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Theodizee - Gott und das Leid der Welt

"Wie kann es einen Gott geben, wenn die Welt so offensichtlich ungerecht, leidvoll und sinnlos ist?" - Das ist, auf einen Satz reduziert, die Frage der "Theodizee". Damit ist schon auf den ersten Blick deutlich, dass die Frage der Rechtfertigung Gottes (nichts anderes meint der Begriff "Theodizee") zwar eine theologische Frage ist, aber von ungemein persönlicher Bedeutung.

Menschen, die unfassbares Leid erlebten, stehen vor dieser Frage nicht zuerst als philosophisch Interessierte, sondern als ins Herz Getroffene. Eine Antwort auf diese Frage darf das nicht ignorieren: Es geht nicht nur um eine rationale Auflösung eines Widerspruches zwischen dem guten Gott und den verstörenden Ereignissen dieser Welt. Es geht um viel mehr: Um den Menschen als Ganzes, um den Glauben an einen Sinn in dieser Welt, um Hoffnung und Mut zum Leben und nicht zuletzt um die Frage, ob Liebe überhaupt lebbar ist.

Ich hoffe, mit dieser Katechese einem solchen Anspruch einigermaßen gerecht zu werden und bitte jetzt schon um Entschuldigung, falls mir das nicht gelingt. Auch bitte ich um etwas Geduld: Der erste Teil der Katechese ist nüchtern, sachlich und eher philosophisch. Aber keine Sorge: Ich verliere den Anspruch, neben einer Antwort auch Trost zu finden, nicht aus den Augen.

Gottseidank bin ich nicht der Erste oder gar der Einzige, der die Frage nach dem Sinn des Leids zu beantworten sucht; wem meine Antworten nichts sagen, den verweise ich gerne auf drei hervorragende (und ganz andersartige) Versuche, sich der Theodizee zu nähern und ein wenig Heilung, zumindest aber Linderung des Schmerzes, den das Leid verursacht, zu schenken.

So kann ich Dir das Buch "Die Hütte" von William Paul Young empfehlen; ein Buch über einen Vater, dessen Kind entführt und ermordet wird und seine Auseinandersetzung mit Gott.

Gott am Galgen: Eine Geschichte, die der KZ-Überlebende Eli Wiesel aufschrieb, in der angesichts des sinnlosen Leids ein Häftling die Frage nach Gott stellt - und eine Antwort erhält.

Josef Bordat gibt einen theologisch und philosophisch fundierten Einblick; Teile habe ich für diese Katechese übernommen - die anderen Teile sind auch lesenswert.

 

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Diese Katechese ist auch als gedrucktes Heft (Nr. 100) erhältlich: Kostenlose Bestellung

1. Teil: Das Problem der Theodizee

Nicht alle, die vom "großen, unlösbaren Problem der Theodizee" in der Theologie hören, können die Brisanz nachvollziehen. Nun will ich niemandem ein Problem einreden, das er selbst nicht hat. Aber diejenigen, die angesichts des Leids in der Welt den Glauben an Gott und an einen Sinn des Lebens ablegen, lösen das Leidproblem nicht (das Leid des Menschen wird durch das Leugnen einer Hoffnung nicht kleiner, sondern größer); genauso wenig wie diejenigen, die zwar unbeirrt an Gott und seiner Güte festhalten, aber der Gefahr erliegen, die Sprengkraft des Leids zu verharmlosen. Warum soll ich an einen guten Gott glauben, wenn sich seine Güte nicht in dieser Welt erfahren lässt?

Durch diese Beschreibung des Theodizee-Problems wird zudem deutlich, dass wir in der Frage nach Gott immer schon den christlichen Gott vor Augen haben, von dem es heißt, er sei gut und liebevoll. Angesichts des Leids in der Welt stellt sich nämlich nicht die Frage nach der Existenz eines Gottes - sondern nur die Frage nach seiner Güte und Allmacht. Denn: Vielleicht gibt es trotz allen Leids einen Gott, der aber nicht gut, sondern bösartig und grausam ist?
Wer alles dieses Problem nicht hat

Das Theodizeeproblem ist also kein universelles Rätsel: Es ist ein spezielles Problem der Religionen, die an einen personalen, guten und allmächtigen Gott glauben. Für Atheisten stellt sich die Frage nicht: Wenn kein Gott existiert, braucht man seine Güte und Allmacht auch nicht zu verteidigen. Ebensowenig stellt sich das Theodizeeproblem im Hinduismus (und anderen polytheistischen Religionen und Naturreligionen): Dort ist das Leid in der Welt Folge des Kampfes und Streites zwischen den verschiedenen Gottheiten (im Hinduismus zum Beispiel zwischen Brahma, Shiva, Vishnu und Kali). Auch der Buddhismus hat kein Problem mit der Theodizee, da es im Buddhismus wie auch im Atheismus keinen Gott gibt, der für das Leid verantwortlich ist. Die Frage nach dem Ursprung (der Welt, der Seele, des Leides und des ganzen "Settings") bleibt im Buddhismus unbeantwortet.

Das Defizit der mangelnden Erklärung für das So-sein der Welt im Buddhismus sieht der Buddhist selbst nicht: Für ihn ist die ganze Welt Teil der Illusion, die mich nur solange bedrängt, wie ich an ihr festhalte.

Für die monotheistischen Religionen ist die Frage allerdings brennender; dies gilt auch für den Islam, der aber diese Frage schlicht verbietet (dazu weiter unten mehr).

Auch das Judentum hat seine Lösung gefunden, die im Leid die Konsequenz menschlichen Verhaltens sieht. Allerdings denkt die jüdische Theologie weniger in den Kategorien des Individuums, sondern denkt ausdrücklich die Möglichkeit, dass das ganze Volk Israel für die Sünden einzelner zu leiden hat. Gott straft zwar - aber nur im Sinne des gerechten Richters, der den Sünder (und sein Volk) spüren lässt, was dieser selbst verursacht und anderen zugefügt hat. Die Ursache des Leids ist somit für uns Menschen nicht immer identifizierbar, aber eindeutig bei den Menschen zu suchen, nicht bei Gott.

Das größte Problem stellt die Theodizeefrage für die Christen dar, die an einen vernünftigen und zugleich gütigen, allmächtigen, allwissenden und dem Menschen zugewandten, aktiven Schöpfergott glauben.

Epikur

Die erste Formulierung des Theodizee-Problems wird Epikur zugeschrieben, der angesichts des Leids Gott nicht gleichzeitig gut und allmächtig denken kann:

1. Wenn Gott gut ist, kann er nicht auch allmächtig sein: Denn wenn er das Leid verhindern will, es aber dennoch existiert, kann das nur heißen, dass er das Leid nicht verhindern kann.

2. Wenn Gott allmächtig ist, kann er nicht auch gut sein: Denn wenn Gott das Leid verhindern kann, es aber dennoch existiert, bedeutet dies, dass er es nicht verhindern will.

3. Wenn Gott aber nicht allmächtig ist - oder nicht gut -, dann ist er auch kein Gott.

4. Wenn Gott aber sowohl gut, als auch allmächtig ist, wenn Gott also das Leid sowohl verhindern will und es auch kann: Woher kommt dann das Leid?

Auch wenn Epikur kein Christ war und zwischen einem sophistischen und einem mythologischen Gottesbild seiner Zeit stand, so hat er schon klar vor Augen: Gott ist nur Gott, wenn er auch allmächtig und gut ist. Genau diese Annahme ist aber unvereinbar mit der offensichtlich leidvollen Welt.

Epikur heute

Epikur hat in seinen vier Sätzen nicht nur logische Möglichkeiten beschrieben, vielmehr finden alle vier Thesen ihren praktischen Niederschlag in den Reaktionen der Menschen.

Die einfachste Lösung der Theodizeefrage liegt entweder in Epikurs 3. Satz: «Vielleicht gibt es ja gar keinen guten und allmächtigen Gott...?» Nicht wenige Menschen wählen - sehr wohl schmerzlich - diese Option angesichts unbeantworteter Sinnfragen; manchmal auch ausgelöst durch vorschnelle und oberflächliche Ermahnungen gutmeinender Christen: «Zweifle jetzt nicht an der Güte Gottes!»

