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Die Evolution (m)eines Glaubens

Über die prinzipielle Vereinbarkeit von Glauben und Naturwissenschaften habe ich schon oft gesprochen; in letzter Zeit bin ich allerdings häufiger nach meinem ganz persönlichen Glauben angesichts der modernen Naturwissenschaften gefragt worden (vor allem im Hinblick auf die Evolutionstheorie). Mittlerweile hat sich daraus ein neuer Vortragstyp entwickelt - eine «biografische Katechese», die meine persönliche Glaubensgeschichte mit den grundsätzlichen Problemen angesichts der modernen Welt verknüpft.
Diese Verknüpfung hat meinen Zuhörern gut gefallen, denn es ist ein großer Unterschied, ob ich «garantiert-katholische Aussagen» über den Glauben (und Zweifel) formuliere - oder von persönlichen Erfahrungen spreche.


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Diese Katechese ist auch als gedrucktes Heft (Nr. 141) erhältlich: Kostenlose Bestellung

Das biogenetische Grundgesetz nach E. Häckel

...oder auch «Rekapitulationstheorie» genannt: Ernst Häckel behauptet mit dieser längst widerlegten These, dass sich in der Entwicklung eines Individuums die gesamte Entwicklungsgeschichte des Lebens widerspiegelt. Nun, das mag in der Biologie nicht mehr gelten, aber in der Geistesgeschichte gibt es verblüffende Parallelen zwischen der persönlichen und der Kulturgeschichte. Ich vermute, in meiner Geistesgeschichte ist es nicht ganz von der Hand zu weisen, dass ich als Kind, und dann später als Jugendlicher, Student und junger Priester eine ähnliche Entwicklung durchgemacht habe, wie Teile der Philosophie in Auseinandersetzung mit den neuen Naturwissenschaften.

Diese Bemerkung möge man mir nicht als Arroganz auslegen: Ich halte mich keineswegs für ein geistesgeschichtliches Wunderkind. Ich glaube eher, dass die Fragen der Philosophiegeschichte fast immer auch Fragen sind, die sich nacheinander auch im Leben eines einzelnen Menschen stellen.

In den verschiedenen Phasen einer Glaubens- und Lebensgeschichte lässt sich kaum darüber diskutieren, ob die jeweilige Weltsicht richtig oder falsch ist. Denn das Weltbild regelt ja, welche Argumente ich überhaupt zulasse. Ein Weltbild ist vielmehr darauf zu befragen, wieviel Welterkenntnis es zulässt. Fangen wir also mit meiner Ausgangsposition an. Mit meinem Glauben.

Mein Glaube

...ergibt sich nicht aus einer Lückenhaftigkeit der Welterklärung. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Satz. Denn wenn wir im Gespräch zwischen Glaubenden und atheistischen Vertretern der Naturwissenschaft auf die Möglichkeit von Seele, Gott, Gebet, Geist und Wundern zu sprechen kommen, verweist der an Gott Glaubende sicherlich auch auf die Lücken in den Naturwissenschaften. Und das zu Recht! Denn die gibt es! Aber: Diese Lückenhaftigkeit der Welt (auf die ich ganz am Schluss in einem anderen Sinn wieder zurückkomme) ist definitiv nicht der Grund, weshalb ich an Gott glaube.
Diese Missverständnis kommt schnell und immer wieder auf. Nicht nur in Diskussionen mit mir, der ich auch eine naturwissenschaftliche Ader habe und gerne auf diesem Gebiet mitrede. Aber es ist ein Unterschied, ob ich die Existenz eines Gottes für naheliegend und plausibel halte und deshalb eine Möglichkeit für Sein Wirken in der Welt suche - oder ob ich aus einer vielleicht nur vorübergehenden Lückenhaftigkeit der Naturwissenschaften schließe, dass Gott existier und als Lückenbüßer herhalten muss.

