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KARL-LEISNER-JUGEND |
Kurze Anmerkungen zu Peter Singer
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Lassen wir zunächst Peter Singer selbst zu Wort kommen. In seiner "Praktischen Ethik" (Reclam, Stuttgart 1994) heißt es auf den Seiten 115-122:
Weshalb ist Töten Unrecht?
Hier ist die Frage angebracht, was wir mit Begriffen wie »menschliches Leben« und »menschliches Wesen« meinen. Diese Begriffe spielen die Hauptrolle in Debatten etwa über die Abtreibung. »Ist der Fötus bereits ein menschliches Wesen?« gilt häufig als die wesentlichste Frage in der Abtreibungsdebatte; aber nur eine sorgfältige Prüfung dieser Begriffe ermöglicht Antworten auf solche Fragen.
Der Ausdruck »menschliches Wesen«.. kann eine genaue Bedeutung haben und zum Beispiel als Äquivalent zu »Mitglied der Spezies Homo sapiens« verwendet werden. Ob ein Wesen Mitglied einer bestimmten Spezies ist, lässt sich wissenschaftlich bestimmen durch die Untersuchung der Beschaffenheit der Chromosomen in den Zellen lebender Organismen. Legt man diese Bedeutung zugrunde, so besteht kein Zweifel, dass ein von menschlichen Eltern gezeugter Fötus vom ersten Moment seiner Existenz an ein menschliches Wesen ist; und dasselbe trifft zu für das schwerst und unheilbar geistig behinderte menschliche Wesen, ja sogar für einen anenzephalischen Säugling - genau gesagt: einen Säugling ohne Gehirn.
Eine andere Verwendung des Begriffs »menschlich« wurde von Joseph Fletcher vorgeschlagen, einem protestantischen Theologen, der viel über moralische Probleme publiziert hat. Fletcher hat eine Liste mit »Indikatoren des Menschseins« aufgestellt, die folgendes umfasst: Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier. Diese Bedeutung des Begriffs haben wir vor Augen, wenn wir von jemand sagen, er sei ein »wirklich menschliches Wesen« oder zeige »wahrhaft menschliche Eigenschaften«. Damit meinen wir natürlich nicht, dass die Person der Spezies Homo sapiens angehört, was eine biologische Tatsache ist und kaum in Zweifel gezogen wird; wir implizieren vielmehr, dass menschliche Wesen gewisse charakteristische Eigenschaften besitzen und dass die betreffende Person sie in einem hohen Maße besitzt.
Diese beiden Bedeutungen von »menschliches Wesen« überschneiden sich, aber sie fallen nicht zusammen. Der Fötus, das schwerst geistig behinderte Kind, selbst das neugeborene Kind - sie alle sind unbestreitbar Mitglieder der Spezies Homo sapiens, aber niemand von ihnen besitzt ein Selbstbewusstsein oder hat einen Sinn für die Zukunft oder die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen. Daher kann die Wahl zwischen den beiden Bedeutungen für unsere Antwort auf Fragen wie »Ist der Fötus ein menschliches Wesen?« einen großen Unterschied ausmachen. (...)
Um nichts zu präjudizieren und um meine Absicht klarzumachen, werde ich den verzwickten Begriff »menschlich« vorübergehend aufgeben und zwei verschiedene Begriffe dafür einsetzen, die den beiden verschiedenen Bedeutungen von »menschlich« entsprechen. Für die erste, biologische Bedeutung werde ich den schwerfälligen, aber präzisen Begriff »Mitglied der Spezies Homo sapiens« verwenden, für die zweite Bedeutung den Begriff »Person«.