Die Theodizeefrage ist aber auch gelöst, wenn wir annehmen, dass Gott zwar der allmächtige Schöpfer der Welt ist, aber eben nicht der gütige Gott der Christen. «Klar gibt es einen Gott - irgendwoher muss doch die Welt ihren Anfang haben. Aber dieser Gott ist ein sadistischer Gott, er kümmert sich nicht um mich und mein Leid. Ich bin Ihm offensichtlich einfach egal. Vielleicht bin ich für Ihn sogar wie die Ameise, auf die er sein Brennglas hält, um zu schauen, wie ich mich winde unter den von Ihm verursachten Qualen...»

Aber auch die in Epikurs ersten Satz formulierte Möglichkeit findet ihre moderne Anwendung: Gott kann nicht in diese Welt eingreifen - warum auch immer. «Ich würde Euch ja gerne helfen! Es ist mir aber leider nicht möglich...»

Auch denkbar ist ein theologischer Dualismus: Gott ist gut, aber es gibt neben ihm auch noch einen bösen Gegenspieler, der ihm zumindest in Macht und Kraft ebenbürtig ist...

Dennoch halten wir Christen an der in Epikurs vierten Satz formulierten Möglichkeit fest, auch wenn sie einen Widerspruch in sich enthält: Gott ist und bleibt gut und zugleich allmächtig. Was er will, das vollbringt er auch; und er will nichts anderes als unser Heil. Somit brennt weiterhin die Frage des Epikurs: Wenn Gott aber sowohl gut, als auch allmächtig ist, wenn Gott also das Leid verhindern will und es auch kann: Woher kommt dann das Leid?

Augustinus unterscheidet zwei Übel

Bevor wir uns den verschiedenen philosophischen bzw. theologischen Lösungsversuchen zur Theodizee zuwenden, ist die von Augustinus (354-430 n. Chr.) vorgenommene Unterscheidung der zwei "Übel" sicherlich hilfreich. Augustinus unterscheidet nämlich das "malum morale" vom "malum physicum".

Das "malum morale" - das moralische Übel - entspringt allem moralischen Fehlverhalten der Menschen: zum Beispiel der Lüge, dem Mord, dem Terrorismus und jeder sonstigen Art der Kriminalität. Aber das Leid dieser Welt resultiert nicht allein aus der menschlichen Sünde. Offensichtlich sind Krankheiten (bei Kindern), Erdbeben und andere Naturkatastrophen, Unglücksfälle und schließlich der natürliche Tod eines jeden Menschen nicht (allein) durch moralisches Fehlverhalten anderer verursacht. Es gibt unverschuldetes Leid: Das "malum physicum".

Das alles - so meint Leibniz, den wir weiter unten kennenlernen - rührt wiederum daher, dass die Welt nunmal endlich ist. Eine endliche Welt bringe immer Leid mit sich; deshalb dachte sich Leibniz diese Eigenschaft der Schöpfung - ihre Endlichkeit - als ein weiteres Elend: das "malum metaphysicum".
Die menschliche Freiheit

Mit dieser Unterscheidung im Hinterkopf und der Annahme, dass der Mensch frei ist, ist es relativ klar, dass zumindest alles Leid, das durch moralisches Fehlverhalten des Menschen verursacht ist ("malum morale"), seinen Ursprung nicht unmittelbar in Gott hat, sondern vom Menschen kommt. Da der Mensch eine echte Freiheit besitzt, kann man zwar Gott für die Freiheit des Menschen als Ursache ausmachen, aber nicht für das, was der Mensch aus dieser Freiheit macht. "Freiheit" in diesem Sinne meint schließlich, dass der Mensch selbst Ursache für die aus ihm entspringenden Handlungen ist - und nicht nur ein willenloses Glied in einer Ursachenkette.
Dass Gott aber dem Menschen auch die Freiheit zum Bösen gewährt und der Mensch tatsächlich böse handelt, darf wiederum nicht Gott angelastet werden: Denn Gott hat den Menschen als zur Liebe fähiges Wesen erschaffen; Liebe setzt aber Freiheit voraus. Der Mensch, um der Liebe willen mit Freiheit ausgestattet, ist deshalb auch der Lage, diese Freiheit zu missbrauchen und gegen Gott zu wenden - sonst wäre seine Freiheit nur eine Scheinfreiheit, eine Illusion.

Allerdings erklärt die Freiheit des Menschen nur das "malum morale", nicht das "malum physicum". Es mag sein, dass viele Naturkatastrophen vom Menschen mitverursacht werden (beispielsweise Überschwemmungen und Dürrekatastrophen gehören oft zu den vom Menschen selbst verschuldeten Katastrophen); oder es gibt Risiken, die vom Menschen leichtsinnig ignoriert werden (so wurde z.B. San Francisco auf einem hochgradig gefährdeten Erdbebengebiet gebaut; ebenso könnten die Aufrüstung mit Kriegswaffen, das Betreiben von Atomkraftwerken und die Ausübung gefährlicher Berufe oder Sportarten genannt werden); nicht zuletzt sind auch viele Krankheiten auf die Ignoranz oder Böswilligkeit der Menschen zurückzuführen (z.B. durch ungesunde Ernährung oder durch Ausbeutung und Arbeit in giftiger Umgebung).
Aber dennoch bleiben zahlreiche Katastrophen, Krankheiten, Epidemien und auch Unfälle, die nicht - auch nicht mittelbar - mit moralischem Versagen der Menschen zusammenhängen. Das "malum physicum" ist nicht in allen Fällen auf das "malum morale" zurückzuführen.

Hat Gott, als er die Welt erschaffen hat, geschlampt? Ist die Schöpfung fehlerhaft, weil Gott nicht perfekt ist?

2. Teil: Leibniz' "beste aller möglichen Welten"
Leibniz' beste aller möglichen Welten

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716; nach ihm wurden tatsächlich die berühmten Butterkekse benannt) dehnte das Prinzip des ausbalancierten Zusammenspiels von menschlicher Freiheit und Liebe auf die ganze Schöpfung aus. Ihm zufolge hat Gott die "beste aller möglichen Welten" erschaffen. Vollkommen könne diese Welt nicht sein - nur Gott selbst sei vollkommen; eine weitere vollkommene Welt wäre nur eine Kopie Gottes gewesen. Da Gott aber etwas wirklich Neues schaffen wollte, musste diese Welt endlich und unvollkommen sein. Das, so Leibniz, sei schon das erste Übel: Das "malum metaphysicum".
Denn eine unvollkommene Welt sei notwendigerweise mit dem zweiten Übel - dem "malum physicum", dem Leiden - behaftet. Daraus wiederum folge das "malum morale", die Sünde des Menschen.

Die Sünde sei, so Leibniz weiter, jedoch eine notwendige Folge der Freiheit des Menschen. Um die Sünde vollkommen zu vermeiden, hätte Gott die Freiheit des Menschen tilgen müssen. Dennoch habe Gott in dieser Welt bereits das Leid auf ein Minimum verringert; ohne Gottes Güte sähe es noch sehr viel schlimmer in der Welt aus. Hätte Gott jedoch das Übel der Welt noch weiter reduziert, so wäre die Freiheit des Menschen so sehr eingeschränkt, dass er nicht mehr fähig zur Liebe gewesen wäre.
Mit anderen Worten: Gott habe diese Welt bestmöglich erschaffen. Alles Leid, das noch existiere, sei (lt. Leibniz) system-notwendig.

Dieser Gedanke - das sei nur so nebenbei bemerkt - spielt in der Matrix-Trilogie eine große Rolle. So erklärt der "Architekt", dass die Anomalie, die "Neo" darstellt, eine notwendige Folge der Freiheit im System sei. In einer zwar glücklich-perfekten Matrix-Welt, aber ohne Freiheit, hätten die Menschen nicht überlebt.
Grenzen der Erklärung

Auch wenn Leibniz' Theorie in der Hochaufklärung als abschließende Lösung der Theodizee gefeiert wurde - seine Theorie hat ihre Grenzen. So lässt sich zwar noch nachvollziehen, dass der Mensch um der Liebe willen die Freiheit braucht, sich auch von der Liebe abzuwenden. Aber es ist nicht notwendig, dass er diese Freiheit auch tatsächlich missbraucht: Sowohl im Paradies vor dem Sündenfall als auch im Himmel nach dem allgemeinen Gericht gab bzw. gibt es Liebe und Heil in Freiheit - ohne Leid.