Mein Glaube ist vielmehr eine «synthetische» Erkenntnis
Kurze Worterklärung: Synthetisch ist hier das Gegenteil von analytisch. Eine analytische Erkenntnis gewinne ich, indem ich verschiedene Dinge gegeneinander halte, seziere, vergleiche, unterscheide und dann aus der Unterschiedlichkeit klare Begriffe gewinne.
Synthetische Erkenntnis dagegen gewinne ich durch spontane Einsicht, durch ganzheitliches Erkennen. Was ich damit meine, mache ich gerne deutlich:

Soweit ich mich erinnere, war meine Mutter für mich eine klare, liebevolle und einzigartige Person. Diese Erkenntnis habe ich nicht durch ein Vergleichen mit anderen Personen gewonnen, sondern sozusagen «mit der Muttermilch» aufgesogen. Ich hatte vielleicht noch keinen Begriff von «Mama» und «Liebe», aber selbstverständlich habe ich meine Mutter erfahren - und Liebe gespürt.

Manche Menschen meinen, man müsse erst Hass verspürt oder erfahren haben, um zu begreifen, was Liebe sei. So rechtfertigen sie das Böse in der Welt: Ohne die Erfahrung des Bösen könne man ja nicht das Gute schätzen. Ich halte das für erwiesenen Blödsinn und habe als Argument nichts anderes als mein eigenes Erleben: Ich muss nicht erst geschlagen worden sein, um zu spüren, dass ich von meiner Mutter geliebt werden. Ich kann es wahrscheinlich nicht in Begriffe packen. Aber ich weiß es.

So sicher, wie ich das Wesen meiner Mutter erfahren habe, so sicher bin ich mir seitdem, dass es Gott gibt. Meine Mutter war kein «funktionierender Organismus mit wärmender und nährender Funktion». Meine Mutter war meine «Mama». Sie hat mich geliebt, ich habe ihre Seele gespürt und sie meine. Jeder, der ernsthaft behauptet, es gebe keine Seele, keine überzeitliche Individualität, sondern nur mehr oder weniger aufwändig konstruierte Lebewesen ohne jeden Geist, kann ich nur bedauern.
Diese Erkenntnis meiner frühesten Wahrnehmungen setzt sich in der Wahrnehmung eines jeden Gegenübers fort. Es ist für mich unverständlich, wie jemand ernsthaft behaupten kann, geliebte Menschen seien lediglich eine Ansammlung von Atomen und Molekülen. Wenn jemand dies wirklich aus voller Überzeugung so glaubt, gruselt es mich schon ein wenig vor ihm. Noch mehr aber tut er mir leid: Denn logischerweise muss derjenige diese Wirklichkeitsbeschreibung auch auf sich selbst beziehen und sich nur für ein reproduzierendes, verpacktes Genom halten.
Das ist so absurd, dass ich das nicht nachvollziehen kann. Ich bin davon überzeugt, dass sie diese Haltung nicht wirklich ernst meinen können. Einmal, weil die Erfahrung der eigenen geistigen und seelischen Wirklichkeit und die Erfahrung der faszinierenden geistigen und seelischen Schönheit so vieler andere Menschen nur jemand leugnen kann, der einen Großteil seiner Urteilsfähigkeit ignoriert. Zum anderen, weil eine Ansammlung von Biomasse gar nichts behaupten kann: Wer keinen Geist hat, kann auch keine wahren oder falschen Aussagen machen.

Die Evolution meines Glaubens

Für mich war also klar: Ich habe eine Seele - und die Menschen um mich herum ebenfalls. Unser Reden und Denken ist real und hat einen wirklichen Sinn (nicht nur einen eingebildeten). Und Liebe und Schönheit sind nicht bloße Errungenschaften der Kultur. Alles das kann nur so sein, wenn es einen Gott gibt - die Quelle von Seele, Geist und Schönheit. Tut mir leid: Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Das ist offensichtlich so.
Und das war auch für mich offensichtlich. Immer. Manche halten es für wichtig, auch von den eigenen Zweifeln zu reden. Aber ich habe nie ernsthafte Zweifel an dieser Erkenntnis gehabt. Niemals. Es ist und bleibt für mich klar: Seele, Freiheit, Geist, Gewissen, Gut und Böse und Schönheit und Sinn sind real. Weil Gott real ist.

Erste Wahrnehmung

Das, was ich nun als «Evolution meines Glaubens» darstellen will, geht der Frage nach, wie diese Ur-Erkenntnis der Existenz Gottes vereinbar ist mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften. Das mag für andere eine Nebensache sein, für mich war sie zentral. Das wiederum kann daran liegen, dass die Beschäftigung mit Mathematik und Naturwissenschaften für mich seit frühesten Tagen zur Lieblingsbeschäftigung gehört.

