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»Amoris laetitia«: Über den Sinn und Zweck von Moraltheologie

Ich bin kein hochstudierter Theologe wie andere Professoren, Kardinäle oder gar der Papst. Außerdem hat die Karl-Leisner-Jugend es sich zur Aufgabe gemacht, den katholischen Glauben vorzustellen - und sich nicht zur Tagespolitik und aktuellen Debatten zu äußern. Zwei gute Gründe, warum ich diese Katechese nicht schreiben sollte.

Aber: Wie auch bei einigen anderen Katechesen kann ein aktueller Streit auch dazu dienen, sich grundsätzliche Dinge klarzumachen und Begriffe und Gedanken wieder sauber zu sortieren. So habe ich anhand von Dawkins »Gotteswahn« Grundsätzliches zur Gotteserkenntnis gesagt und anhand des Bestseller »Sakrileg« sowohl die Gnosis beleuchtet als auch die katholische Erlösungslehre veranschaulicht. Auch diesmal möchte ich vor allem über den Sinn und Zweck von katholischer Moral nachdenken - und hoffe, damit auch ein wenig zur Erhellung des Streites um Amoris laetitia beizutragen. Vielleicht kann so gleichzeitig die aktuelle Diskussion zu einem besseren Verständnis von Moraltheologie und Pastoral führen.


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Diese Katechese ist auch als gedrucktes Heft (Nr. 119) erhältlich: Kostenlose Bestellung

 

Vorbemerkungen

Für alle, die weder von Amoris laetitia gehört haben noch von der Auseinandersetzung, die zur Zeit (2017) darum geführt wird - oder für Leser in einer ferneren Zukunft, in der andere Themen die Gemüter bewegen:

  • Amoris laetitia (auf deutsch: Die Freude der Liebe) ist ein päpstliches Schreiben, das sich mit der Lehre der Kirche zur Liebe in Ehe und Familien beschäftigt.

  • Amoris laetitia (abgekürzt: AL) ist ein postsynodales Schreiben, weil es im Anschluss an eine vatikanische Synode (eine Versammlung zahlreicher Bischöfe) deren Beratungsergebnisse zusammenfasst und diese mit der Antwort des Papstes verbindet.

  • Dieses Schreiben wurde am 8. April 2016 der Öffentlichkeit vorgestellt, datiert ist es vom 19. März 2016.

  • Im allgemeinen wurde das umfangreiche Schreiben (mit 325 Abschnitten) positiv aufgenommen; vor allem um eine einzelne Fußnote entspann sich jedoch eine Diskussion, die zur Zeit (im Januar 2017) durchaus als theologischer Streit (im guten und auch im schlechten Sinne des Wortes) bezeichnet werden darf.

  • Im entsprechenden Satz heißt es (Abschnitt 305): »Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde - die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist - in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.«

  • Und in der Anmerkung 351, die diesem Satz zugeordnet ist, steht: »In gewissen Fällen könnte es auch die Hilfe der Sakramente sein. Deshalb »erinnere ich [die Priester] daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn.« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium [14. November 2013], 44: AAS 105 [2013], S. 1038). Gleichermaßen betone ich, dass die Eucharistie »nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen« ist (ebd., 47: AAS 105 [2013], S. 1039).«

Die fünf »dubia«

In fünf Anfragen an den Papst haben sich wohl mehrere Kardinäle und Bischöfe um eine Klärung von inzwischen aufgeworfenen Fragen bemüht. Nachdem der Brief vom Papst nicht beantwortet wurde, haben nunmehr vier Kardinäle (Joachim Meisner, Walter Brandmüller, Raymond L. Burke und Carlo Caffarra) diese Anfragen im September 2016 veröffentlicht. Neben Vorbemerkungen, dem Anschreiben an den Papst und einer ausführlichen Erläuterungen dokumentieren wir hier die fünf Anfragen (»dubia« - zu deutsch: »Unsicherheiten«).