Und auch der frei erschaffene Mensch im Paradies hat ja nicht aus eigenem Antrieb gesündigt - wieso hätte er das auch tun sollen? Er war selbst ein vom bereits existierenden Bösen Verführter, was das Problem der Herkunft des Bösen nur auf eine andere Ebene verlagert, aber nicht löst.

Neben der Güte und Allmacht besitzt Gott ja auch die Eigenschaft der Allwissenheit. Gott wusste also, welches seiner Geschöpfe sündigen wird. Hätte er nicht einfach den Engel oder den Menschen, von dem er wusste, dass er sündigen wird, das Dasein verweigern können? Indem er ihn einfach NICHT erschaffen hätte?

Auch Leibniz' Gedanke, diese Welt sei die beste aller möglichen Welten, geht an der Wirklichkeit vorbei: Ist es denn wirklich notwendig für die Balance zwischen Freiheit und Glück, dass es die Judenverfolgung, die Weltkriege, das Massaker von Ruanda und den Völkermord an den Armeniern gegeben hat? Oder, persönlicher: Tröstet es denn wirklich den Vater eines an Krebs erkrankten Kindes, dass Gott dieses Kind nicht heilt, weil sonst das Gleichgewicht der Welt gestört würde? - Letztlich büßte die Theorie der "besten aller möglichen Welten" ihre scheinbare Allgemeingültigkeit durch eine echte Katastrophe ein: nämlich durch das Erdbeben von Lissabon (1.11.1755) und die sich anschließenden Flutwelle. Bei dieser Naturkatastrophe wurde die Hauptstadt Portugals vollständig zerstört und entvölkert - mehr als 100.000 Menschen kamen ums Leben.

Ausgerechnet das Hurenviertel Alfama blieb verschont, während dagegen die Kirchgänger an diesem Feiertag während des Gottesdienstes in den einstürzenden Kirchen begraben wurden. Das Erdbeben selbst war Grund genug, die Theodizeefrage zu stellen - diese besonderen Umstände brachten die Theologen aber zusätzlich in Erklärungsnot. Angefangen bei Voltaire, über Kant und Hegel distanzierten sich die großen Philosophen einer nach dem anderen schließlich von der Theorie der "bestmöglichen Welt".

Sorry - aber auf Leibniz', der wirklich ein großartiger Mathematiker, Philosoph und Denker war, passt in dieser Hinsicht das Vorurteil, dass seine Philosophie im Elfenbeinturm der Weltfremdheit entstand.

3. Teil: Andere Lösungsversuche

Neben Leibniz gibt es zahlreiche weitere Lösungsversuche der Theodizeeproblematik, Versuche also, die Existenz des Leids zu rechtfertigen und an einem guten, allmächtigen und allwissenden Schöpfergott festzuhalten. Nicht alle sind fehlerhaft; aber ob sie ausreichen, die Existenz des Leids zu erklären, ist zweifelhaft.

Gott verursacht das Leid nicht, sondern der Mensch

Wie wir schon gesehen haben, ist die Freiheit des Menschen ein unverzichtbares Argument, ohne das wir den Widerspruch zwischen Gottes Güte und dem Leid der Welt nicht hinnehmen könnten.

Dass der Mensch frei ist, ist kein Kniff zur Rettung der Theodizee. Die Freiheit des Menschen ist eine Erkenntnis (Kant würde sagen: Ein Postulat), die ganz unabhängig von der Theodizee gewonnen wurde und deshalb auch unabhängig gilt.

Moderne (Psycho-)Wissenschaften und materialistische Ideologien und Menschenbilder leugnen allerdings die menschliche Freiheit gerne - und bezeichnen sie als Illusion.

Natürlich mag es Gründe für einen Menschen geben, so und nicht anders zu handeln (zum Beispiel glaubt ein Mensch, mit einer Lüge seine Ehe retten zu können). Es gibt wiederum Umstände, die zu diesen Gründen geführt haben (jener Mensch hat vielleicht den Erfolg einer gut vorgebrachten Lüge schon bei seinem Vater kennengelernt). Aber dennoch ist die Entscheidung, genau diese Handlung zu vollziehen, nicht vorherbestimmt (nicht determiniert). Der Mensch bleibt in seinen bewussten und willentlichen Handlungen frei - ja, selbst dann, wenn seine Freiheit eingeschränkt sein sollte (z.B. durch Drohungen, Einflüsterungen, Versprechungen und kulturelle Vorgaben); "Einschränkung" ist nicht "Aufhebung". Aufgehoben wird die menschliche Freiheit allenfalls durch Folter, Drogen, Manipulation, Gehirnwäsche oder ähnliches.

Vergessen wir jedoch nicht: Mit der Einbeziehung Freiheit des Menschen in die Theodizee-Frage ist noch keine Erklärung für die notwendige Existenz des Leids vollzogen; in der Schöpfungsgeschichte war die Schlange bereits im Paradies anwesend, bevor der Mensch sündigte. Hätte Gott nicht ein Paradies ohne den Versucher erschaffen können?

 

Ist das Böse nicht notwendig, um das Gute zu erkennen?

Auch dieser Einwand scheint nicht ganz aus der Luft gegriffen: Um sich einen Begriff von einer Sache machen zu können, müssen wir ihn abgrenzen und damit auch das Gegenteil vor Augen haben. Zur Begriffsbildung von "gut" brauchen wir also den Begriff von "böse".

So wissen Menschen oft erst, wie gut es ihnen geht, wenn sie das Leid in der Welt sehen. Und auch persönlich können sie erst ermessen, wie wertvoll ein Gut (z.B. die Gesundheit) gewesen ist, wenn sie es verlieren.

Allerdings: Selbst wenn für die Begriffsbildung die Kenntnis des Gegenteils notwendig wäre, gilt das nicht notwendig für die Sache als solche: Ein Kind, das immer nur in der Liebe der Mutter gelebt hat, hat davon vielleicht keinen Begriff - aber dennoch Kenntnis. Es mag sein, dass wir ein Gut höher einschätzen, wenn wir den Verlust erleben. Aber dennoch wissen wir, dass es gut ist, geliebt zu werden; dazu bedarf es nicht die Erfahrung von Hass. Vielleicht liegt es an unserer Sündhaftigkeit, dass wir im Glück undankbar sind. Aber daraus ein logisches Prinzip zu machen, ist wirklichkeitsfremd.

Wird das Böse nicht dadurch aufgehoben, dass es schließlich doch Gutes hervorbringt?

Alles, was wir als moralisches und physisches Übel kennen, hat auch positive Folgen. Wir alle kennen den Märtyrer, der im Leid Zeugnis ablegt; den Liebenden, der in der Bedrohung über sich hinauswächst und die Geliebte rettet; den Zyniker, der angesichts des Leids wahre Liebe lernt und den Helfer, der in der Not bedürftigen Menschen Hoffnung schenkt.
Zu behaupten, dass diese Folgen das Übel so relativieren, dass es eigentlich gar kein Übel gewesen sei, geht an der Wirklichkeit vorbei. Zu behaupten, Gott schaffe das Übel, um positive Folgen zu provozieren, hieße den Grundsatz der "Heiligung der Mittel durch den Zweck" auf Gott anzuwenden. Noch erbärmlicher wäre ein Gottesbild, das behauptet, dass Gott etwas Gutes nur durch Böses bewirken könnte.

Ist es vielleicht für das Gute notwendig, dass es das Übel gibt?

Wenn wir annehmen, dass Gott gar nicht anders könne, als Gutes nur durch das Leid zu bewirken, offenbart das eine Gottesvorstellung, in der Gott nicht wirklich allmächtig ist (siehe Epikur).

Die Behauptung, zum Guten gehöre logisch das zu überwindende Leid, ist ebenfalls nicht haltbar: Es ist in sich nicht widersprüchlich, Gutes durch Gutes zu erschaffen; also kann Böses nicht notwendige Voraussetzung für das Gute sein.
Das Böse ist nur das "sogenannte Böse"

Von Konrad Lorenz (einem Biologen und Verhaltensforscher) stammt der Begriff vom "sogenannten Bösen". Demzufolge sind die Begriffe von gut und böse nur kulturbedingte, fiktive Kategorien des Menschen und haben nichts mit der Realität zu tun. Die Evolution sei zum Beispiel auf den Tod von unangepasstem, minderwertigen Lebensformen angewiesen - der Tod sei also nicht Böses oder Gutes, sondern einfach nur ein neutrales Ereignis.