Vor kurzem habe ich beim Aufräumen alter Dokumente mein Erstlingswerk entdeckt: «Das Universum - erklärt von Peter van Briel» habe ich großspurig als Titel gewählt. Auf einer Schreibmaschine getippt, 12 Seiten - aus dem Jahre 1978. Zwölf Jahre bin ich damals gewesen, und auch wenn es mir heute peinlich ist, was ich damals geschrieben habe: Das war immer schon mein Thema.

Ganz am Anfang hat mich dieses Problem nicht wirklich beunruhigt. Natürlich habe ich mir diese Frage schon gestellt: Wie kann all das Geistige, was ich als wirklich erkenne, in dieser Welt Auswirkungen haben? Aber sie war schnell beantwortet: Es geschieht einfach. Heute würde ich das als «Fußballspiel-Paradigma» bezeichnen. Gott und Seele und all das andere sind schlicht wirkende Größen in der Welt. Wenn ich als Stürmer im Fußballspiel den Ball aufs Tor schieße und feststelle, dass ich nicht richtig gezielt habe, kann Gott den Ball eben doch noch ins Tor lenken. Gott ist einfach ein weiterer Spieler auf dem Feld - so wie alles andere auch.
Kein großes Problem, fand ich.
Interessanterweise gibt es auch heute noch viele Leute, die sich eine solche Weltsicht bewahrt haben. Manche belächeln das als naiven Kinderglauben. Ich dagegen habe großen Respekt vor diesen Menschen, die sich die tiefe Wahrnehmung ihrer Kindheit bewahrt haben. Besser einen wahren Glauben und eine nicht ganz naturwissenschaftlich korrekte Weltsicht, als einen verleugneten Glauben zugunsten einer modern klingenden, aber eingeschränkten Naturerkenntnis.

Erste Zweifel

...kamen mir wohl schon in der Grundschule (so ganz sicher bin ich mir da nicht). Wohlgemerkt: Es kamen mir keine Zweifel an der Realität der größeren, unsichtbaren Welt. Sondern am «Fußballspiel-Paradigma». Wir konnte Gott, Seele und Gebet Player in dieser Welt sein, wenn die Naturwissenschaften alles lückenlos beschreiben, berechnen und nachvollziehen können? Irgendwas stimmte da nicht.
Besonders drängend war für mich die Frage, wie etwas so eindeutig Existierendes wie die Seele im Menschen wirken kann, wenn unser Gehirn doch ganz und gar nach den Gesetzen dieser Welt funktioniert...? Erst später stellte ich fest, dass dieser Zweifel auch historischer Art war und sich auch damals an der Frage nach dem Menschen und seiner Seele entspann. Exemplarisch dafür möchte ich das Werke «L'homme machine» von Julien Offray de La Mettrie (* 23. November 1709; † 11. November 1751) nennen.
Ich befand mich - ohne es zu wissen - im Zeitalter der Aufklärung. Und ähnlich wie damals zog die Frage nach der Seele des Menschen und der damit verbundene Zweifel am einfachen Weltbild Kreise. Der Zweifel erweiterte sich zu einer Krise des Weltbildes: Denn wenn schon unklar ist, wie die Seele im Menschen wirkt (obwohl mir klar war, dass sie wirkt!), wie soll dann Gott in der Welt wirken? Ist denn die Welt nicht auch eine große Maschine?
Inzwischen hatte ich angefangen, unsere Stadtbibliothek nicht mehr nur nach Science-Fiction-Romanen und Comics zu durchforsten. Ich entdeckte die Sachbuchabteilung jenseits der «Was-ist-Was»-Bücher, die Welt der Physik und damit verknüft auch der (einfachen) Philosophie. Irgendwann war mir klar, dass die Sichtweise der «Welt als Maschine» ein Grundgedanke des Deismus war, der zwar (so wie ich) an der Existenz Gottes festhielt, aber seine Rolle auf die Erschaffung des Universums beschränkte (das habe ich nie gewagt). Der Deismus glaubt, nach der Schöpfung laufe die Weltmaschine (inklusive der Menschen als kleine Maschinen in der Welt) ab wie ein Uhrwerk. «Der Uhrmachergott» war tatsächlich eine Bezeichnung, die Gottfried Wilhelm Leibniz (* 21. Juni 1646; † 14. November 1716) verwendete.
Immerhin, ich war mit meiner Weltbild-Skepsis historisch gesehen in guter Gesellschaft.