1. Es stellt sich die Frage, ob es aufgrund dessen, was in »Amoris laetitia« Nr. 300-305 gesagt ist, nunmehr möglich geworden ist, einer Person im Bußsakrament die Absolution zu erteilen und sie also zur heiligen Eucharistie zuzulassen, die, obwohl sie durch ein gültiges Eheband gebunden ist, »more uxorio« mit einer anderen Person zusammenlebt - und zwar auch wenn die Bedingungen nicht erfüllt sind, die in »Familiaris consortio« (Nr. 84) festgelegt sind und dann in »Reconciliatio et paenitentia« (Nr. 34) und »Sacramentum caritatis« (Nr. 29) bekräftigt werden. Kann der Ausdruck »in gewissen Fällen« der Anmerkung 351 (zu Nr. 305) des Apostolischen Schreibens »Amoris laetitia« auf Geschiedene in einer neuen Verbindung angewandt werden, die weiterhin »more uxorio« zusammenleben?
2. Ist nach dem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben »Amoris laetitia« (vgl. Nr. 304) die auf die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche gegründete Lehre der Enzyklika »Veritatis Splendor« (Nr. 79) des heiligen Johannes Paul II. über die Existenz absoluter moralischer Normen, die ohne Ausnahme gelten und in sich schlechte Handlungen verbieten, noch gültig?
3. Ist es nach »Amoris laetitia« Nr. 301 noch möglich, zu sagen, dass eine Person, die habituell im Widerspruch zu einem Gebot des Gesetzes Gottes lebt - wie beispielsweise dem, das den Ehebruch verbietet (vgl. Mt 19,3-9) -, sich in einer objektiven Situation der habituellen schweren Sünde befindet (vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Erklärung vom 24. Juni 2000)?
4. Soll man nach den Aussagen von »Amoris laetitia« (Nr. 302) über die »Umstände, welche die moralische Verantwortlichkeit vermindern“, die auf die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche gegründete Lehre der Enzyklika »Veritatis Splendor« (Nr. 81) des heiligen Johannes Paul II. für weiterhin gültig halten, nach der »die Umstände oder die Absichten niemals einen bereits in sich durch sein Objekt unsittlichen Akt in einen ’subjektiv‘ sittlichen oder als Wahl vertretbaren Akt verwandeln« können?
5. Soll man nach »Amoris laetitia« (Nr. 303) die auf die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche gegründete Lehre der Enzyklika »Veritatis Splendor« (Nr. 56) des heiligen Johannes Paul II. für weiterhin gültig halten, die eine kreative Interpretation der Rolle des Gewissens ausschließt und bekräftigt, dass das Gewissen niemals dazu autorisiert ist, Ausnahmen von den absoluten moralischen Normen zu legitimieren, welche Handlungen, die durch ihr Objekt in sich schlecht sind, verbieten?

Bis dato (Januar 2017) sind die Anfragen nicht beantwortet worden - weder vom Papst, noch von der (nur auf seine Anweisung hin tätig werdenden) Glaubenskongregation.

I. Unterschiede machen
1. Das Leben ist nicht schwarz-weiß, sondern grau (oder gar bunt)

Augenscheinlich geht es in dieser Auseinandersetzung um die Zulassung Wiederverheirateter zu den Sakramenten, insbesondere zur Kommunion. Die Antwort des Papstes, die darauf verweist, dass es Situationen der objektiven Sünde gibt, die jedoch subjektiv nicht verschuldet wurden - und der Hinweis, die Sakramente (der Beichte und Eucharistie) können eine Hilfe für die Menschen in dieser Situation sein - werfen grundsätzliche Fragen auf, die zur Heftigkeit der momentanen Diskussion führen.

Denn viele Leser (so auch Kardinal Schönborn) sehen in der neuen Sprache des Schreibens eine Vermeidung der klaren Einteilung in erlaubt und unerlaubt, und somit ein neue Sprache der Inklusion. Oder, um es mit den Worten Kardinal Schönborns zu sagen, der das Schreiben AL im Auftrag des Papstes der Öffentlichkeit vorstellte: »Meine große Freude an diesem Dokument ist, dass es konsequent die künstliche, äußerliche, fein säuberliche Trennung von »regulär« und »irregulär« überwindet und alle unter den gemeinsamen Anspruch des Evangeliums stellt«.

Das Leben ist eben nicht schwarz weiß, und viele Situationen, in die Menschen geraten, lassen sich nicht klar bewerten, einordnen und auf ein einzelnes Motiv reduzieren, das mit klaren Prinzipien in ein ebenso klares und logisch einwandfreies Urteil überführt werden kann. Das Leben ist nicht schwarz-weiß, es ist grau in allen Abstufungen - vielleicht sogar bunt.