Nun, es mag sein, dass die Kategorien von gut und böse in der Natur nicht vorkommen; natürlich ist es der Mensch, der diese Wertung vornimmt. Aber den Maßstab, den er dabei anlegt, macht er sich nicht selbst, sondern der ist ihm vorgegeben; und auch die Möglichkeit, diesen Maßstab NICHT anzulegen, ist dem Menschen verweigert. Der Mensch ist ein moralisches Wesen, das sich zur Wirklichkeit verhält: entweder positiv, zustimmend, oder negativ, ablehnend; selbst wenn er versucht, sich neutral zu verhalten, kann dieses Verhalten wiederum gut oder böse sein. Es ist auch einem Konrad Lorenz nicht möglich, die Misshandlung eines Kindes nur als ein "Ereignis" zu sehen und sich einer Wertung zu enthalten - selbst wenn er es versucht, wird er wiederum sein Verhalten gegenüber einem misshandeltem Kind vor seinem Gewissen rechtfertigen müssen.

Gottes Handeln steht jenseits aller Moral

Der Verweis auf die Größe Gottes, die uns unbedeutenden Menschen weder einen Blick in den Plan Gottes gestattet noch überhaupt ein Urteil über Gottes Handeln zugesteht, ist weiter verbreitet und älter, als viele auf den ersten Blick glauben - und bedarf einer feiner, aber wesentlichen Unterscheidung.

Schon Hiob (das Buch Hiob im Alten Testament entstand ca. im 6. Jahrhundert vor Christus) erhält auf sein Leiden die Antwort: Gott ist so groß, wer will ihn verklagen? - Der Islam dagegen sieht die Vernunft des Menschen angesichts der Unfassbarkeit Gottes nicht in der Lage, Maßstäbe von gut und böse auch auf Gott anzuwenden: "Wenn Gott lügt, dann hat er gute Gründe: Wer will ihn richten?"

Diese beiden Antworten sind nicht die gleichen: Hiob ist weiterhin fest davon überzeugt, dass Gott gut ist und das göttliche Handeln nicht im Widerspruch zu seinem Wesen geraten kann. Für den Anhänger eines voluntaristischen Gottes (einem Gott, der alles kann und tut, was er will - unabhängig davon, ob es böse, sinnlos oder unmoralisch ist) sind die moralischen Maßstäbe einfach nicht auf Gott anwendbar.
Hiob stellt seine Frage nur zurück - und hofft, wie wir Christen auch, auf die Auflösung der Frage in der seligen Anschauung Gottes. Der Muslim erwartet eine solche Lösung nicht: Gott braucht sich nicht rechtfertigen, er wird es nicht tun und keiner sollte dieses erwarten.

Es ist also eine durchaus angemessene Haltung (dazu im 4. und 5. Kapitel mehr), die Antwort auf die Frage nach dem "Woher" des Leids, der Sünde und des Bösen sozusagen "auszusetzen". Sobald aber aus der nichtgestellten Frage ein unausgesprochenes Verbot wird, Gottes Handeln zu kritisieren, wird die theologische und spirituelle Aussage schief. Es ist zudem eine gefährliche Richtung: Ein Gott jenseits der Moral öffnet dem Terror Tor und Tür; sobald sich der Täter auf eine Anweisung Gottes beruft, stellt er sich flugs ebenfalls außerhalb jeder moralischer Kategorie. Da leicht alles, was in der Welt geschieht, als Gottes Handeln gedeutet werden kann, kann zudem ein theologischer Fatalismus entstehen: "Gott wird schon wissen, was er tut" legitimiert letztlich alles und jeden.

Wenn unser Gott ein guter Gott ist, dann muss selbstverständlich auch Gottes Handeln moralisch sein. Ein Christ, der in einer Vision von Gott aufgefordert wird, eine in sich schlechte Tat zu begehen, hat gefälligst seinem Gewissen zu folgen - und nicht der vermeintlichen Anweisung Gottes. (Aber - ich gebe zu - das bedarf weitereichender Erläuterungen, die ich nicht in dieser Katechese geben kann.)

Gott straft uns

Eine ebenfalls weit verbreitete Ansicht - wenn auch oft unterschwellig - ist der Gedanke, dass das Leid eine Strafe sei, die zwar Gott ausführt, die aber vom Menschen verschuldet wurde.
Dieser Tun-Ergehens-Zusammenhang - schon im Judentum grundgelegt - ist tief in unserem Denken verwurzelt.

Wer ertappt sich nicht angesichts eines Unglücks, das einen (vermutlich) Schuldigen trifft, bei dem Gedanken: «Das geschieht Dir ganz recht...»
Auch der unwillkürliche Gedanke, der nach lästigen Missgeschicken oder nach großem Leid oft in dem Satz ausgedrückt wird: «Gott - womit habe ich das verdient?!», zeugt von dem Gedanken, dass Gott dem Menschen nur zuteilt, was er verdient - genauso wie der Kinderspruch: «Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort.»

Auch wenn das Bild eines strafenden Gottes in Verkündigung, Predigt und Gotteslehre verpönt ist: In den Köpfen der Menschen ist dieser Gedanke tief verankert.

Der Gedanke des strafenden Gottes kann modifiziert werden. Im Judentum trifft die Strafe auch Unschuldige - wenn sie zum gleichen Volk gehören wie die Täter. Viele religiöse Erweckungsbewegungen, Freikirchen und charismatische Gruppen sehen im Leid eine Strafe für die Verfehlungen der säkularisierten westlichen Welt, die sich von den Geboten Gottes abwendet.

Diese Haltung zu äußern, ist in unserer modernen Welt verpönt; sie heimlich weiter zu pflegen, aber zudem auch sehr verfänglich. Falls der gerechte Gott aus gerechtem Grund straft, wäre dann ein helfendes Eingreifen zugunsten der Betroffenen oder ein Mildern der Not nicht erneut eine Ungerechtigkeit? Nicht ganz zu gibt Josef Bordat außerdem zu bedenken, dass «der Übergang zwischen der passiven Feststellung, der hämischen Kommentierung und der aktiven Hervorrufung von Übeln – als eine Art selbsterfüllte Prophezeiung – dabei im Übrigen fließend ist.

Privatio boni

Ein weiterer, sehr wichtiger Gedanke beschäftigt sich mit der Frage, was das "Übel" denn eigentlich ist. Gegen Konrad Lorenz halten wir fest, dass es keine persönliche Ansichtssache, keine Geschmacksfrage ist, ob etwas "böse" oder "gut" ist. Das scheint den Gedanken nahezulegen, es gebe real-existierendes Böses in der Welt; so als ob das Böse eine dunkle Macht sei, die ein eigenes Sein hat.

Christlich gebildeten Menschen fällt natürlich sofort der Teufel als "real-existierendes Böses" ein. Aber hören wir uns den Gedanken des Bösen als privatio boni zunächst zu Ende an.

Die Vorstellung von der Existenz eines Anti-Gottes lehnen die klassischen Theologen rundweg ab. Es gibt keinen bösen Gegengott, der seinen Dreck in die gute Schöpfung gemischt hat. Vielmehr gibt es eigentlich nur Gutes; alles, was existiert ist, "insofern es existiert", gut. Böses ist nichts anderes als ein Mangel. Ein Mangel an Sein: Es fehlt etwas an dem, was existiert.

Zum Beispiel ist der Besitz von viel Geld eine feine, aber auch gute Sache. Wenn wir dabei aber das Lebensrecht des Wachmanns missachten, dem wir das Geld abnehmen, wird daraus ein Raub. - Der Verstand ist eine gute Sache, zum Beispiel um technische Geräte herzustellen. Wenn wir aber nicht genügend nachdenken, könnten wir meinen, Bomben zu bauen und in vollbesetzten Bussen zu zünden, sei ebenfalls nicht schlecht. - Einen Menschen zu lieben, ist ebenfalls eine gute Sache. Dabei das Eheversprechen zu vergessen, das wir einem anderen Menschen gegeben haben, macht daraus eventuell einen Ehebruch.

Die Deutung des Bösen als privatio boni findet sich schon bei Boethius

Auch der Teufel ist ein an sich gut erschaffener Engel (so die christlich-jüdische Tradition); er ist nur insofern böse, wie er es an Willen und Erkenntnis, Gehorsam und Liebe fehlen lässt.