Verschiedene (verzweifelte) Lösungen

Ich weiß, ich habe es schon betont: Diese Zweifel stellten nicht meinen Weltsicht inklusive Gott, Seele und all diese Überzeugungen in Frage. Aber ich fand die Frage, wie mein persönliche Glaube und die Erkenntnisse der Naturwissenschaften (die ich mir auch zu eigen machte) zusammenpasste, durchaus spannend.
Dabei stieß ich auf verschiedene Lösungsansätze, die diesen Widerspruch aufheben wollten. Mittlerweile hatte ich schon ein paar philosophische Bücher gelesen und im Religionsunterricht der 5. Und 6. Klasse gut aufgepasst. Die dort präsentierten Lösungen fand ich aber - nun, es passt kein anderes Wort: Erbärmlich.

Materialismus

Es gab nicht wenige Physiker, Theologen und vor allem auch Mitschüler, die den Widerspruch zwischen ihrer umfassenden Wahrnehmung der Wirklichkeit und dem gelehrten Weltbild auflösten, indem sie ihre eigene Wahrnehmung über Bord warfen (und zur Illusion erklärten). Ich mag mich in meiner Erinnerung täuschen - aber das schien mir schon damals nicht wirklich als Lösung eines Problems, sondern als Resignation. Ich kann doch nicht den Widerspruch einer Weltbildes mit fundamentalen Erkenntnissen der Welt klären, indem ich diese Erkenntnisse einfach leugnete! Wie kann ein Weltbild die Welt erklären, wenn die Wirklichkeit dem Weltbild angepasst wird?
Auch hier muss ich mich bei allen entschuldigen, die darin eine ernsthafte Philosophie erblickten (oder heute noch tun): Mir schien das einfach nur blödsinnig. Sorry.

Theologischer Materialismus

In diesen «Blödsinn» gehört dann auch das, was ich im Religionsunterricht (und später sogar im Studium der Theologie) als Lösung vorgesetzt bekam. Heute nenne ich das «Theologischen Materialismus», für die ich besonders Werner Trutwin (* 6. März 1929; † 12. Februar 2019) nennen möchte - durch Trutwins Religionsbücher begegnete mir dieser Ansatz schon früh.
Theologischer Materialismus behauptet einfach, dass es Gott sehr wohl gibt - und den ganzen christlichen Glauben. Und gleichzeitig wird die Geschlossenheit des materialistischen Weltbildes nicht angezweifelt. Beides besteht nebeneinander - und der Widerspruch, der zwischen beiden besteht, wird durch eine besonders nebulöse Sprache kaschiert.
Zumindest erschien es mir so als Kind und Jugendlicher; und auch, wenn ich mich durch Theologiestudium und Priesterausbildung an diese schwafelige Sprache gewöhnt habe, halte ich sie immer noch für peinlich. Das Problem, das real existiert (wie soll Gott in der Welt wirken - in Jesus, in den Wundern, in der Vorsehung?), wird angeblich durch eine «neue, angemessene Redeweise» behoben.

So ist Jesus nicht mehr Gott selbst, sondern «in Jesus erfahren wir Gott auf eine unüberbietbare Weise». Jesus hat keine Wunder gewirkt, sondern «in den natürlichen Ereignissen erschien in den Augen der damals noch im Mythischen verhafteten Jüngerschaft ein neuer Sinn» oder Wunder sind nichts anderes als «eine überzeitliche Interpretation natürlicher Prozesse» oder was auch immer. Natürlich war auch das Grab nicht leer, aber Jesus angeblich wirklich auferstanden. Halt eben «ins Kerygma» und nicht in unsere Welt. - Wie gesagt, ich fand's nur peinlich.