Dieser Gebrauch von »Person« kann leider selbst irreführend sein, weil »Person« oft in der Bedeutung von »menschliches Wesen« verwendet wird. Dennoch sind die Begriffe nicht bedeutungsgleich; es könnte eine Person geben, die nicht Mitglied unserer Spezies ist. Es könnte auch Mitglieder unserer Spezies geben, die nicht Personen sind. Das Wort »Person« stammt ursprünglich von lateinisch persona, dem Wort für die Maske, die die Schauspieler im antiken Drama trugen. Indem die Schauspieler eine Maske benützten, zeigten sie an, dass sie eine Rolle spielten. In der Folgezeit erhielt »Person« dann die Bedeutung eines Menschen, der eine Rolle im Leben spielt, eines Handelnden. Nach dem Oxford Dictionary lautet eine der gegenwärtig gebräuchlichen Bedeutungen des Begriffs »Person«: »ein selbstbewusstes oder rationales Wesen«. In diesem Sinn ist der Begriff in der Vergangenheit von untadeligen Philosophen verstanden worden. John Locke definiert eine Person als »ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion besitzt und sich als sich selbst denken kann, als dasselbe denkende Etwas in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten«.
Der Wert des Lebens von Mitgliedern der Spezies Homo sapiens
Nach der durch unser terminologisches Zwischenspiel erfolgten Klärung und auf der Grundlage der Erörterung im vorhergehenden Kapitel können wir uns in diesem Abschnitt sehr kurz fassen. Dass es unrecht ist, einem Wesen Schmerz zuzufügen, kann nicht von seiner Gattungszugehörigkeit abhängen; ebensowenig, dass es unrecht ist, es zu töten. Die biologischen Fakten, an die unsere Spezies gebunden ist, haben keine moralische Bedeutung. Dem Leben unseres Wesens bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil das Lebewesen unserer Spezies angehört, würde uns in dieselbe Position bringen wie die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören.
An dieser Stelle erwähnt Singer - fair wie er ist und einem Philosophen durchaus angemessen - mögliche Gegenargumente. Diese sind durchaus bedenkenswert, weshalb ich sie an dieser Stelle zunächst nicht zitieren möchte, sondern gesondert betrachten werde. Bei Singer heißt es anschließend weiter:
Der Wert des Lebens einer Person
Wir haben die Lehre von der Heiligkeit des Lebens in die beiden getrennten Behauptungen aufgespalten, dass (1) das Leben eines Mitglieds unserer Spezies und (2) das Leben einer Person jeweils einen besonderen Wert darstellt. Wie wir gesehen haben, ist die erste Behauptung unhaltbar. Wie steht es mit der zweiten? Hat das Leben eines rationalen oder selbstbewussten Wesens einen besonderen, vom Leben bloß empfindungsfähiger Wesen verschiedenen Wert?
Um diese Frage zu bejahen, kann man folgendermaßen argumentieren. Ein selbstbewusstes Wesen ist sich seiner selbst als einer distinkten Entität bewusst, mit einer Vergangenheit und Zukunft. (Dies war, wie wir sahen, Lockes Kriterium für die Person.) Ein Wesen, das in dieser Weise sich selbst bewusst ist, ist fähig, Wünsche hinsichtlich seiner eigenen Zukunft zu haben. So mag zum Beispiel ein Philosophieprofessor hoffen, ein Buch zu schreiben, in dem er die objektive Natur der Ethik beweist; eine Studentin mag das Abschlussexamen ins Auge fassen; ein Kind mag den Wunsch haben, in einem Flugzeug zu fliegen. Nimmt man einem dieser Menschen ohne seine Zustimmung das Leben, durchkreuzt man damit seine Wünsche für die Zukunft. Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben.
Vor allem der letzte Satz "Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben." hat vielerorts zum Aufschrei geführt. Singers Thesen stützen zwar die in der westlichen Welt praktizierte Abtreibung von ungeborenen Säuglingen - aber seine These, auch Neugeborene töten zu dürfen (Singer setzt dazu eine willkürliche Grenze bis zum 6. Monat - wohlgemerkt nach der Geburt), findet beruhigenderweise keine Zustimmung.