Hans-Eduard Hengstenberg (ein weiterer Philosoph, diesmal aus dem 20. Jahrhundert) hat daraus geschlossen, dass die Theodizeefrage für uns Menschen prinzipiell nicht erkennbar ist: Denn nur das, was existiert, kann einen erkennbaren Sinn haben. Das Böse aber ist fehlendes Sein - es kann daher für uns kein Sinn erkennbar sein. Gott aber - so Hengstenberg - kann Sein aus Nichts erschaffen; ebenso dem Mangel an Sein einen Sinn geben.

Die Kirche ist zwar davon überzeugt, dass wir in der nächsten Welt erkennen können, wie Gott auch noch aus dem Leid heraus Sinn eröffnet. In dieser Welt werden wir eine denkerische Lösung der Theodizeefrage allerdings nicht erreichen.

Protestantische Position

In der Frage der Theodizee gibt es zudem eine kleine, aber nicht unbedeutende Nuance zwischen der katholischen und protestantischen Theologie. Während die katholische Kirche den Menschen in seiner Erkenntnis als "getrübt" und in seiner Willenskraft als "geschwächt" betrachtet, sieht es zum Beispiel Luther etwas dramatischer: Der Mensch ist seiner Erkenntnisfähigkeit und seiner Willenskraft durch die Ursünde restlos beraubt; er ist nicht nur gefallen, sondern tot. Das bedeutet, dass der Mensch nun doch wieder ein willenloses Rädchen im Getriebe der Welt ist - und die Theodizee entbrennt wieder mit neuer Kraft:
Nun ist wieder Gott unmittelbar verantwortlich für das "malum morale"; die Freiheit des Menschen bewahrt Gott nicht mehr vor diesem Vorwurf, denn diese Freiheit ging verloren. So stellt sich - mit Epikur - erneut die Frage, ob Gott denn wirklich ein guter Gott ist. Nur fällt es uns unter den protestantischen Voraussetzungen deutlich schwerer, diese Frage zu verneinen.

Fazit

Leid und die Güte Gottes: Bei der Frage Epikurs nach der Güte Gottes angesichts des Leids in der Welt spielt die menschliche Freiheit eine entscheidende Rolle. Denn für das vom Menschen verursachte Leid ist nicht Gott verantwortlich - selbst dann, wenn er dem Menschen die Freiheit gewährt hat, Leid zu verursachen.
Ursprung des Leids: Selbst wenn wir annehmen, dass letztlich alles Leid dieser Welt auf den Menschen und damit auf seine geschwächte Natur zurückzuführen ist (eine schwierige, aber denkbare Annahme, die sich auf die ersten Bücher der Bibel stützen kann), so löst sich nicht die Frage der Theodizee, sondern verschäft sich sogar: Denn wenn es logisch nicht notwendig war, dass der Mensch seine Freiheit missbraucht, warum hat er es dann getan? Wenn Gott das nicht verhindern wollte oder konnte: Wieso werden wir im Himmel nicht mehr sündigen, obwohl die ersten Menschen im Paradies untreu wurden?
Das Leid und die guten Folgen: Auch wenn leidvolle Ereignisse neben den unerwünschten Folgen auch hier und da Positives bewirken, so rechtfertigt das nicht die Existenz des Leids.

Bis hierhin sind wir - in Teil 1, 2 und 3 dieser Katechese - eher philosophisch und theoretisch an die Leiderfahrungen herangegangen. Zurecht kann sich der Vorwurf erheben, dass eine so theoretische Betrachtung des Leids schon fast zynisch wirkt. Gerade Überlebende von Katastrophen, Menschen, die selbst großes Leid erlebt haben, die um einen geliebten Menschen trauern oder schlicht fassungslos sind angesichts dessen, was ihnen von anderen Menschen angetan wurde, fragen existentieller. Ich hoffe, mit den letzten beiden Teilen dieser Katechese auch für sie eine Antwort greifbar zu machen.

4. Das Leid in der christlichen Erlösung

Das Leid ist in der christlichen Theologie kein Fremdkörper; zumindest keine reine Irritation, die man nur entfernen müsste, um ein schönes Gesamtbild zu erhalten. Im Gegenteil: Während das Leid in den meisten Theologien, Religionen und Konfessionen allenfalls ein diskussionsreicher Nebenschauplatz ist, besteht der Kern der christlichen Botschaft im Kreuz.

Jesus Christus - von dem wir glauben, dass er Gott ist - hat sich nicht gescheut, für uns und zu unserem Heil das Kreuz auf sich zu nehmen, verraten und verkauft zu werden. Er wurde für uns verspottet und gekreuzigt und ist unschuldig hingerichtet worden. Gott selbst entfernt nicht das Leid, sondern er trägt es. Warum?

Indem ich mich an einer Antwort versuche, möchte ich zwei Erklärungen verwerfen; ich hoffe, damit auch zwei Versuchungen beiseite zu räumen, die uns angesichts unseres persönlichen Leids in den Sinn kommen könnten: Erstens die Versuchung, im Leid eine von Gott verhängte Strafe zu sehen - und zweitens, im Leid einen für uns prinzipiell nicht erkennbaren Sinn zu behaupten.

Wer schon Trost gespendet hat oder getröstet wurde, kennt diese beiden Versuchungen: "Naja, das bin ich ja auch selbst schuld..." - oder: "Wer weiß, wofür das jetzt gut ist..."

In beiden Gedanken steckt viel Wahrheit - und gleichzeitig die Möglichkeit für ein fatales Missverständnis.

Nochmal: Das Leid ist (k)eine Strafe

Das Leid, so heißt es manchmal, sei nunmal die gerechte Strafe für unsere Sünden - und Jesus habe mit seinem Kreuz die Strafe getragen, die wir verdient haben.
Je nachdem, wie man Strafe versteht, erscheint in unseren Vorstellungen sofort der Polizisten-Gott, der uns bei irgendwelchen Sünden erwischt hat und uns nun leiden lässt. Und der dabei mitleidig, aber streng "Strafe muss sein..." murmelt. Dagegen möchte ich unseren Glauben ausdrücklich verwahren!

Die Gefahr, sich selbst zum Vollstrecker von Strafen zu machen und dabei sich und alle seine Taten zu rechtfertigen, habe ich schon erwähnt. Das gilt auch für Robin Hood, dem Rächer der Enterbten und Beschützer von Witwen und Waisen.

Denn es geht bei allem Leid - ob nun das von Jesus für uns getragene Leid oder das von Dir oder mir persönlich erlebte Leid - niemals um eine Strafvollzugsmaßnahme: «So, wie nunmal geschrieben steht, musst Du für Deine Sünde also dies und das erleiden... So ist nunmal das Gesetz!»- Vielmehr ist das Leid, das wir erleben, mehr als nur innere Konsequenz unserer Sünde: Seit dem Kreuzesgeschehen ist Leid immer Teil der Heilung.

Natürlich kann ich versuchen, dieses mit Beispielen zu illustrieren, aber ich gebe zu bedenken, dass die Beispiele äußerst hölzern sind. Das Leben ist facettenreicher und verwobener!

§ Der Schwimmer, der nicht auf die Zurufe und Zeichen seiner Kameraden hört und immer weiter in gefährliche Gewässer hinausschwimmt, muss irgendwann zurück. Je weiter er sich vom sicheren Bereich entfernt hat, umso schmerzlicher wird der Weg zurück. Aber gerade der Weg zurück, der ein reiner Leidensweg ist, ist auch der Weg der Rettung.

§ Der zwar mit einem Partner Verheiratete, aber in eine andere Person Verliebte, der sich immer intensiver dieser Beziehung widmet, wird nur unter Schmerzen den Ehebruch aufgeben können.

§ Der Lügner, dessen Lügengespinst immer verworrener und für andere zunehmend unglaubwürdig wird, wird irgendwann den Entschluss fassen, allen Menschen die ganze Wahrheit einzugestehen. Dafür wird er Spott ernten, Freundschaften verlieren und vielleicht auch Geld, Job und Eigentum. Das ist der Preis für sein früheres Leben auf Kosten der Wahrheit - und der Preis für die neugewonnene Freundschaft mit der Wirklichkeit.

§ Der Reiche, der all seine Zuversicht und seine Werte an die Vermehrung seines Wohlstandes knüpft, leidet schwer, wenn ihm nach und nach alles genommen wird.