Das wagt keiner zu bestreiten - auch wenn Verteidiger von AL den Kritikern genau das vorwerfen: Sie würden das Leben in Schubladen pressen. Zudem hätten sie nur zwei Schubladen (was die Sache noch verwerflicher macht) mit der Aufschrift »erlaubt« oder »verboten«. Ein solcher Vorwurf wird weder der Diskussion gerecht - noch den Diskutierenden. Auch nicht den vier Kardinälen Meisner, Brandmüller, Burke und Caffarra.

Dass dieser Vorwurf dennoch immer wieder erhoben wird, liegt daran, dass nicht (oder zumindest nicht genügend) unterschieden wird zwischen Moraltheologie - und deren pastoralen Anwendung.

2. Morallehre ist Prinzipienlehre. Prinzipien sind nicht bunt.

Die Moraltheologie beschäftigt sich nicht mit konkreten Situationen, Personen oder Ereignissen. Moraltheologie ist eine Prinzipienlehre, die als Grundlage für abwägende und gerechte Urteile dienen soll. Prinzipien sind aber nicht bunt; sie sind auch nicht grau. Moralische Prinzipien dienen zwar der Klärung, was gut, was noch ein bisschen gut, was böse oder gar abgrundtief schlecht ist - und was irgendwo dazwischen liegt. Und was man vielleicht gar nicht entscheiden kann. Um ihren Zweck jedoch zu erfüllen, müssen die Prinzipien selber klar formuliert sein; mit unklaren Formulierungen klärt man keine verwickelten Situationen, sondern breitet allerhöchstens einen sprachlichen Mantel über unklare Situationen, die so nur verdunkelt und kaschiert werden.

Wer verlangt, dass die Unterschiede zwischen gutem und bösem Handeln aufgehoben oder zumindest sprachlich weichgespült werden sollen, der hebt letztlich jede Moral auf. Ein solcher Vorwurf wird weder der Diskussion noch den Diskutierenden gerecht, auch nicht dem Papst, Kardinal Schönborn oder anderen Verfechtern von AL.

Dass dieser Vorwurf dennoch immer wieder erhoben wird, liegt daran, dass Amoris laetitia eben keine neue Moraltheologie, sondern eine erneuerte Pastoral fordert. Amoris laetitia ist in dieser Hinsicht offensichtlich ein pastorales Schreiben.

3. Die begrenzte Anwendung von Prinzipien auf das Leben

Prinzipien sind klar - von mir aus »schwarz-weiß«, oder: »scharf«. Das müssen sie sein, wie ein Skalpell, das ein Chirurg dazu benutzt, gefährliches Tumorgewebe vom befallenen Organ zu trennen. Dazu braucht der Chirurg ein gutes Auge, eine ruhige Hand und viel Erfahrung. Was er nicht gebrauchen kann, ist ein stumpfes Skalpell.

Es liegt es in der Natur der Sache, dass man über die angemessene Anwendung von Prinzipien unterschiedlicher Meinung sein kann. Es kann sogar vorkommen, dass eine eindeutige Klärung einer uns vorliegenden Situation oder eines Ereignisses nicht möglich ist. Das liegt dann zumeist nicht an den Prinzipien, sondern am mangelnden Einblick in die Realität, an unklaren Aussagen, verworrenen Motiven, verschiedenen Erinnerungen an Vergangenes oder sonstigen Informationsmängeln.

Manchmal kann es auch den Prinzipien liegen, die nicht klar genug gefasst worden sind. So überrascht es nicht, dass ein Urteil aus Mangeln an Beweisen gewisse Gruppen in Medien, Politik und Bevölkerung sofort nach »besseren Gesetzen« rufen lässt. Oft sind es aber nicht die Gesetze, sondern schlicht das Leben, das eine klare Beurteilung nicht zulässt.

In Situationen, in denen eine Klärung einer moralischen Lage nicht möglich ist, helfen selten neue Moralprinzipien; vielmehr sind dann »Ausführungsbestimmungen« gefragt.