Den Vorwurf, er stünde der faschistischen Ideologie der Nazis in nichts nach, resultiert aus der Behauptung, dass auch geistig mehrfach schwerst behinderte Kinder nicht mehr unter den Begriff der Person fallen und deshalb auch vom Tötungsverbot ausgenommen werden können. Singer deshalb als "Nazi" zu bezeichnen, ist sicherlich unangemessen, eine gewisse Parallelität zu Praktiken des 3. Reiches lässt sich aber kaum bestreiten.
Nur: Das sind keine Argumente. Was Singer behauptet, klingt einleuchtend. Und so, wie der Rassismus verachtenswert ist, weil er die Rassenunterschiede zwischen den Menschen zum Grund für unterschiedliche Rechte und Würde erhebt, scheint nach Singer jeder ein "Speziesist", der Artenunterschiede zwischen Tieren und Menschen (vor allem zwischen Menschen und Primaten) zum Grund nimmt, Tiere zu diskriminieren und Menschen zu bevorzugen.
Auf Singers Thesen reagieren die meisten Menschen mit spontaner Abwehr. Selbstverständlich würde eine Mutter aus einem brennenden Haus eher ihr behindertes Kind retten als den Schäferhund - jedes andere Verhalten betrachten wir als verachtenswert, ja sogar als mögliche Straftat. Aber warum? Wie können wir Singer argumentativ begegnen?
Schauen wir zunächst einmal auf das, was Singer selbst an Gegenargumenten anführt:
Diese Schlussfolgerung mag nach den vorangehenden Kapiteln einleuchtend erscheinen, denn wir haben sie Schritt für Schritt vorbereitet; aber sie weicht stark von der vorherrschenden Auffassung in unserer Gesellschaft ab, die, wie wir gesehen haben, das Leben aller Mitglieder unserer Spezies als heilig betrachtet. Wie konnte unsere Gesellschaft eine Ansicht akzeptieren, die kritischer Betrachtung so wenig standhält? Ein kurzer historischer Exkurs mag der Klärung dienen.
Wenn wir zu den Ursprüngen der westlichen Zivilisation, in die Zeiten der Griechen und Römer, zurückgehen, sehen wir, dass die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens nicht genügte, um den Schutz des Lebens zu garantieren. Es gab keine Achtung vor dem Leben von Sklaven oder anderen »Barbaren«; und sogar bei den Griechen und Römern selbst hatten Säuglinge nicht automatisch ein Recht auf Leben. Die Griechen und Römer töteten missgestaltete oder schwache Säuglinge, indem sie sie in Gebirgsgegenden aussetzten. Platon und Aristoteles waren der Meinung, der Staat sollte Tötung missgestalteter Säuglinge durchsetzen. Der berühmte Gesetzestext, der von Lykurg und Solon verfasst worden sein soll, enthielt ähnliche Vorschriften. In jener Epoche hielt man es für besser, ein unter ungünstigen Vorzeichen begonnenes Leben zu beenden, als ein solches Leben mit all seinen Problemen zu verlängern.
Unsere heutige Haltung geht auf das Christentum zurück. Es gab eine spezifisch theologische Motivation für die Christen, die Wichtigkeit der Zugehörigkeit zur Spezies zu propagieren; es war der Glaube, alle von menschlichen Eltern Geborenen seien unsterblich und zu ewiger Seligkeit oder immerwährender Qual vorherbestimmt. Mit diesem Glauben bekam das Töten eines Homo sapiens eine schreckliche Tragweite, weil dadurch ein Wesen seinem ewigen Schicksal überliefert wurde. Eine zweite christliche Lehre, die zu demselben Resultat führte, war der Glaube, dass wir, weil von Gott geschaffen, sein Eigentum sind; einen Menschen töten aber hieße sich ein Recht Gottes anmaßen, nämlich darüber zu entscheiden, wann wir leben und wann wir sterben. Thomas von Aquin drückte es so aus: Ein menschliches Leben auslöschen ist dieselbe Sünde gegen Gott wie gegen einen Herrn, dessen Sklaven man tötet. Andererseits glaubte man, dass nichtmenschliche Lebewesen von Gott unter die Herrschaft des Menschen gestellt worden seien, wie in der Bibel geschrieben steht (vgl. 1. Mose 1,29 und 9,1-3). Daher konnten Menschen nichtmenschliche Lebewesen nach Belieben töten, sofern sie nicht das Eigentum eines anderen waren.