Das Leid, das Jesus Christus für uns trägt, ist kein sinnloses Leid mehr, sondern Heilung und Erlösung. Die Sünde des Menschen hätte nicht sein müssen; aber der Weg zurück geht nur über das Kreuz.
Dabei trägt Jesus das Leid, das wir selbst hätten tragen müssen. Er kann den "Weg zurück" nicht einfach mit einem Fingerschnipsen wegzaubern - dann würde er unsere Freiheit und unsere Vergangenheit nicht ernst nehmen. Aber er kann das Leid für uns tragen.

Dabei ist Leid, das geschieht, immer mehrdimensional: Es trifft nicht nur den Leidenden und das Opfer, sondern auch den Helfer, die Mitleidenden, die in einer Beziehung zu den Betroffenen Stehenden und (soweit es sie gibt) die Täter, deren Freunde - und so weiter.
Für alle vom Leid berührten - selbst für den, der vom Leid nur aus der Zeitung erfährt - kann der Schmerz ein Zeichen des "Rückweges" sein, die Kehrseite der Medaille, deren andere Seite "Heilung" oder "Erlösung" heißt.

Ob das Leid aber der Schmerz der sich immer mehr in Sünde und Verzweiflung verstrickenden Menschen ist, oder aber bereits mit Hoffnung und Zuversicht gepaarte Heilung, hängt von uns ab. Denn Gott belässt uns die Freiheit, den Sinn, den er dem Leid verleihen kann, anzunehmen oder abzulehnen.

Sinnloses und sinnvolles Leid

Im Film "Jakobs Ladder" von Adrian Lyne erzählt der weise Chiropraktiker Louis seinem Patienten Jakob vom Sterben, so wie es Meister Eckhart sieht: «Wenn du an Deinem Leben festhalten willst und es nicht loslassen möchtest, dann siehst du die Dämonen, die versuchen, es dir zu entreißen. Wenn du aber deinen Frieden gemacht hast und dich auf die nächste Welt freust, dann siehst du, dass es in Wahrheit die Engel sind, die dich erlösen.»Und er fügt hinzu: «Kommt halt drauf an, wie man es sieht.»

Dass der Chiropraktiker nach diesem Satz Jakob besonders schmerzhaft einrenkt, ist eine direkte Verdeutlichung dieses Satzes. Wie im Grunde der ganze Film eine Metapher des Sterbens ist.

Alles Leid kann sinnvolles Leid sein. Das glauben wir Christen, auch wenn wir es nicht weiter belegen können. In den allermeisten Leidsituationen unseres Lebens können wir diesen Sinn tatsächlich nicht erkennen, manchmal fällt uns sogar der Glaube daran unsäglich schwer. Und trotzdem gibt es diesen Sinn!

Die zweite Versuchung besteht nun darin, zu behaupten, wir wüssten nicht, worin dieser Sinn liegt. Das ist - gottseidank - falsch.
Wir wissen nicht, wie dieses oder jenes Leid zum Ziel führt, aber das Ziel selbst kennen wir: Gott legt in alles, was geschieht, die Möglichkeit hinein, auf diesen Weg in den Himmel zu gelangen. Das ist das klare und letzte Ziel: Er möchte uns für alle Ewigkeit bei sich in vollkommener Liebe, Freude und Seligkeit haben. Gott hat kein anderes Ziel, als uns diese Möglichkeit immer wieder zu eröffnen und uns zu befähigen, diese Verheißung zu bejahen und zu ergreifen.

Das relativiert viele Fragen, die wir haben. Denn wir gehen unbemerkt immer wieder von der Prämisse aus, dass Gott uns ein schmerzfreies Leben in dieser Welt verschaffen sollte oder könnte. Dann ist es natürlich unverständlich, warum das nicht geschieht. Wenn aber diese Welt der Weg in die kommende Welt ist - und zwar ein "Weg zurück", der an schmerzbehafteter Heilung nicht vorbeikommt -, dann ist zumindest die Möglichkeit eröffnet, im irdischen Leid eine überirdische Hoffnung zu haben.

Nein - das ist keine Vertröstung. Der marxistische Vertröstungsvorwurf richtet sich gegen einen Glauben, der Menschen dazu anhält, ein sinnloses Leiden auszuhalten, weil es danach ein davon unabhängiges besseres Leben gibt.
Wir aber sollen unser Leben zusammen mit den leidvollen Komponenten gestalten - nicht aushalten. Und das "bessere Leben" ist kein für später verheißener Lohn, sondern beginnt in und durch unseren Umgang mit dem Leid bereits in dieser Welt.

Dabei mag es aus unserer menschlichen Sicht immer noch sinnloses Leid geben: Nämlich dann, wenn wir das Leid nicht gestalten und das Sinn-Angebot Gottes ablehnen. Wer sich auch durch Leiderfahrungen nicht auf die helfende Hand Gottes einlassen will, kann keinen Sinn mehr im Leid erkennen. Wer aber auf den im Leid anwesenden Gott baut und vertraut, der braucht keinen Sinn mehr zu erkennen - er hat den Sinn des Leids ergriffen. Wie beim Chiropraktiker Louis sieht der Christ im Leid "die Engel, die dich erlösen."

Der Sinn des Leids liegt aber nicht nur - wie die oben genannten Beispiele nahelegen - in der Bekehrung des Sünders. Leid ist nicht identisch mit einem "Warnschuss vor den Bug", damit wir endlich umkehren; wir würden das Leid verniedlichen, wenn wir es lediglich als "Zeichen" sehen, mit dem Gott uns (oder anderen) "etwas" sagen möchte.
Leid ist immer auch das, was es ist: schmerzliches Leiden, Not, Elend und Verzweiflung. Wir sind immer (!) aufgerufen, Leid zu lindern, zu mildern, Trost zu spenden und Hilfe zu leisten. Gerade in der tätigen Nächstenliebe liegt das vermutlich größte Angebot Gottes, "Himmel zu wirken": Als Helfer schenken wir uns selbst und den Betroffenen eine Gotteserfahrung!

Im aktiven Einsatz gegen das Leid liegt bereits Himmel! Niemals darf der Glaube, dass Leid immer einen Sinn erhalten kann, dazu führen, Leid zuzulassen oder zu vermehren.

Angeblich lag darin der Sinn der Hexen- und Ketzerverbrennungen auf dem Scheiterhaufen: Die Richter und Henker wollten die Verurteilten durch das Leid läutern und ein wenig vom Fegefeuer vorwegnehmen. - Das klingt vielleicht besonders fromm; es ist aber das genaue Gegenteil von christlich.
Nicht die Gesunden brauchen den Arzt

Ein Arzt, der seinen Patienten mutwillig Schmerzen zufügt, ist kein Arzt. Ebenso ist ein Arzt, der seinen Patienten lieber sterben lässt, als eine leidvolle Therapie zuzumuten, ein schlechter Arzt. Erst ein Arzt, der einen Patienten heilt und die dabei unvermeidbaren Schmerzen soweit lindert, wie möglich, ist ein guter Arzt. Den Arzt, der seinen Patienten heilt und den größten Teil der Schmerzen dafür selber trägt, erkennen wir in Jesus Christus.

In unserem Bemühen, Jesus ähnlich zu werden, tragen manche Christen freiwillig am Leid anderer mit. Für manche Menschen ist ein solches Verhalten fragwürdig: Wird das Leid hier nicht sadistisch verklärt und pervertiert?

Ja, das kann passieren, wenn wir nicht mehr den Menschen, um dessentwillen wir fremdes Leid auf uns nehmen, vor Augen haben; wenn der Stolz uns packt und wir uns rühmen, wie groß unsere Liebe ist, angesichts der Größe des Leids, das wir für andere tragen. Da müssen wir Christen ganz vorsichtig sein und uns immer darauf besinnen: Nicht das Leid, sondern die Liebe zählt.

Deshalb hat die Kirche schon vor Jahrhunderten gemahnt: Niemand darf sich zum Martyrium drängen oder es herausfordern.

Aber es gibt auch heilsame Wirkungen des Leids, die es sinnvoll erscheinen lassen, sich gelegentlich kleine Portionen davon freiwillig zu gönnen. Wir Katholiken gewähren uns diese homöopathischen Dosen zum Beispiel in der Fastenzeit oder am Freitag, an dem wir zu einem Opfer aufgerufen sind. Manche verzichten auf Luxus, andere auf Essen, andere auf das Auto oder auf Fleischspeisen.