Im theologischen Materialismus ist die Theologie eingeknickt vor einer scheinbar übermächtigen Naturwissenschaft. Man wollte sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, man sei noch im «mittelalterlichen Weltbild» verhaftet (also im Fußballspiel-Paradigma) und somit keine ernsthaften Gesprächspartner der modernen Naturwissenschaft. Also hat man die Theologie geändert und alles Übernatürliche darin gestrichen. Alles, was nicht ins materialistische Weltbild passt. Diese radikale Änderung hat man nur als «geänderte Sprache» kleingeredet. Aber in Wirklichkeit haben die Theologen damit ihren Glauben aufgeben.
Ich gebe zu, ich habe diese neue Theologie nicht vor allem deshalb abgelehnt, weil ich «irgendwie konservativ veranlagt war» oder grundsätzlich gegen eine radikale Änderung des Glaubens wäre. Sondern schlicht deshalb, weil der «theologische Materialismus» nicht meiner Welterfahrung entsprach. Wer behauptete, Gott wirke eigentlich nicht wirklich in dieser Welt, leugnet auch die Wirkung von Geist, Seele und die Existenz von Schönheit und Freiheit. Wer so etwas behauptet, liegt eindeutig falsch; mag er noch so ein großer Theologe von Weltruf sein. Mit anderen Worten: Ich wurde aus ganz persönlicher, menschlicher Überzeugung zu einem Theologen, den viele heute als «konservativ» bezeichnen. Obwohl ich mich heute immer noch nicht so fühle. Ich bin einfach einer, der die Welt so nimmt, wie sie ist.

Fundamentalismus

Die nächste Lösung, die mir unterkam, schien mir ebenso abstrus zu sein: Die Zeugen Jehovas, die auch bei mir in meiner Heimat ab und zu an der Tür klingelten, behaupteten, nicht die Naturwissenschaften hätten recht, sondern die Bibel. Und weil die Bibel recht hat, müssen die Naturwissenschaftler entweder irren - oder sie sind Betrüger. Problem gelöst.

Natürlich ist das keine Lösung. Aber, mal unter uns: Die Gegenposition des Materialismus ist auch nicht viel intelligenter. Das geistige Niveau des Materialismus und das des Fundamentalismus scheint mir so unterschiedlich wie die Geschwindigkeit zweier LKW auf der Autobahn beim «Elefantenrennen».

Da ich zuvor schon Autoren genannt habe, die man beispielhaft für diese Schein-Lösung lesen kann, nennen ich hier Werner Gitt (Autor für den fundamentalistischen evangelikalen CLV-Verlag). Aber historisch müsste ich hier vor allem die Gegenbewegungen des 19. Jahrhunderts nennen, die wenige Geistesgrößen zu bieten haben, sondern eher in Gründern von Sekten bestanden: Die Miller-Bewegung in Amerika, die Zeugen Jehovas, die Mormonen, die Adventisten und auch spätere Sondergruppen und Sekten.

Intelligent Design

Zeitgeschichtlich erst spät kam die Idee des «Intelligent Design» (I.D.) auf. Sie entwickelte sich, als ich auf dem Weg zum Abitur war. Laut wikipedia waren führende Vertreter des I.D. vor allem Phillip Johnson, Michael J. Behe und William A. Dembski. In Deutschland findet sich ein gutes Beispiel der Argumentation von I.D. bei Ralf Isau, der eigentlich Fantasy-Autor ist.
Intelligent Design versucht genau das, was mir immer schon ein Gräuel war: nämlich Lücken in den Naturwissenschaften (hier in der Evolutionsbiologie) zu finden und aus deren Existenz auf einen allmächtigen, intelligenten Designer zu schließen. Vertreter des I.D. sind der Meinung, dass die Gott-Hypothese Teil der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sein muss - also auch in die Biologiebücher gehört.
Ich gebe zu, mir war das eigentliche Problem nicht sofort klar. Die Beispiele, die I.D. vorstellt, sind schon verblüffend - und sehr zahlreich. Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, bei den dort geschilderten «nicht reduzierbaren Komplexitäten», Schönheiten, Verstöße gegen das Funktionalitätspostulat und «überschießender Komplexität» an einen Schöpfer zu denken. Immerhin erscheint es ausgeschlossen, dass diese Naturphänomene ausschließlich durch Mutation und Selektion entstanden sein sollen.
Das Problem ist, dass I.D. den Anspruch erhebt, noch Teil der Naturwissenschaften zu sein. Die Naturwissenschaften aber arbeiten unter der Hypothese «etsi deus non daretur» - sie forschen so, «als ob es Gott nicht gäbe». Und das ist voll in Ordnung! Die Naturwissenschaften sind nicht wirklich atheistisch, sie versuchen nur die Welt so weit wie möglich zu erklären, ohne auf Gott als Erklärung zurückzugreifen.
Oder, anders gedacht: Ob die Entwicklung zum Beispiel des menschlichen Auges evolutionsbiologisch wahrscheinlicher ist als die Erschaffung durch Gott, muss innerhalb der Naturwissenschaft berechenbar sein. Das ist ein Problem: Schon die Berechnung, wie wahrscheinlich (oder unwahrscheinlich) die Entwicklung eines biologischen Merkmals ist, ist kaum leistbar. Noch verrückter ist es, die Wahrscheinlichkeit berechnen zu wollen, dass diese Merkmal durch einen intelligenten Designer erschaffen wurde, inklusive der Berechnung, wie wahrscheinlich die Existenz Gottes ist, um dann die beiden Wahrscheinlichkeiten gegeneinander zu halten. Das ist keine Naturwissenschaft mehr, das ist überhaupt keine Wissenschaft.
Dabei halte ich grundsätzlich den Gedankengang des I.D. für gar nicht so schlecht; unter zwei Voraussetzungen: Ersten ist I.D. keine naturwissenschaftliche Disziplin, sondern eine philosophische Naturerkenntnis. Wenn I.D. sich selbst so versteht, kann man dort viel lernen. - Und zweitens sind die Lücken in der Erklärung der Entstehung des Lebens nicht der Grund, an Gott zu glauben - oder an die Erschaffung der Welt. Wenn ich an einen Gott glaube, zeigt I.D. allerdings schön auf, wo und wie Er wirkt. Ich wiederhole mich gerne: Ich glaube nicht an Gott, weil ich die Schönheit der Schöpfung und ihrer Formen nicht erklären kann - sondern ich glaube an Gott und kann so die Schönheit seiner Schöpfung auf ihn zurückführen.