Der Richter, der ein Urteil nicht fällen kann, weil ihm der letzte Beweis fehlt, braucht keine neuen Gesetze gegen die zur Diskussion stehenden Verbrechen. Er braucht eine Prozessordnung, die ihm hilft zu entscheiden, ab wann eine Verurteilung zulässig ist oder ob weitere Ermittlungen angeordnet werden müssen, ob eine Freilassung mit oder ohne Auflagen geboten ist und ob an den Freigesprochenen Entschädigungszahlungen fällig sind. Zur alten schottischen Rechtssprechung gehört beispielsweise die Möglichkeit, dass der Richter auf »unentschieden, ob schuldig oder nicht-schuldig« entscheiden konnte.
4. Die Prüfung des Einzelfalles

Nun können keine allgemeinen Prinzipien der Moraltheologie auf konkrete Situationen angewandt werden, ohne »Einzelfallprüfung«. Ja, die Prüfung des Einzelfalles ist nichts anderes als die Anwendung von Moral, denn es geht ja immer um die Frage, was allgemeine Prinzipien zum konkreten Fall - dem »Einzelfall - zu sagen haben.

Die Idee, Vertreter von allgemeinen moraltheologischen Prinzipien würden eine Einzelfallprüfung ablehnen, ist abwegig. Denn das hieße, sie würden die Anwendung der Moraltheologie auf das konkrete Leben ablehnen. Aber gerade deshalb gibt es die Theologie doch: Damit sie angewendet wird.

Noch abwegiger ist es, in der Formulierung von Prinzipien der Moral bereits die »Berücksichtigung des Einzelfalls« einzubauen. Wer das tut, fällt in die Kasuistik vorchristlicher Kulturen zurück. Eine IKEA-Aufbauanleitung würde nicht mehr funktionieren, wenn dort alle Einzelfälle (zu kleine Wohnung, zu niedrige Decke, schiefe Böden, Schimmelbefall der Wände, nicht vorhandene Schraubenzieher, Erdbebengefährdung oder Sturmflutgefahr) berücksichtig würden.

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts gab es moraltheologische Handbücher (wie z.B. vom Münsteraner Professer Jone), die die Praxisanwendung der moralischen Prinzipien bis ins Detail regelten. Sie waren zwar als Hilfe für die Beichtpriester gedacht, nahmen ihnen aber Freiheit, auf die Beichtenden pastoral verantwortlich einzugehen. Indem Moraltheologie und Pastoraltheologie nicht sauber unterschieden wurde und sich die moralische Prinzipienlehre zu vieler Einzelfälle annahm, hat sowohl die Moraltheologie als auch die Pastoral gelitten.

Ausführungsbestimmungen setzen klare Prinzipien voraus, sind aber nicht dessen Bestandteil. Das gilt auch für staatliche Gesetze und moralische Prinzipien.

5. Der Zusammenhang von Moraltheologie und Leben

Nun stellt sich allerdings die Frage (und damit sind wir beim grundsätzlichen Erkenntnisgewinn, den diese Katechese im Auge hat), wofür denn eine Moraltheologie gedacht ist. Geht es darum, die Verfehlungen der Menschen zu bewerten? Die »Irregularität« (oder »Regularität«) von Lebenssituationen einzuschätzen?

Hier hat Kardinal Schönborn sicher recht (wenn er denn seine Aussagen so gemeint hat), dass die Einteilung in Schubladen nicht die Aufgabe der Moraltheologie sei.

Der »Jone« (so wurde das Beichthandbuch des vorhin genannten Professors Jone aus Münster genannt) diente vielen Priestern im Beichtstuhl dazu, die gebeichteten Sünden zu klassifizieren und entsprechende Bußen zu verleihen. Die Moraltheologie als ein Nachschlagwerk für den Beichtgebrauch? Das kann man heute getrost als »Derivat« (Verkümmerung) der Moral bezeichnen.

Vielmehr gilt: Die Moral fragt, was »gut« ist. Thomas von Aquin übersetzt »das Gute« mit »dem, was zu tun ist« bzw. »dem, was angestrebt wird«. Die Moral­theologie dient also dem Blick nach Vorne. Es geht nicht um eine rückwärtsgewandte Katalogisierung von Handlungen, sondern um die Frage, in welche Richtung sich der glaubende Christ bewegen soll. Welche Handlungen sind vordringlich und welche zu unterlassen? Was ist hilfreich - und was ist schlecht und raubt Freiheit?

