, dass ruiniert Deinen Ruf!" auch unserer eigenen Gottesbegegnungen berauben. Denn wir sind auch nicht besser, wir sind auch Sünder, wir sind auch ein verlogenes Pack. Vielleicht verbinden die Gott-Kritiker wie Dawkins mit dem Aufruf „Lass Dich nicht mit Sündern ein!" die Hoffnung, dass Gott sie auch selbst in Ruhe lässt, damit sie weiter darüber schimpfen können, dass Gott einfach ein schmieriger Typ ist, mit dem sie zumindest nichts zu tun haben wollen. Gottseidank hält sich Gott nicht an diese pharisäische Bigotterie.
Dass Gott sich entgegen unseren Rat trotzdem von Anfang an mit uns sündigen Menschen einlässt, bedeutet nicht, dass er auch die Sünde gutheißt. Er stimmt weder den Bosheiten der 12 Söhne des Jakobs zu (z.B. Gen 34), noch dem, was zur Tätigkeit der Prostituierten gehört, wenn Jesus mit ihnen gemeinsam isst. Er liebt die Sünder - nicht das, was sie tun.
Aber er brandmarkt nicht als erstes die Sünde - sondern knüpft zunächst eine Beziehung zum Sünder. Denn Gott ist kein Hau-drauf-Pädagoge, der uns durch Strafe zur Einsicht bringen will. Sondern durch Liebe.
Beschönigen wir also nichts: Gott lässt sich mit einem Volk von Sündern ein, in dem es alles gibt, was es eigentlich nicht geben sollte: Schlägertypen, Kriegstreiber, selbsternannte Rächer und notgeile Perverslinge. Gott erwählt sich ein Volk von Idioten.
Damit sich an dieser Stelle nicht die Juden empören über diese despektierliche Bemerkung: Auch die katholische Kirche bezeichnet sich als das „Volk Gottes", und wir sind - in dieser Hinsicht - immer noch ziemliche Idioten.Aber er führt dieses Volk. Mag sein, dass wir sein pädagogisches Konzept nicht immer verstehen. Aber solange Gott nicht Böses gutheißt und Gutes verurteilt, solange bezieht sich unser Unverständnis Gott gegenüber nur auf seine pädagogische Methode. Und (das weiß jeder Lehrer) in der Pädagogik gehen die Meinungen eben auseinander.
So überrascht es auch nicht, dass alle Personen des Alten Bundes Dreck am Stecken haben - eine schon sehr bemerkenswerte Tatsache. Während andere Völker in ihren Sagen und Legenden reine Lichtgestalten erfinden, bleibt die Bibel realistischer - und dem eigentlichen Anliegen Gottes treu. Denn auch die „Auserwählten Gottes", die berufen sind, das Volk näher zu Gott zu führen, sind Teil des Volkes - und nicht etwas Teil der göttlichen Welt.
Teil der göttlichen Welt sind nur die Engel, die hin und wieder Botschaften überbringen und dabei in die irdische Halbwelt eintauchen müssen. Die Engel sind tatsächlich frei von jeder Schuld und moralischer Verirrung. Aber - und das mag überraschen, wenn man darüber nachdenkt - im Grunde spielen sie keine nennenswerte Rolle in der Geschichte. Sie überbringen Botschaften oder geben Hinweise. Ansonsten überlassen sie es den Menschen, Entscheidungen zu fällen.
Jakob betrügt seinen Bruder Esau um sein Erbe und übertrifft sogar noch seinen hinterhältigen Onkel Laban an Verschlagenheit; Mose beginnt seine Karriere als Befreier des Volkes mit einem heimtückischen Mord; David, der König des goldenen Zeitalters, raubt einem einfachen Soldaten zuerst seine Frau und dann dessen Leben. Abraham zweifelt an der Verheißung Gottes, Sarah lacht Gott aus, Lot ist kurz davor, seine eigenen Töchter dem sexuellen Missbrauch freizugeben - und so weiter.