«NOMA» (Non-overlapping Magisteria)

...oder: Vollständige Disjunktion. Der Begriff NOMA stammt von Richard Dawkins, der diesen Begriff in seinem Buch Gotteswahn einführt. Demnach sollte es Dawkins zufolge ein «Chamberlain-Abkommen» zwischen Glauben und Naturwissenschaften geben; so eine Art «Nicht-Einmischungs-Pakt». Dabei geht es Dawkins vor allem darum, dass die noch an Gott Glaubenden sich vor allem mit ihrem Glauben nicht in die Naturwissenschaften einmischen (umgekehrt ist er nicht so empfindlich).
Mich erinnerte diese Trennung in zwei vollkommen getrennte Wirklichkeitsbereiche (vollständige Disjunktion) an den oben bereits geschilderten Theologischen Materialismus. Angeblich beschreiben Glauben und Denken die Welt aus zwei so verschiedenen Blickwinkeln, dass sie gar nicht miteinander in Konflikt kommen können. So schrieb der renommierte Theologe Karl Rahner: «Theologie und Naturwissenschaft können grundsätzlich nicht in einen Widerspruch untereinander geraten, weil beide sich von vornherein in ihrem Gegenstandsbereich und ihrer Methode unterscheiden.»
Dem widerspricht nun wieder meine Grunderkenntnis: Wenn ich im Gesicht meines Freundes mehr erkenne als nur ein hormongesteuertes Muskelspiel, dann wirkt Immaterielles (die Seele) in diese materielle Welt. Entweder ist das möglich - dann irrt das materialistische Weltbild. Oder es ist nicht möglich - dann irre ich mich und mit mir die ganze Menschheit.
Dieser Konflikt existiert. Und NOMA oder jede andere Disjunktion der Wirklichkeit sind Ausweichmanöver, die letztlich unsere Welt halbieren.

Fazit: Der praktische Atheismus

Als ich an diese Stelle gekommen war, hatte ich mittlerweile schon so ziemlich jedes Buch in unserer Stadtbücherei gelesen, das sich mit der Geschichte der Physik, der Astronomie, der Teilchenphysik und der Relativitätsphysik beschäftigte. Alle, was ich gelesen hatte, klang plausibel. Aber genauso war alles, wofür es sich zu leben lohnt, ebenfalls Teil der Wirklichkeit - auch wenn beides nicht so richtig zusammen passte. Gottseidank gab es da noch eine kleine Abteilung im Physik-Regal unserer Stadtbibliothek, die ich bis dahin gemieden hatte - und die die Lösung enthielt.
Dennoch möchte ich in meiner Biografie hier einen deutlichen Marker setzen. Denn an dieser Stelle, in der ich das Problem nicht gelöst, viele Schein-Lösung aber als Betrug bzw. Selbstbetrug durchschaut hatte, befinden sich die meisten Menschen unserer Zeit, die keinen Zugang zur modernen Physik und deshalb noch keine Lösung parat haben. Wer die Welt nimmt, wie sie ist, und gleichzeitig die Naturwissenschaft versteht und ihnen folgt, wird nun gemeinsam mit mir fragen: Und was jetzt?!