So kennt die katholische Theologie zwar das absolute Gute und leugnet, dass es das absolut Böse gibt. Die Moraltheologie kennt umgekehrt nur absolut, also unbedingt zu meidende Taten (wie z.B. Mord, Vergewaltigung, Erpressung und Folter), aber keine immer und überall notwendigen Handlungen. Moraltheologie will helfen, Böses zu meiden und Freiheit zurückzugewinnen.
6. Nicht Barmherzigkeit will ich, sondern Recht.

Menschen, denen Unrecht getan wird, reagieren allergisch darauf, wenn Ihnen Mitleid statt Gerechtigkeit angeboten wird. Verletzte Menschen, die Unrecht erlitten haben, wollen keine Barmherzigkeit, sondern ihr gutes Recht. Das leuchtet ein und ist eine in der Würde des Menschen verankerte Verpflichtung für jeden von uns. Vorausgesetzt, ihnen wird tatsächlich Unrecht getan.

Es entsteht ein Problem, wenn die Ansicht darüber auseinander geht, worauf ein Mensch konkret und jeweils ein tatsächliches Recht hat. Falls man da unterschiedlicher Meinung sein sollte, ist das Angebot (und auch die Forderung) von Nachsicht und Großzügigkeit eher arrogant und problemverschärfend. Deshalb hilft es nicht in der Diskussion um die Frage, ob es ein Recht des Menschen gibt, eine Zweit- oder Mehrfach-Ehe zu schließen oder sie im Nachhinein als gültig und gut anerkennen zu lassen, ihnen stattdessen pastorale Barmherzigkeit anzubieten. Recht prinzipiell von Unrecht zu unterscheiden ist keine Frage von pastoraler Großherzigkeit.

II. Pastorale Konzepte zur Wiederheirats-Problematik

Im Leben der Kirche sprechen wir allerdings nicht von »Ausführungsbestimmungen« oder von einer »Prozessordnung«, sondern von der »Pastoral«. Und in der hier diskutierten Frage - der nach der Wiederheirat von bereits Verheirateten - gibt es mindestens zwei in der Kirche schon seit längerem etablierte und gut ausgeführte pastorale Ansätze.

1. Der Mangel an Beweisen

So kann es sein, dass eine verheiratete Person erneut heiraten möchte, weil sie davon überzeugt ist, dass die erste Ehe unter Umständen geschlossen wurde, die keine gültige Ehe haben zustande kommen lassen. Im allgemeinen wird diese Frage in einem Ehe-Annullierungsprozess geklärt. Aber es kann durchaus sein, dass sich die Umstände nicht mehr eindeutig rekonstruieren lassen und die Nichtigkeit der ersten Ehe nicht nachweisen lässt. In einem solchen Fall hat die Kirche (z.B. in der Enzyklika »Familiaris consortio« von 1981 - von Johannes Paul II. - und in einem Schreiben der Glaubenskongregation von 1994 - vom damaligen Kardinal Josef Ratzinger) klare »Ausführungsbestimmungen« formuliert; also einen pastoralen Umgang mit denen empfohlen, die unter dem nicht ausräumbaren Ehehindernis für ihre zweite Ehe leiden. Ich wage es einmal, diese pastoralen Empfehlungen als einfühlsam und angemessen zu beschreiben; immerhin sind sie weder auf der einen noch auf der anderen Seite Gegenstand von theologischen Streitigkeiten.

Im Jahr 1993 hat Erzbischof Oskar Saier sich zusammen mit den Bischöfen Walter Kasper und Karl Lehmann zur »seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen, Geschiedenen und wiederverheirateten Geschiedenen« geäußert. Die Bischöfe wollten einen Vorstoß wagen und veröffentlichten damals einen Brief an hauptberuflich in der Seelsorge Tätige, ein Hirtenschreiben und Grundsätze zur seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen und von wiederverheirateten Geschiedenen in der oberrheinischen Kirchenprovinz. - Die Auseinandersetzung endete dann förmlich mit dem Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre vom 14. September 1994, in welchem deren Präfekt, Kardinal Joseph Ratzinger festhielt: »In Treue gegenüber dem Wort Jesu hält die Kirche daran fest, dass sie eine neue Verbindung nicht als gültig anerkennen kann, falls die vorausgehende Ehe gültig war. Wenn Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen«. Die Kirche bemühe sich um pastorale Begleitung innerhalb der Grenzen, welche mit den Voraussetzungen des göttlichen Rechts vereinbar seien. (Zitiert nach Michael Schweiger: Ein Anstoß aus der pastoralen Praxis.)