Sie alle haben Dreck am Stecken, Leichen im Keller und sind offensichtlich Sünder. Mal weist Gott ausdrücklich darauf hin, mal wird es nur erwähnt. Aber beschönigt wird es niemals. Denn Gott und sein Volk wissen, woran sie sind: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns." (1 Joh 1,8)
Haben wirklich alle Personen des AT etwas auf dem Kerbholz? Das scheint nicht für die Propheten zu gelten, von denen keine Sünde bekannt ist. Aber das ist kein Wunder: Vom Leben der Propheten ist überhaupt nicht viel bekannt, neben ihren großen Reden finden sich dort nur wenige biographische Details. Seien wir realistisch: Sie waren vermutlich auch keine Engel.
Wir machen heute den Fehler, und vergleichen die Moral des Alten Volkes mit unserem Ethos der modernen Gesellschaft. Das wäre in etwa so, als wenn wir die Moral von Straßenkindern mit der von Harvard-Absolventen vergleichen.
Dann kommen wir schnell zum Schluss, dass alle Straßenkinder moralische Versager sind. Allerdings bleibt uns bei dieser holzschnittartigen Betrachtung verborgen, dass sich vielleicht innerhalb der Slums einzelne Kinder hervortun und sich weit über ihre kriminelle Umgebung hinauswachsen.
Aber auch, wenn die Moral im alten Israel vielleicht höher war als in der restlichen damaligen Welt (was noch zu erweisen wäre), dürfen wir auch nicht der Versuchung erliegen, alles und jedes in der Bibel zu rechtfertigen.
Im eigentlich ganz gutem Buch von Lee Strobel (Der Fall Jesus) versucht der Autor zum Beispiel, jede Stelle im Alten und Neuen Testament in ihrer Korrektheit und Göttlichkeit zu rechtfertigen - ein m. E. aussichtsloses Unterfangen. So ist die etwas seltsame Stelle (2 Kön 2,23-25), in der der Prophet Elischa von "jungen Burschen" verspottet wird ("Kahlkopf! Kahlkopf!") und daraufhin 42 der Burschen von zwei Bären zerissen werden, für Strobel eine ganz legitime Reaktion Gottes; denn die "jungen Burschen" seien in Wirklichkeit Kriminelle gewesen und hätten es auf das Leben des Propheten abgesehen.
Ich würde dagegen sagen, dass man nicht den Text so verbiegen muss, dass spottenden Kindern zu gefährliche Kriminelle aufgeblasen werden müssen; vielleicht sind tatsächlich in der damaligen Zeit 42 Kinder von einem Bären getötet worden. Diese Katastrophe wurde dann im Zusammenhang mit der Verspottung des Propheten als Wirken Gottes interpretiert ("Wer dem Propheten Gottes hilft, wird belohnt; wer seiner Mission im Wege steht, wird bestraft.").
Ein Beispiel: Die Landnahme Israels
Ja, wir müssen uns davor hüten, das Verhalten des Volkes Israel voreilig von allen Vorwürfen reinzuwaschen und damit dann unser eigenes Verhalten zu rechtfertigen. Besonders oft geschieht das bei der sogenannte „Landnahme":
Nachdem Mose das Volk der Hebräer aus Ägypten herausgeführt hat, beginnt es nach langen, 40-jährigem, entbehrungsreichen Nomadentum unter der Leitung von Generalfeldmarschall Joshua das Land Kanaan zu besiedeln.Wer die „Landnahme Kanaans" so schlicht deutet, öffnet damit natürlich Tor und Tür für jede angeblich göttlich gerechtfertigte Gewalttat. Während Kriegsverbrechen im Buch Exodus (dem 2. Buch Mose) noch auf ausdrückliche Anweisung Gottes geschieht, reichen späteren Generationen nur der Gedanke an „den Fortschritt", „den Bedürfnissen des Volkes" oder „den Gesetzen der Revolution", und plötzlich scheint alles erlaubt.
Dummerweise wohnen da schon Leute, die also vertrieben werden müssen - versklavt und im Zweifelsfall auch niedergemacht. „Nicht so schlimm", sagen sich einige, „das Land hat Gott nunmal den Hebräern versprochen. Wer sich der göttlichen Enteignung widersetzt, muss mit Ärger rechnen" So etwas nennt man Pech - oder Kollateralschaden.