Die Grenze zwischen Verzicht, Opfer und Schmerzen ist dabei nicht immer klar; deshalb wirken manche Praktiken (z.B. "Pfennig im Schuh", "Bußgürtel" oder der Verzicht auf Schmerzmittel) auf Außenstehende abstoßend. Bevor wir aber nicht nur solche Praktiken verurteilen, sondern auch noch die Menschen, die sie ausüben: Solange dies aus Liebe geschieht und nicht aus Freude am Leid, solange sollten wir uns im Urteil zurückhalten.

Diese kleinen Leiderfahrungen erinnern uns daran, dass auch wir noch Heilung brauchen. "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken" hat Jesus gesagt. Mit wohldosierten Nadelstichen erinnern wir uns daran, dass physisches und psychisches Wohlergehen nicht bedeutet, dass wir geistlich gesehen schon Heilige sind..

5. Teil: Die christliche Antwort auf das Leid
Mitleid

Trotz der sicher hilfreichen Gedanken aus dem letzten Abschnitt bleibt es dabei, dass wir das Theodizee-Problem philosophisch nicht lösen können. Das hindert uns aber nicht daran, eine christliche Antwort auf die Frage nach dem Leid - und dem Sinn des Leids - zu geben. Diese Antwort besteht nicht in der Auflösung der Frage nach dem "Warum?" oder "Woher?" des Leids, sondern in der Reaktion Gottes auf das Leid: Gott hat das Leid nicht denen überlassen, die es verursacht haben, sondern Er ist selbst der leidende Gottesknecht geworden.

Warum auch immer das Leid in die Welt gekommen ist - aus den gleichen Gründen, warum Gott es zugelassen hat, kann und will er es nicht gewaltsam und machtvoll "entfernen"; mit einem Akt der göttlichen Gewalt gegen "das Böse" würde Gott auch die freie Existenz des Menschen aufheben. Anstatt aber die gesamte, nunmehr gefallene Schöpfung auszulöschen, geht er den mühevollen Weg der Heilung.

Es ist schwierig und langwierig, Menschen, die sich freiwillig entschlossen haben, vom Weg des Guten abzuweichen, wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen; das weiß jeder, der mit schwer erziehbaren und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Jeder, der als Bewährungshelfer, Gefängnisseelsorger oder der mit Drogenabhängigen arbeitet, kennt dieses Problem und weiß, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Wichtig und entscheidend ist, heilend und mitleidend den Menschen zur Seite zu stehen.

Wer aber Menschen zur Seite stehen will, die mehr oder weniger das Gespür für das Gute verloren haben, wird früher oder später auch selbst zur Zielscheibe von Aggressionen. Ein Erzieher zum Guten muss es aushalten, dass er selbst abgelehnt und angegriffen wird.

Das gilt aber nicht nur für besonders auffällige Jugendliche - das gilt letztlich für jeden Menschen. Wer liebt, muss auch in der Ehe, in der Familie und in "ganz normalen" Schulen sein Herz denen hinhalten, die es verletzen. Nur so kann Erziehung, Führung und Heilung geschehen.

So hat auch Gott den Menschen im Leid nicht alleingelassen; er ist selbst Mensch geworden, er war bereit, das Leid der Welt zu ertragen; das Leid, das ausdrücklich Ihm angetan wird. Weil er uns liebt, hat er von uns keine Gerechtigkeit angesichts des verursachten Leids verlangt, sondern selbst getragen, was wir verdient hätten. Er leidet nicht nur wie jemand, der einem verletzten Hund helfen will und dabei gebissen wird; er leidet freiwillig auch an Stelle derer, die für alle Verletzungen verantwortlich sind.

Näheres zu dieser bewegenden Thematik findest Du in der Katechese "Erlösung - Oder: Ist Hitler im Himmel?"

Gott bewahrt nicht vor dem Leid, sondern im Leid

Gottes großartiges Werk erschöpft sich aber nicht im Mitleiden; das, was er an Leid trägt, nimmt er uns buchstäblich ab. Unser Leid wird tatsächlich erträglicher durch Gottes Wirken!

Das Leid eines Menschen besteht ja immer aus zwei Komponenten: Dem, was einem Menschen äußerlich angetan wird, und dem, was das innerlich im Menschen auslöst. Ob Gott wirkt, dürfen wir nicht nur auf die Frage nach der Existenz des äußerlichen Leids beschränken; sein bevorzugtes Wirkungsfeld ist nämlich die Seele des Menschen. So kann man durchaus feststellen, dass im Glauben und durch die Gnade gefestigte Menschen Schicksalsschläge besser verkraften und sich auch in großer Not eine Hoffnung bewahren. Und gnadenhaft kann es durchaus sein, dass auch Opfer von Gewalt und Folter von Gott im Inneren vor den schlimmsten Auswirkungen bewahrt bleiben.

Vor allem aber will uns Gottes Liebe vor Gedanken der Rache, dem Schrei nach Vergeltung, die Verweigerung von Vergebung und den Verlust von Glauben, Selbstachtung und Liebe bewahren. Gott verhindert das Leid nicht immer, aber er verhindert verblüffend oft die seelische Finsternis, die das Leid verursacht.

Trost

Alles das kann man schon unter den Begriff "Trost" zählen. Es gibt mindestens vier Formen, die der Trost annehmen kann:

(1) Ich kann dem leidenden Menschen einfach zur Seite stehen und ihn mit meiner Nähe trösten, ihm zeigen, dass er nicht allein ist.
(2) Oder ich kann versuchen, das Leid zu lindern, beim Überwinden des Leids helfen oder es sogar ganz beiseite zu schaffen - indem ich Krankheiten heile, Hunger stille, Schuld verzeihe oder Einsamkeit überwinde.
(3) Zudem ist es mir oft möglich, den Horizont des Leidenden zu weiten und Hoffnung zu wecken. Ich kann (wie meine Zahnarzthelferin es immer wieder versucht) darauf verweisen, dass es "gleich vorbei ist", dass es bereits Zeichen der Erlösung vom Leid gibt - oder dass etwas Neues entsteht, für das sich das Leid lohnt (z.B. im Liebeskummer eine neue Liebe). Ich kann vor allem auf die Würde verweisen, die wir im Leid immer noch haben und die uns niemand nehmen kann, selbst wenn er uns Leid antut.
(4) Schließlich ergibt sich noch aus der Erkenntnis, dass es neben dem Leid auch anderes, Gutes gibt, das mir Kraft schenkt, mich stärkt und leben lässt, die vielleicht stärkste Form des Trostes: Die Erfahrung von Größe, Kraft, Liebe, Beistand. Das Wort "Ablenkung" ist dafür viel zu wenig; es geht eher um die "Lenkung" des Blicks: Weg vom Leidvollen und Verlorenen, hin zum Frohmachenden, Aufbauenden und Gnadenhaften.

Jemanden, der 100 Euro verloren hat, kann ich also (1) in den Arm nehmen; (2) ihm zumindest 50 Euro aus meinem Besitz geben; (3) ihn darauf verweisen, dass es bald wieder Taschengeld gibt und (4) ihm zeigen, dass man auch ohne Geld guten Grund zum Glücklichsein hat.
Die Kirche als "Trost-Einrichtung"

Diese vier Arten des Trostes finden sich in den Grundvollzügen der Kirche wieder: in der Koinonia (der Gemeinschaft der Kirche); in der Diakonia (der tätigen Nächstenliebe); in der Martyria (dem Zeugnis von der Wahrheit unseres Glaubens) und schließlich in der Liturgia (der gefeierten Gottesbeziehung).