Ebenfalls ganz Pastor und zugleich Theologe wird Papst Benedikt XVI. 2005 im Osservatore Romano zitiert: »Wir alle wissen, dass das ein besonders schmerzliches Problem ist für Personen, die in der Situation leben und vom Empfang der eucharistischen Kommunion ausgeschlossen sind. Ein ebenso schmerzliches Problem ist es auch für Priester, die diesen Menschen helfen wollen, die Kirche und Christus zu lieben. Es ergibt sich eine Schwierigkeit. Keiner von uns besitzt ein Patentrezept, auch weil die Situationen so unterschiedlich sind.« (ebd.)
2. Pastorale Klugheit und die heilige Unwissenheit

Eine weitere, sehr wichtige »Ausführungsbestimmung« zum pastoralen Umgang (mit Wiederverheiratet Geschiedenen), findet sich im »Vademecum für Beichtväter«, einem offiziellem Schreiben des Päpstlichen Rates für die Familie von 1997 - also noch unter Papst Johannes Paul II. Dort heißt es - in einer für unsere Ohren verschwobenen Sprache (in Kapitel 3, Abschnitt 8):

»Zweifelsohne ist auch in Bezug auf die eheliche Keuschheit jenes Prinzip immer als gültig anzusehen, demzufolge es vorzuziehen ist, den Pönitenten in gutem Glauben zu belassen, falls ein auf subjektiv unüberwindliche Unwissenheit zurückzuführender Irrtum vorliegt, und es abzusehen ist, dass der Pönitent, wenngleich unterwiesen, ein Leben des Glaubens zu führen, sein Verhalten nicht ändern würde, sondern vielmehr auch in formaler Hinsicht sündigen würde. Jedoch hat auch in solchen Fällen der Beichtvater sich darum zu bemühen, die Beichtenden immer mehr dahingehend zu fördern, dass sie in ihrem Leben den Plan Gottes annehmen, auch was die Forderungen der ehelichen Keuschheit angeht. Zu diesem Zweck kann der Beichtvater dem Pönitenten das Gebet empfehlen, ihn zur Gewissensbildung auffordern oder ihm eine gründlichere Kenntnis der kirchlichen Lehre anraten.«

Übersetzt in eine etwas einfachere Sprache heißt das: Der Beichtvater muss einem Beichtenden, der sich einer bestimmten Schuld überhaupt nicht bewusst ist (obwohl sie objektiv besteht), nicht notwendig darauf hinweisen. Wenn zum Beispiel die Gefahr besteht, dass dieser dann (wegen gefühlter oder tatsächlicher Überforderung) weiter sündigt - aber jetzt zusätzlich auch noch wissentlich -, kann der Priester ihn davor bewahren. Das gilt natürlich noch mehr, wenn ein solches Gespräch außerhalb der Beichte vonstatten geht oder wenn der Suchende wegen der (gefühlten oder tatsächlichen) moralischen Überforderung sich ganz vom Glaubens abwendet. Das ist keine Moraltheologie - sondern pure Pastoral: Der Beichtvater darf die »heilige Unwissenheit« eines Menschen für eine gewisse Zeit bestehen lassen und ihn erst einmal auf andere Sünden hinweisen, die ihm helfen, die ganze Wahrheit und seine ganze Situation zu erfassen und zu ändern.

Damit es keine Verwechslung zwischen Moraltheologie (die nicht berührt wird) und Pastoral (die dem Menschen angemessen sein muss) gibt, betont das gleich Schreiben sofort im Anschluss: »Das »Gesetz der Gradualität« darf in der pastoralen Tätigkeit nicht mit einer »Gradualität des Gesetzes« verwechselt werden, welche darauf aus ist, dessen Anforderungen zu mindern. Es besteht vielmehr in der Forderung nach einer entschiedenen Abwendung von der Sünde und einem stetigen Voranschreiten in Richtung auf die vollständige Vereinigung mit dem Willen Gottes und dessen liebenswerten Geboten.«

Es überrascht, dass diese kluge und pastorale Möglichkeit, nicht sofort die Einhaltung aller Normen zu fordern, sondern nach und nach die Menschen zur Vollkommenheit zu führen und auf diesem Weg auch schon das Sakrament der Versöhnung und der Eucharistie zu spenden, so wenig bekannt ist. Eigentlich müsste die Diskussion vor allem um die Anmerkung 351 in AL so schnell zu beenden sein: Ja, auf einem Weg hin zur Heiligkeit darf auch der noch Unvollkommene schon die Vergebung und Hilfe der Eucharistie empfangen! Sonst kann er diesen Weg doch gar nicht gehen!