Während der jahrhundertelangen christlichen Vorherrschaft im europäischen Denken wurden die moralischen Auffassungen, die sich auf diese Lehren gründeten, Bestandteil einer unangefochtenen moralischen Orthodoxie europäischer Zivilisation. Heute sind diese Lehren nicht mehr allgemein anerkannt, aber die moralische Haltung, die sie zur Form hatten, passt nur zu gut zu der tief verwurzelten westlichen Überzeugung von der Einzigartigkeit und den besonderen Vorrechten unserer Spezies und lebt deshalb fort. Da wir nun allerdings unsere speziesistische Auffassung von der Natur überdenken, ist es auch an der Zeit, unseren Glauben, dass das Leben der Angehörigen unserer Spezies heilig sei, zu überdenken.
Nun - Peter Singer ist ehrlich und in seiner Beschreibung der christlichen Gegenposition durchaus um Fairness bemüht. Tatsächlich erhält ein menschliches Leben in dieser Welt seinen Wert, weil wir in der Zeit, die uns geschenkt ist, unser ewiges Heil wirken können.
Ein sehr schwaches Argument - und eines Philosophen eigentlich unwürdig - ist seine Antwort auf diesen selbst vorgebrachten Einwand: "Heute sind diese Lehren nicht mehr allgemein anerkannt..." - Mehr nicht.
Aber bevor wir an dieser Stelle einhaken und Singer vorwerfen, er gehe allzu leicht über ein christlich gut hergeleitetes Argument hinweg, bedenken wir, dass es (zumindest an dieser Stelle der Diskussion) gar nicht darum geht, warum menschliches Leben schützenswert ist, sondern nur um die Frage, was denn überhaupt menschliches Leben ist.
Und dass Singer behauptet, ein gewisser Chromosomensatz sei kein ausreichend philosophischer Grund, einen so gewaltigen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu machen, leuchtet nach wie vor ein.
Nun, da diese "kleine" Katechese kein übermäßiges Volumen erhalten soll, gehen wir sofort in medias res: Singer konstatiert (mit Fletcher und Locke), dass es Merkmale für "menschliche Persönlichkeit" gibt, aber er fragt nicht, woraus diese Merkmale resultieren. Er möchte lediglich allen Wesen (ob Mensch oder Tier), die eine ansprechende Anzahl von Persönlichkeitsmerkmalen aufweisen, den Schutz der Gesellschaft vor willkürlicher Tötung gewähren; ebenso soll aber allen, die diese Merkmale nicht (oder nicht mehr) besitzen, dieser Schutz entzogen werden.
Wenn die von Singer und Fletcher aufgezählten Merkmale direkte Phänomene einer materiellen Struktur sind, dann bedeutet das also, dass alle ausreichend hoch entwickelten Lebewesen geschützt werden - und die minderentwickelten eben nicht. Dabei ist es unbedeutend, ob eine Art im Ganzen eher hochentwickelt ist; das ist kein Grund, diesen Schutz einem verkrüppelten, kranken oder fehlentwickelten Einzelexemplar zu gewähren.
Der Entwicklungsstand einer Art ist nur ein Näherungswert; so kann es
durchaus sein (meint Singer), dass ein Orang-Utan aktuell höher entwickelt
ist als ein Mensch (weil der entweder noch zu jung ist, krank oder behindert).
Aber hat Singer recht? Lassen sich Persönlichkeitsmerkmale wirklich auf graduelle Unterschiede in der materiellen Struktur eines Lebewesen zurückführen?