Tatsächlich ist die Landnahme Kanaans durch das jüdische Volk keine Ruhmestat. Allerdings auch nicht das Verbrechen, für das wir es heute halten: Denn es gab in der damaligen Zeit kein Recht einer weltlichen Macht auf dauerhafte Existenz - im Gegenteil, Regierungen und Machthaber wechselten sich munter ab; und wenn eine fremde Macht das Zepter der Herrschaft übernahm, war ein solcher Machtwechsel nichts Ungewöhnliches - auch nicht, wenn es sich bei den Besatzern um ein aus ägyptischer Sklaverei geflohenes Völkchen handelte.
Auch, dass die Übernahme der Macht nicht gewaltfrei ablief, ist kein ungewöhnliches Phänomen. Erbfolgekriege waren bis in die Neuzeit an der Tagesordnung und schienen (sogar bis vor wenigen Jahren) eine Art Naturgesetz zu sein. Meistens waren die Leidtragenden dieser Streitigkeiten zunächst die Machthaber selbst (mit ihrem Hofgefolge und dem Militär); aber leider - allzuoft - musste aber auch das Volk unter diesen Kriegen leiden.
Aber bei der Landnahme kam es nicht nur zu Machtkämpfen, sondern auch zum Völkermord und zu „ethnischen Säuberungen" (ein Begriff, der eine grausame Wirklichkeit durch eine technische Vokabel verhüllt). Und das war damals wie heute nicht entschuldbar: Ein Verbrechen auch gegen Gott. Und das war es zu jeder Zeit.
Was ist also zur "Landnahme" zu sagen? Eigentlich nicht viel. Auch wenn die Ureinwohner Kanaans keine Zuckerbäcker waren: Das, was an Verbrechen während der Landnahme durch die Hebräer geschah, ist nicht nur ein Verbrechen an den unschuldigen Opfern, sondern auch ein Verbrechen gegen Gott. Dass Gott ihnen selbst dieses gelobte Land versprochen hat, ist keine Rechtfertigung für das, was angeblich durch diesen Auftrag legitimiert wurde.
Aber auf der anderen Seite war die Welt damals so: Keiner gönnte dem anderen etwas, alles wurde nur mit Waffengewalt ausgetragen. Vergleichen wir es mit dem Leben der Straßenkinder in Brasilien: Dass sie von Diebstahl, Einbruch und Raub leben, ist nicht gut. Aber es ist nicht einfach, manchmal unmöglich, sich diesen Gesetzmäßigkeiten zu entziehen - ohne dabei unterzugehen. Zumindest glauben das die meisten Straßenkinder, und offensichtlich haben es auch die Krieger Israels damals als gottgegeben hingenommen.
Gute Frage. Aber eine Frage, die sich nicht allein auf die biblische Welt bezieht, sondern auf jedes leidbehaftete Ereignis der Weltgeschichte. Es ist die Frage nach dem Leid schlechthin - die sogenannte "Theodizee-Frage".
Natürlich kann man die Frage eingrenzen und sagen, dass das Leid nun mal Bestandteil der Welt sei - aber in der Bibel habe Verhalten, das Leid verursacht, nichts zu suchen. Denn die Bibel sei doch Gottes Buch! Konsequent weitergeführt heißt es dann für das neue Volk Gottes: "Mag sein, dass eine Welt ohne Leid einfach nicht existiert. Aber wenn es sich um die Kirche Gottes handelt - um Priester, Bischöfe oder den Papst - dann muss Gott doch verhindern, dass diese schlechte Menschen sind!"
Aber das wäre sehr blauäugig. In jedem Dienst, zu dem Gott ruft und beruft, wird die Freiheit des Menschen bewahrt - nicht ausgeschaltet. Was wäre das für ein Priester, der durch göttliche Verfügung nicht mehr sündigen kann! Das wäre eine Marionette. Und sicherlich Gottes unwürdig.
Und das gilt auch für das Alte Testament, für das biblische Volk Gottes.