Seltsam, dass dieser Gedanke nicht nur den moralischen Hardlinern ein Dorn im Auge ist, sondern auch von den Kritikern der kirchlichen Sexualmoral abgelehnt wird. Es scheint so, als wenn beide bestreiten, dass die Heiligkeit ein zu gehender Weg ist: Die einen fordern von den Menschen ein Mindestmaß an Heiligkeit schon, bevor diese sich mit der Hilfe der Sakramente auf den Weg machen. Und die anderen weisen diese Forderung zurück und wollen lieber so bleiben, wie sie sind. Sie erwarten, dass die Moral der Kirche sich ändert - damit sie sich nicht selbst ändern müssen.

3. Hinweis auf »Familiaris consortio«

Eine wahre Fundgrube der Verbindungen zwischen Moraltheologie und Pastoral stellt die Enzyklika »Familiaris consortio« (1981) von Johannes Paul II. dar. Ich möchte an dieser Stelle darauf nicht im Einzelnen eingehen - diesen Schatz zu heben und zugänglich zu machen, bedarf es mehr als nur einer Katechese. Wichtig ist nur zu wissen, dass Johannes Paul II. zwar an der Unauflöslichkeit der Ehe festhält, aber dennoch verschiedene pastorale Vorschläge macht, wie ein Zusammenleben in einer zweiten Ehe doch noch möglich sein kann.

III. Fazit
1. So gesehen ist AL nichts Neues...

Der oft beteuerte Wunsch des Papstes Franziskus, nichts an der bestehenden Ehelehre zu ändern (also an der Moraltheologie und den Moralprinzipien), dafür aber die Pastoral noch mehr am Menschen auszurichten, steht also im vollen Einklang mit der Tradition der Kirche und den lehramtlichen Äußerungen der letzten Jahrzehnte. Dem pastoralen Entgegenkommen aus »Familiaris consortio« und dem »Vademecum« hat Papst Franziskus noch eine Vereinfachung im Prozessrecht zur Nichtigkeitserklärung der jeweils ersten Ehe hinzugefügt. Warum also die Aufregung um AL - Nr. 305 - Anmerkungen 351?

2. ...oder doch? Schwieriges Schweigen.

Das Problem ist das Schweigen des Papstes auf die Anfragen der vier Kardinäle - und den zahlreichen Spekulationen über seine Motive, die sich wie so oft aus Schweigen ergeben. Aber auch darin müssen wir sauber unterscheiden: Über das, was den Heiligen Vater im Innersten bewegt, seine heimlichen Gedanken, langfristigen Absichten und eigentlichen Zielen können wir nichts wissen. Spekulationen darüber, und mögen sie noch so indiziengestützt sein, vergrößern nur eine schon vorhandene Unsicherheit und Verwirrung. Über das jedoch, was Papst Franziskus geschrieben hat, brauchen wir uns keine großen Sorgen zu machen: »Amoris Laetitia ist in seiner Lehre ganz klar«, so Kardinal Müller, »ich sehe keinen Widerspruch: Auf der einen Seite haben wir die klare Lehre über die Ehe und auf der anderen Seite die Verpflichtung der Kirche, sich um diese Menschen in Schwierigkeiten zu kümmern.« – Von einem pastoralen Schreiben zu verlangen, alle vorangegangenen Normen namentlich und ausdrücklich zu bestätigen, wird dem pastoralem Anliegen von AL nicht gerecht. Aus dem Nicht-Erwähnen der bestehenden Tradition der Kirche desweiteren zu schließen, sie könnten eventuell nicht mehr gelten, ist zudem keine katholische Hermeneutik. Wenn die »dubia« letztlich nur danach fragen, ob die bisherigen Lehren (also die Kombination von moralischen Prinzipien und pastoralen Rahmenbedingungen), wie sie unter anderem in Familiaris consortio genannt sind, weiterhin gültig sind, wüsste ich keinen Grund, warum der Papst darauf nicht munter mit »Ja, natürlich!« antworteten sollte. Aus dem gleichen Grund verzichtet der Papst vermutlich auch darauf, die »dubia« tatsächlich zu beantworten: Weil sowieso keine andere Antwort zu erwarten wäre.
Natürlich kann es angesichts der Verwirrungen und den auseinander driftenden Regelungen in den Diözesen sinnvoll sein, die bestehende Lehre noch einmal in Erinnerung zu rufen - anstatt sie nur vorauszusetzen und an den Ausführungsbestimmungen zu feilen. Aber allzuviel Hoffnung brauchen wir uns da nicht zu machen: Die hier und da nur schwer mit der überlieferten Ehelehre der Kirche zu vereinbarenden Ordnungen diversen Diözesen hat es auch nach Familiaris consortio und vor Amoris laetitia gelegentlich gegeben. Warum sollte sich daran etwas ändern, wenn wiederholt wird, was ohnehin immer noch Gültigkeit besitzt?