Behaupten wir einfach mal das Gegenteil (wohlgemerkt - das ist noch kein Argument, sondern nur eine Behauptung). Ein Lebewesen kann nur dann "ein selbstbewusstes oder rationales Wesen" sein, wenn es zu seinen materiellen Voraussetzungen auch noch immaterielle Bedingungen treten - wie zum Beispiel die Seele. Oder, mit John Locke formuliert, nur ein Lebewesen, dass (vom Lebensanfang an) mit einer geistigen Seele ausgestattet ist, kann »ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion besitzt und sich als sich selbst denken kann, als dasselbe denkende Etwas in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten« werden.
Okay, nun steht Behauptung gegen Behauptung. Welche Argumente bietet Singer, um nachzuweisen, dass das Konzept der seelischen Voraussetzung für Persönlichkeitsmerkmale falsch oder doch zumindest verzichtbar ist? - Keine.
Welche Überlegungen trifft Peter Singer, um menschlich-personale Eigenschaften wie Freiheit, Moralität, Gewissen, überzeitliche Identität und Religiosität als Eigenschaften von Materie herzuleiten? - Keine.
Singer geht ohne weitere Überlegungen vom Materialismus aus. Und das ist für einen Philosophen kein gutes Benehmen - ein denkerischer "faux pas". Wenn Singer mögliche Argumente gegen seine "Praktische Ethik" vorbringt, dann sollte er auch die nennen, die ihn tatsächlich herausfordern.
Immerhin: Singer ist ein gutes Beispiel, in welch gefährliche Fahrwasser die Moral geraten kann, wenn ihr der Anker im Immateriellen geraubt und die Materie zum einzigen Prinzip erhoben wird.
Peter Singer hat sich - vorübergehend - bemüht, fair und philosophisch redlich zu sein (nicht immer mit Erfolg). Das muss natürlich auch für uns gelten. Wir haben zwei Behauptungen gegeneinander gestellt: Singers Behauptung, Persönlichkeitsmerkmale resultierten direkt aus der materiellen Komplexität; dagegen die christliche Behauptung, Persönlichkeitsmerkmale resultierten aus einer immateriellen Komponente, die wir "Seele" nennen. Diese Seele, so behaupten wir, existiere auch schon, bevor sich die Persönlichkeitsmerkmale entwickeln und existiere auch dann noch, wenn diese Merkmale (durch Alter, Unfall oder Krankheit) wieder verschwinden.
Nicht die Merkmale als solche machen ein Wesen schützenswert, sondern die Wurzel der Merkmale - die Seele.
Singer hat seine Behauptung nicht hergeleitet. Deshalb haben wir Christen natürlich nicht automatisch gewonnen. Können wir denn herleiten, dass eine immaterielle Seele existiert?
Die Antwort möchte ich hier nur kurz und knapp geben (die Überschrift über diesen Text lautet ja "Kurze Anmerkungen" und nicht "ausführliche Widerlegung"): Ja, das können wir, selbstverständlich. Das ist Gegenstand zahlreicher philosophischer "Anthropologien" (Anthropologie: die Lehre vom Wesen des Menschen) der letzten Jahrtausende.
In der Katechese "Hinweise auf die Existenz Gottes" haben wir schon ausführlich dargelegt, dass z.B. die Freiheit des Menschen keine Funktion der Materie sein kann (ähnliches ist auch in der Katechese zum "Heiligen Geist" hergeleitet worden). Sich frei gegenüber den materiellen Voraussetzungen zu verhalten, kann aber eben keine Eigenschaft der Materie sein, sondern setzt ein immaterielles Prinzip voraus - eben die Seele.
Freiheit heißt nicht "absolute Freiheit": Wir Menschen bleiben in unserer Freiheit begrenzt durch unsere Gene, unsere Erziehung, die Kultur und körperliche und geistige Rahmenbedingungen. Da aber innerhalb dieser Grenzen freie Entscheidungen sogar unausweichlich sind, ist die Einschränkung der Freiheit nicht gleichzeitig ihre Aufhebung.