Die Kirche lebt in diesen vier Trostweisen; vor allem aber wirkt Gott in diesen Vollzügen und ermöglicht so jedesmal für alle Beteiligten eine Erfahrung seiner Gegenwart. So ist es die Aufgabe der Kirche, den Leidenden und Ärmsten dieser Welt nahe zu sein - nicht nur in der offiziellen Seelsorge der Priester, sondern in jeder Form der persönlichen Nähe durch die Getauften.
Es ist die Aufgabe der Kirche, Not und Leid zu lindern und, wenn möglich, zu verhindern. In den großen diakonischen Werken der Kirche (Misereor, Adveniat, Renovabis, Missio) und noch mehr in den freien Initiativen der Christen (z.B. den Bettelorden, den Missionarinnen der Nächstenliebe, der Initiative "Kirche in Not" und vielen anderen) wirkt Gott auf vielfältige Weise Heil - sowohl bei den Adressaten der Hilfe, als auch bei den Helfern!
Es ist weiterhin die Aufgabe der Kirche, den Menschen die Augen zu öffnen für das Heilswerk Gottes: Vergebung zu predigen, Versöhnung zu stiften, Hoffnung aufzuzeigen, vom Leben der Heiligen und dem Beistand der Engel zu reden; den Glauben an das kommende Leben ebenso zu verkünden wie die Erlösung durch Christus - und Zeuge dafür zu sein, dass dieses Leben schon hier in Fülle zu finden ist.
Nicht zuletzt ist es Aufgabe der Kirche - also aller Christen - trotz des Leids in der Welt nicht aus den Augen zu verlieren, dass es unzählige Gründe zur Dankbarkeit gibt; unzählige Anlässe, Gott zu loben und Ihn zu feiern; unzählige Augenblicke, Erlösung in sakramentalen Momenten zu erfahren. Eine Kirche ohne Gottesdienst ist letztlich eine trostlose Erscheinung.

Jesu Leben als Trost

Die Kirche lebt nur, weil und solange Jesus Christus in ihr lebt. Die vier Formen des Trostes können nur dann wesentliche Grundzüge ihres Lebens sein, wenn sie die irdische Existenz Jesu fortsetzen. Jesus Christus ist DER TROST schlechthin: Er schenkt uns seine Nähe (Koinonia) in seiner Menschwerdung ("so nahe will Gott uns sein") und seinem stellvertretenden Leiden am Kreuz ("so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab"). Er hat in seinem irdischen Leben Leid gelindert (Diakonia), indem er Kranke heilte, Blinde sehend machte, Zerschlagene aufrichtete und Gefangenen Freiheit schenkte ("und er heilte alle"). Er war Zeuge einer größeren Wirklichkeit (Martyria), die er uns in Worten, Wundern und Werken vor Augen führte; so hat er unseren Blick aus der Begrenzung auf das rein Irdischen befreit und geweitet auf eine größere Welt hin. In seiner Auferstehung hat er uns ein neues Sein verheißen und vor Augen geführt. Und schließlich hat er sein größtes Wunder gestiftet: In der Eucharistie nimmt er unsere persönlichen Opfer an, verwandelt sie in sein Opfer und nimmt die himmlische Freudenfeier vorweg. Er vereint in der Feier (Liturgia) des Glaubens und der Sakramente bis heute Dank, Bitte, Lob und Anbetung.ng.

Ist Klagen und Fragen erlaubt?

In der Rock-Oper "Jesus Christ Superstar" singt Jesus vor seinem Leiden im Garten Gethsemani: «Why should I die? Can you show me now that I would not be killed in vain? Show me just a little of your omnipresent brain! Show me there's a reason for you wanting me to die!»- Es mag sein, dass Jesus hier Worte in den Mund gelegt werden, die allzu menschlich sind. Aber wenn wir die Menschwerdung Jesu und die Entäußerung aller göttlichen Eigenschaften in Gethsemani ernstnehmen, dann dürfte Jesus auch diese Sehnsucht nicht fremd gewesen sein: «Ich möchte nicht nur glauben, dass dieses Leid einen Sinn haben wird: Ich möchte diesen Sinn sehen!»
Genau in dieser Spannung - dem Glauben, ja sogar Wissen um das Ziel der ganzen Schöpfung und dem nicht Erkennenkönnen der Bedeutung des einzelnen Ereignisses - in dieser Spannung liegt unser Leben. Und in dieser Spannung ist immer noch Platz für Trauer, Leid und Klage.

Ja. Nicht trotz unseres Glaubens, sondern aufgrund unseres Glaubens haben wir Christen immer noch ein Recht auf Klage. «Ich möchte diesen Sinn sehen!»- Das ist, recht verstanden, keine Einforderung eines Rechtes, sondern Ausdruck einer unendlichen Sehnsucht, die sich hier auf Erden nicht endgültig stillen lassen wird. Klagen ist ja nicht notwendig ein Anklagen.

Hiob konnte zwar die christliche Antwort auf das Leid nicht kennen; - er wusste nicht, welche Erlösung Gott selbst geplant hat. Aber Hiob glaubte dennoch unbeirrt an seinen Gott und hielt an diesem Glauben eisern fest - und bestand dennoch darauf, Gott sein Leid zu klagen.

Klagen und Glauben sind keine Gegensätze; im Gegenteil: Die dringliche Bitte an Gott, er möge uns diesen Sinn sehen lassen, ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Sinn, die wir in dieser Welt wachhalten müssen: Es ist nichts anderes als Heimweh nach dem Himmel.

...was am Leiden Christi noch fehlt

Paulus schreibt manchmal Dinge, die uns noch 2000 Jahre später aufregen: Was meint Paulus mit dem Satz »Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt«? (Kol 1,24) Inwiefern "fehlt" am Leiden Christi etwas, das man "ergänzen" kann? Genügt sein Opfer nicht?

Wenn ich jetzt antworte: "Nein, es genügt nicht..." folge ich Paulus zumindest in seiner provozierenden Denk- und Redeweise. Natürlich hat Jesus alles getan, was notwendig war. Aber um gerettet zu werden, muss nicht nur Gott etwas tun, sondern auch der Mensch: nämlich die Entscheidung treffen, sich retten zu lassen. Und das kann ihm keiner abnehmen.
Diese Entscheidung ist keine einmalige, sondern ein lebenslanges Einüben. Und das kann leidvoll sein.
Wir nehmen dieses Leid dennoch auf uns und lassen uns bekehren, immer wieder; wir geben Zeugnis durch unser Leid und ebnen (eventuell) den Weg zur Bekehrung anderer. In beidem werden wir Christus ähnlicher: Als Erlöste und als Mit-Erlöser. Und deshalb ist das Leid nicht mehr das, was es früher einmal war. Das Kreuz ist kein Schandmal mehr, sondern eine Brücke in die ewige Seligkeit.

Als Miterlösende ist es uns - in Jesus Christus - nun möglich, unser persönliches Leid als stellvertretendes Leid für andere aufzuopfern.

Auf Seite 13 schrieb ich: "Den Arzt, der seinen Patienten heilt und den größten Teil der Schmerzen dafür selber trägt, erkennen wir in Jesus Christus." - Nun kann kein Arzt wirklich anstelle seines Patienten Leid - wenn es um physische Krankheiten gibt. Aber um einem Kind mit einer Lebensmittelallergie oder Diät den Verzicht zu ermöglich, kann die ganze Familie sich ebenfalls der kritischen Lebensmittel enthalten. In diesem Sinne ist christliches Mitleid nicht etwas, das man "hat" («Ich habe so schreckliches Mitleid mit den hungernden Kindern in Afrika!»); sondern etwas, das man tatsächlich trägt.
Und in einem noch tieferen, noch wirksameren Sinn kann mein persönliches Leid zum Mit-Opfer werden, wenn ich es mit dem Opfer Jesu verbinde; durch das stellvertretende Leiden Jesu kann auch mein Leid (getragen in christlicher Hoffnung) Schuld nehmen und Heilung möglich machen.

Leid, dessen Sinn mir klar vor Augen steht (zum Beispiel der Schmerz bei einer Bewegungstherapie, von der ich mir schließlich völlige Gesundheit verspreche), wird vielleicht gar nicht mehr als wirklich Leid erfahren; wir sollten daher zwischen "Leid" und "Leiden" unterscheiden. Für uns Christen, die von der Sinnhaftigkeit der ganzen Wirklichkeit überzeugt sind, bleibt "Leid" zwar immer noch Leid; aber das "Leiden" daran wird immer geringer. Das größte Geheimnis der christlichen Erlösung kann jedoch vermutlich nur erfahren werden: Das persönliche Leid, getragen als ein Leiden mit Christus für die Heilung ("Sühne") der Welt, wird zum Leid, das Christus mit mir trägt. Für den Teil des Leids, der dann noch als mein Leiden verbleibt, loben und preisen zahlreiche Heilige Gott - voller Dankbarkeit. "Wer das erfassen kann, der erfasse es." (Mt 19, 12)

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