Aber Gott greift dennoch ein; sowohl in die biblische Geschichte als auch in die Kirchengeschichte. Aber nicht, um bei jeder Gewaltanwendung ein himmlisches "Stopp!" zu rufen. Sondern er greift ein, um die Menschen zu jeder Zeit dazu zu führen, von sich aus auf Gewalt zu verzichten. Aus bösen Menschen - in aller Freiheit - gute Menschen zu machen. Wenn böse Menschen sich dem verschließen - dann kommt Gott an seine sich selbst gesetzten Grenze: Die menschliche Freiheit.
Nochmal, ganz wichtig: Gott greift nicht ein, um moralisches Fehlverhalten zu korrigieren. Sondern er greift so ein, um uns moralisches Gut-Verhalten, ja, sogar Gut-Sein zu ermöglichen. Wenn auch mit viel Geduld und Spucke. Aus dem Nicht-Eingreifen Gottes (im ersten und allen späteren Sündenfällen) zu schließen, dass Gott all diese Dinge gutheißt und vielleicht sogar der jeweilige Verursacher ist, verkennt die Freiheit dieser Welt und die Unabhängigkeit Gottes.
Nun, auch diese Frage ist berechtigt. Wenn das Volk Abrahams zunächst ein ebenso verwahrlostes und unmoralisches Volk gewesen ist wie alle anderen Völker der Urzeit, dann gibt es auch keinen Grund, darüber ein heiliges Buch zu verfassen. Warum wurde es dennoch geschrieben?
Weil es in der Bibel in erster Linie um Gott und Sein pädagogisches Wirken geht.
Das "bibliogenetische" Grundgesetz
Ernst Haeckel hat in der Biologie ein (sehr zweifelhaftes) Gesetz aufgestellt, das "Biogenetische Grundgesetz": "Jede Ontogenese ist eine verkürzte Phylogenese". Damit meinte Haeckel, dass in der Entwicklung des einzelnen Menschen sich die gesamte Evolutionsgeschichte bis zur Entstehung des Menschen wiederholt. Der kleine Menschenembryo sei zwischendurch ein Fisch mit Kiemen, bevor er dann irgendwann einmal Mensch wird.
Nun, die Biologen sollen sich mit dem Wahrheitsgehalt dieser Regel selbst auseinandersetzen. Aber in der Anwendung auf die Bibel könnte man es als „bibliogenetische Grundregel" formulieren: "Viele Heiligengeschichten sind verkürzte Heilsgeschichte".
Das bedeutet, dass wir in den Irrungen und Wirrungen des Volkes Israel, dass sich durch den Pädagogen Gott mühsam wieder mit dem Schöpfer anfreundet und dabei ziemlich viel Schaden anrichtet, auch unseren eigenen Weg zurück zu Gott erkennen können.
Wer das Alte Testament so liest, kann in der Geschichte des Volkes Israel seine eigene Geschichte erkennen. Vor allem aber kann ein einfühlsamer Leser im Alten Testament wiedererkennen, wie Gott sich auch in dessen Leben abmüht.
Markion hielt nicht viel vom Alten Testament und hätte diese Altlast am liebsten im neu entstandenen christlichen Glauben ausgemerzt. Staaten oder Firmen machen das gerne: Sie lösen sich auf und gründen sich neu; nehmen einen neuen Namen an und weigern sich standhaft, die Verantwortung für das zu übernehmen, was unter alter Flagge und Namen zuvor verbrochen wurde.
Die Kirche hat ein solches Verhalten immer abgelehnt, mit dem Effekt, dass ihr heute noch die Hexenverbrennung, die Inquistion, die Kreuzzüge und die Grausamkeiten des Alten Testamentes vorgeworfen werden. Andere christliche Konfessionen oder pseudo-christlichen Sekten haben es da oft einfacher - die Zeugen Jehovas macht keiner für die Religionskriege im 17. Jahrhundert verantwortlich.
Aber die Kirche steht bewusst zu ihren Fehlern und auch zum Alten Testament. Aus guten Gründen:
- Wenn wir leugnen, dass wir eine Kirche von Sünder sind, dann verhöhnen wir letztlich Jesus, der für diese (nicht vorhandenen Sünden?!?) gestorben ist. (1 Joh 1,8-10)
- Wer leugnet, dass sich das (alte und neue) Volk Gottes auf dem Weg von der Sünde zur Heiligkeit befindet, der leugnet nicht nur die gesamte Heilsgeschichte, sondern auch sein eigenes Unterwegssein.