Nun ist die Freiheit nicht nur eine Unbestimmtheit (wie zum Beispiel in der Quantenphysik), sondern die Fähigkeit, zwischen Alternativen zu wählen, ist moralisch. Das heißt, unser ganzes menschliches Zusammenleben (in allen Kulturen, zu allen Zeiten) beruht darauf, dass bestimmte Alternativen nicht gewählt werden sollen, andere dagegen zu bevorzugen sind. Der Mensch gestaltet also nicht nur materielle Prozesse (wie z.B. Kausalketten oder chemische Reaktionen) - die haben keine moralische Dimension. Niemand würde, selbst einen so verheerenden Prozess wie den Tsunami in Japan 2011, als moralisches Versagen bezeichnen. Dass jedoch der japanische Atomwerkbetreiber Tepco bei den Sicherheitsmaßnahmen in seinen Atomreaktoren geschlampt hat, ist verwerflich - weil dort Menschen Verantwortung tragen.
Verantwortung kann aber nicht eine (noch so komplexe) materielle Struktur
übernehmen, sondern nur jemand, der sich angesichts dieser Strukturen
auch anders verhalten konnte.
Des weiteren ist der Mensch trotz seiner Freiheit nicht in der Lage, sich seine moralischen Wertmaßstäbe nach Gutdünken zurechtzulegen. Im Menschen gibt es ein zunächst unbestechliches Organ, das unsere Handlungen bewertet: das Gewissen. Die Stimme des Gewissens, die uns dazu drängt, bestimmte Handlungen zu unterlassen, ist mit Sicherheit kein Produkt der jeweiligen Person oder eine Art Wunschdenken, denn wer unter einem schlechten Gewissen leidet, wünscht sich alles andere als diese Instanz.
Allerdings kann das Gewissen auf lange Sicht schon zum Schweigen gebracht werden - aber nur durch beständige Ignoranz. Das Gewissen einfach in gewünschte Bahnen zu lenken, ist (Gottseidank) nicht möglich.
Wenn ein Mensch ein Foto aus seiner Kindheit zu Gesicht bekommt und sich selbst darauf entdeckt, so wird er immer "Das bin ich!" sagen - und nicht: "Das war ich mal." Noch weniger käme jemand auf den Gedanken, von sich in seiner Kindheit als von jemanden ganz anderen zu sprechen - obwohl doch die Materiekomponenten, deren Struktur und Verknüpfung untereinander und vor allem die gesamte Hirnstruktur des heutigen Menschen mit dem damaligen Kind nur noch Minimales gemeinsam haben. Materiell gesehen ist es eher richtig, vom Nachbarn zu sagen: "Das bin ich!", als das Gleiche vom Säugling zu behaupten, aus dem ich mich entwickelt habe.
Das, was dem Menschen durch die Zeit hinweg Identität verleiht, ist nicht die Materie - nicht seine Struktur - und auch nicht sein Gehirn. Es kann nichts anderes sein, als eine überzeitliche, immaterielle Seite des Menschen.
Es wäre natürlich für jeden Mörder ein Versuch wert, ein früheres Verbrechen mit der Begründung abzustreiten, dass die Person von damals heute gar nicht mehr existiert - und die Existenz einer immateriellen, identitätsstiftenden Seele nur ein Hirngespinst sei.
Ich wäre schon gespannt, wie ein Gericht in unserer heutigen Zeit argumentieren würde. Viel bedeutsamer scheint mir jedoch, dass allein das Stellen dieser Frage die Absurdität des Materialismus erneut zeigt.
Das soll an dieser Stelle genügen; obwohl die Liste zum Erweis einer Seele damit noch längst nicht abgeschlossen ist. So ist es kein Problem, Fletchers Liste der "Persönlichkeitsmerkmale" einzeln durchzugehen und "Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier" durch genaues Betrachten als geistig-seelische Vorgänge zu identifizieren.