3. Spekulation

Vielleicht liegt der Grund für den Streit um AL zudem hierin: Während zahlreiche Kirchenmitglieder (darunter auch Theologen, Bischöfe und Kardinäle) eine Änderung der Prinzipien verlangen, weil die jetzige Morallehre das moderne Gerechtigkeitsempfinden der Menschen verletzt, antwortet Franziskus mit dem Jahr der Barmherzigkeit und einer (pastoralen!) Empfehlung. Das müssten die konsequent als Arroganz empfinden, die eine Änderung der Prinzipien einfordern. Da Franziskus aber die Personifizierung von Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit zu sein scheint, verstehen die Neuerer der Moral dann lieber das pastorale Schreiben als dogmatische Wende. Obwohl sie das nicht ist.

Das ruft die auf den Plan, die das Schreiben des Papstes theologisch wohlwollend als in der Tradition der Kirche stehend einordnen und den Papst bitten, das zu bestätigen. Das wiederum verstehen die Neuerer als Angriff auf den Papst, weil sie glauben, er hätte soeben die Moraltheologie geändert. Und der Papst schweigt, weil er nichts mehr verabscheut, als Seelsorger, die sich arrogant gebärden, anstatt demütige Diener des Heils der Menschen zu sein. Vielleicht befürchtet er, dass die Bekräftigung der bestehenden Moralprinzipien zur Ehe die Priester und Seelsorger dazu verleiten kann, sich nicht den hilfesuchenden Menschen zuzuwenden? Vielleicht bekräftigt der Papst die Prinzipien nicht erneut, um die Pastoral nicht zu lähmen? Vielleicht. Was weiß ich?

Nachbemerkung (»Trivia«)

Da ich es nun einmal unternommen habe, mich in eine tagespolitische Diskussion einzumischen, möge man mir die Beobachtung einer sicherlich nicht zentralen Kuriosität verzeihen - obwohl auch sie lehrreich sein kann.

Besonders amüsant fand ich nämlich die Bemerkung von Prof. Thomas Schüller aus Münster, es gehöre sich nicht, dem Papst auf diese Weise eine Frage vorzulegen (in »Kirche und Leben«, der Münsteraner Kirchenzeitung: »Schüller wirft Kardinal Meisner Illoyalität gegen Papst vor«). Das sei respektlos (»so etwas gehört sich für keinen katholischen Christen, geschweige denn für Kardinäle«) und verwundere vor allem bei den Kardinälen, die zuvor immer so großen Wert auf Übereinstimmung mit dem Papst gelegt hätten. In der Tat: Die Rollen scheinen vertauscht zu sein. Theologen, die Jahre zuvor noch in diversen Erklärungen (von der »Kölner Erklärung« von 1989, bishin zur »Freiburger Erklärung« von 2012) Forderungen an den Papst richteten, finden nun solche Forderungen »respektlos«.

Wie lässt sich der schnelle »Seitenwechsel« sowohl der vier Kardinäle als auch so zahlreicher Professoren (für die Prof. Schüller sicherlich aus dem Herzen gesprochen hat) erklären? Nun: Es handelt sich gar nicht um einen Seitenwechsel. Weder bei den Kardinälen noch bei den fordernden Professoren. Es ging allen Beteiligten nie um »Pro Papst« oder »Contra Vatikan«. Es ging immer schon um eine theologische Frage: Um die Beibehaltung oder die Änderung der überlieferten Lehre der Kirche.