- Es gehört zum Wesen der Kirche, dass sie ein „Heim für schwer erziehbare Kinder" ist. Würde der Heimleiter behaupten, „in unserem Heim befinden sich nur fertige, wohlerzogene Musterknaben" könnte er den Laden auch gleich dicht machen.
Deshalb ist Markion aus der Kirche in hohem Bogen rausgeflogen (natürlich nur im bildlichen Sinne - es wurde nur die Lehre des Markion verurteilt. Markion selber ist ein Leben lang unbehelligt geblieben); zugleich hat die Kirche damit einem jeden religiös motivierten Anti-Semitismus schon im 3. Jahrhundert den Boden unter den Füßen entzogen.
Tatsächlich ist das Alte Testament unverzichtbar, auch für uns Christen:
- In der Erziehung des Volkes Israel wird deutlich, wohin Gott Sein Volk führen will. Das erkennen wir natürlich nicht aus einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissene Bibelstellen; dazu müssen wir die Entwicklung des Volkes vor Augen haben: Vom primitiven Beachten der Gebote führt Gott sein Volk zur wahren Liebe Gott und den Menschen gegenüber; dem frühen Opferkult begegnet immer wieder die Mahnung: Nicht Opfer, sondern Liebe! Nicht Brandopfer, sondern Gotteserkenntnis!
- In der Geschichte des Volkes Israel sind soviele Vor-Bilder angelegt, die wir zwar erst durch Christus verstehen; umgekehrt lassen uns aber auch diese Vor-Bilder deutlicher verstehen, wer Jesus war und was sein Werk für uns ist.
Ein paar Beispiele? Okay: Anstelle des Opfers Abrahams, der meinte, er solle seinen Sohn Isaak opfern, opfert Jesus, der Sohn Gottes nun sich selbst. - So, wie Mose das Volk durch das rote Meer ins gelobte Land führte, führt uns Christus durch die Taufe ins ewige Leben. - So, wie das Passah-Lamm geschlachtet wurde und durch sein Blut am Türpfosten die Israeliten gerettet wurden, rettet uns Jesus durch sein Blut vor dem Todesengel. - So, wie das ungesäuerte Brot als "Reise-Speise" für den Wüstenzug diente, stärkt uns der Leib Christi für die Reise durch diese Welt.Es gab früher (bei den Kirchenvätern in den ersten Jahrhunderten) eine wunderbare Tradition, aus den Ereignissen des Alten Testamentes Parallelen zum Neuen Testament zu ziehen. Okay - manchmal wirkten diese Parallelen auch an den Haaren herbeigezogen. Aber vieles ist so schön schlüssig und erhellend, dass es wirklich schade ist, dass wir diese Tradition haben einschlafen lassen. Papst Benedikt hat versucht, diesen Blick auf das Ganze der Bibel in seinem Buch "Jesus von Nazareth" wieder zu erneuern.
- In der Erziehungsgeschichte Gottes werden "rote Fäden" sichtbar, die nicht nur das Neue Testament erhellen, sondern uns auch vieles verstehen lassen, was in unserer Gegenwart geschieht. Besonders hilfreich sind hier die Prophetenbücher, die zunächst dem damaligen Volk Israel den Blick auf die große Zukunft eröffnen sollte; aber diese Zukunft gilt ja auch für uns!
Kehren wir noch ein letztes Mal zum Vorwurf zurück, wir Katholiken hätten mit dem Gedanken, die Bibel sei nicht wörtlich zu verstehen, einer x-beliebigen Inerpretation der Bibel Tür und Tor geöffnet und nun kann jeder die Bibel verstehen, wie er will.
Tatsächlich hat es im katholischen Raum die seltsamsten Bibelauslegungen gegeben. Von der marxistischen Bibelauslegung über die tiefenpsychologische Deutung der Bibel durch Eugen Drewermann hat es wirklich Modelle gegeben, die auch den letzten Raum für Gottes Wirken gestrichen haben.