Mit Ausnahme vielleicht der Neugier - das scheint mir eine Eigenschaft zu sein, die sich auch in der ganzen Tierwelt wiederfindet. (Zumindest bei Eichhörnchen und Dohlen, so meine persönliche Erfahrung).
Die Frage, die Singer umtreibt, ist damit aber noch nicht abschließend beantwortet. Die Seele selbst ist nicht messbar oder nachweisbar, sondern nur anhand ihrer Wirkungen. Wenn aber bei einem Säugling oder einem schwer behinderten Kind (Singer nennt das Beispiel eines anenzephalischen Fötus') keine Persönlichkeitsmerkmale auftreten, woher wissen wir dann, dass dieses Wesen eine geistige Seele hat? Doch wieder nur aufgrund des Chromosomensatzes?
Mitnichten. Was Chromosomen sind und wie sie beim Menschen beschaffen sind, ist eine Erkenntnis der letzten Jahrzehnte. Aber auch vorher wussten die Menschen sehr wohl, dass ihre kleinen Neugeborenen Menschen mit allen Rechten und ganzer Würde sind. Wie das - wenn nicht aufgrund der Chromosomen?
Nun - ganz einfach: Aufgrund der Abstammung. Menschen gebären Menschen; Affen bringen kleine Affenbabies auf die Welt und Delphine stammen von Delphinen ab. Solange von dieser Erkenntnis keine Ausnahmen bekannt sind, ist es nicht nur naheliegend, sondern sogar verpflichtend, von dieser Regel auszugehen.
Das klingt philosophisch, ist aber sowas von banal, dass es verwundert, warum Singer diese Regel nicht einmal erwähnt.
Es wäre blödsinnig, ein menschliches Neugeborenes im Zoo aufzuziehen, weil man nicht sicher sei, ob es sich zum Menschen entwickele. Es wäre idiotisch, einen Hundewelpen im Aquarium zu halten oder Kaulquappen im Brutkasten. Es ist dermaßen dämlich, so etwas auch nur in Betracht zu ziehen - jeder Tierschutzverein würde bei der Erwägung dieser Versuche auf die Barrikaden gehen -, dass der Vorschlag von Singer, einen Säugling in seinen ersten Lebensmonaten bedenkenlos töten zu dürfen, weil er ja noch kein Mensch sei, noch aufsteigen muss, um in der gleichen geistigen Liga zu spielen.
Nicht zuletzt liegt in der Singer'schen Argumentation eine weitaus größere
Gefahr, die sich auch gegen Peter Singer selbst wenden kann: Wie wäre
es, wenn jemand nun auftritt und zu Singer sagt: "Deine Philosophie und
Deine Persönlichkeitsmerkmale sind zu primitiv, deshalb sperre ich dich
ein - oder besser: Töte Dich gleich!"?
Schließlich sind äußere Merkmale interpretationsbedürftig
und vielleicht auch Geschmacksache. In früheren Zeiten wurden Kinder,
die abnormal waren (z.B. behaart, missgestaltet oder Kinder mit einer sogenannten
"Wolfssprache"), nicht als Menschen betrachtet - ganz so, wie Singer
es vorschlägt. Dass Singer damit dem Rassismus Tor und Tür öffnet
(obwohl er ihn doch eigentlich bekämpfen will), scheint er nicht zu merken.
Davor bewahrt nur die Erkenntnis, dass bereits die Wurzel aller Persönlichkeitsmerkmal -die geistige Seele- dem Menschen Würde verleiht, unabhängig davon, ob diese Merkmale auch tatsächlich ausgebildet sind. Singers Konzept dagegen ist nicht nur ein philosophischer und ethischer Rückschritt, sondern auch die ungewollte Legitimation aller rassistischer Irrungen.