Aber zu einem Grundzug des Katholischen gehört eben auch der Gedanke, dass das letzte Wort über die Auslegung der Bibel beim Lehramt der Kirche liegt. Nicht umsonst steht ausgerechnet im zweiten Brief des ersten Papstes die eindringliche Mahnung: "Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet." (2 Petr 1, 20-21) Zu dieser Aufgabe des Lehramtes findest Du mehr in dieser Katechese.
Viele der Sünden des Volkes oder Einzelner werden von Gott innerhalb der jeweiligen Geschichten schon beim Namen genannt - und teilweise auch sofort unter Strafe gestellt. An anderen Stellen jedoch geschieht Unfassbares - und der biblische Erzähler geht darüber ohne ein einziges Wort der Wertung hinweg. Warum sagt Gott nichts dazu?
Nun, zum Teil liegt das daran, dass die eigentliche Sünde von den Menschen damals gar nicht richtig erkannt wurde - weil sie für das sie kritisierende Wort Gottes gar nicht empfänglich waren.
Wenn zum Beispiel der Gottesmann Samuel dem König Saul vor dem Kampf gegen die Amalektiter aufträgt: "Schone das Volk nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!" (1 Sam 15,3) und nachher sauer wird, weil Saul die Schafe und Rinder hat Leben lassen (1 Sam 15,14), um sie als Brandopfer darzubringen, dann sträuben sich uns die Haare... Gott wird sauer, weil Schafe und Ochsen leben bleiben, aber kümmert sich nicht um hingemetzelte Säuglinge!!!???Zum anderen Teil aber ist es nicht die Aufgabe der Geschichtsbücher, Moral zu predigen, sondern der Job der Propheten. Deshalb müssen die Prophetenbücher im Zusammenhang mit den jeweiligen geschichtlichen Ereignissen gelesen werden; dann erkennen wir, dass Gott sehr wohl deftige Kritik übt an der Moral seines Volkes. Und - das soll nicht verschwiegen werden - die moralischen Vorstellungen, Grundsätze und Anforderungen der Propheten sind der damaligen Welt weit voraus - und manchmal sogar der heutigen Welt überlegen.
Aber bedenken wir: Es gehörte für die damalige Kriegsführung (leider) dazu, dass die Besiegten ausgerottet wurden; und offensichtlich glaubten die damaligen Israeliten (fälschlicherweise), dass Gott das ebenso sieht. Für die kritisierende Stimme Gottes an dieser blutberauschten Kriegsführung gab es einfach noch kein Ohr.
Bevor die blutrünstigen Kriegsherren Isreals das erkannten, mussten sie erst einmal etwas Grundlegenderes lernen: "Samuel aber sagte: Hat der Herr an Brandopfern und Schlachtopfern das gleiche Gefallen wie am Gehorsam gegenüber der Stimme des Herrn? Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern!" (1 Sam 15,22) Erst, wenn das Volk lernt, hinzuhören, wird es auch bereit sein, Gottes Gebot der Nächsten- und Feindesliebe zu begreifen.
Wenn irgendjemand auf den Gedanken kommt, das Alte Testament habe nur einen Kriegsgott und keinen Gott der Liebe, der hat offensichtlich noch nicht in den Prophetenbüchern gelesen. Denn dort wird nicht nur Kritik an den moralischen Missständen des Volkes geübt, sondern gleichzeitig ein Gottesbild vermittelt, das sämtliche Religionen revolutionierte. Lest selbst nach. Mit Gänsehautfaktor!
Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten.
Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir weg.
Sie opferten den Baalen und brachten den Götterbildern Rauchopfer dar.
Ich war es, der Efraim gehen lehrte, ich nahm ihn auf meine Arme.
Sie aber haben nicht erkannt, dass ich sie heilen wollte.
Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich,
mit den Ketten der Liebe.
Ich war da für sie wie die Eltern, die den Säugling an ihre Wangen heben.
Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.
Doch mein Volk verharrt in der Treulosigkeit; sie rufen zu Baal, doch er hilft ihnen nicht auf.
Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich aufgeben, Israel?
Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf.
Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken
und Efraim nicht noch einmal vernichten.
Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte.
Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns.
(Hosea 11)