Heureka: Die Lösung

Ich gebe zu, eine gewisse Spannung an dieser Stelle ist gewollt. Sie entspricht der Spannung, die es über Jahre hinweg in meinem Leben gab - und sich geistesgeschichtlich auch erst im frühen 20. Jahrhundert löste. Überraschend war für mich vor allem, dass die Lösung aus einer vollkommen unerwarteten Richtung kam: Nämlich aus der Naturwissenschaft selbst. Konkret (für mich) begegnete sie mir als These eines Hirnforschers, nämlich in einem Seminar mit Sir John Eccles, an dem ich im Schwarzwald teilnehmen durfte. John Eccles (* 27. Januar 1903; † 2. Mai 1997) löste nämlich das Problem von Geist und Gehirn durch einen Rückgriff auf die Quantenphysik.
Quantenphysik - das war die Abteilung der Physik im Bücher-Regal der Stadtbibliothek, das ich bis dahin ignoriert hatte. Ja, ich hatte da schon verschiedentlich einen Blick hineingeworfen; aber in den vorhandenen Darstellungen bleib es bei mathematischen Paradoxien, deren Sinn ich nicht verstand. Erst angeregt durch den Vortrag von John Eccles und vielen anschließenden Gesprächen mit verschiedenen Physikern, Mathematikern und Philosophen erschloss sich mir nach und nach das Revolutionäre an dieser Disziplin. Ich wurde regelrecht süchtig nach weiteren Informationen, Deutungen und Übertragungen auf andere Bereiche und war enttäuscht, wie spärlich diese gesät waren. Auf der anderen Seite erklärt das, warum Nicht-Physiker bis heute an dem Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft festhalten, obwohl längst alle Puzzleteile auf dem Tisch liegen (und mehrfach verifiziert worden sind), die - wenn man die Puzzleteile richtig zusammensetzt - diesen Konflikt als Scheinkonflikt entlarven.
Die Offenheit der Wirklichkeit, die in der Quantenphysik (in der Kopenhagener Deutung - gegen Einstein) vor allem von Niels Bohr erkannt wurde, findet eine Entsprechung in der Mathematik (in Gödels Unvollständigkeitssatz, in der Chaostheorie kombiniert mit der Unbestimmtheitsrelation, im Drei-Körper-Problem - etc.). Wunderbar zusammengefasst sind diese sich ergänzenden Revolutionen im Buch «Einstein und der würfelnde Gott» von Dieter Hattrup.
Die Wirklichkeit ist offen - die Welt ist gar keine Maschine. Die Naturgesetze haben nur statistische Bedeutung; selbst die Mathematik kennt Grenzen und Nicht-Entscheidbarkeiten. Sir John Eccles hat die Offenheit für den synaptischen Spalt nachgewiesen und damit die entscheidende Hürde für das Leib-Seele-Problem beseitig. Und nichts hindert uns daran, die quantenmechanische Unbestimmtheit auch auf das große Weltganze zu übertragen. Die Vergangenheit ist bestimmt, ja. Aber die Zukunft ist offen: Für Gott, Gebet, Seele, Geist und Sinn.
Nochmal: Albert Einstein (in seinen frühen Jahren), Max Planck, Werner Heisenberg, Niels Bohr - das waren die Wegbereiter eines neuen Weltbildes, in dem wieder Platz für eine größere Wirklichkeit war. Meine Helden!

Platz für Gott - aber kein Gottesbeweis

Und nocheinmal: Die von Planck, Heisenberg und Bohr erkannte Unvollständigkeit der Naturwissenschaft ist nicht der Grund, weshalb ich an Gott glaube. Die Offenheit der Welt (selbst der Mathematik) ermöglicht mir nur, den Glauben an Gott in ein gemeinsames Weltbild mit den modernen Naturwissenschaften zu integrieren. Die Gewissheit, dass es diesen Gott gibt, habe ich nicht aus der Physik!
Auch ein Quantenphysiker kann Atheist bleiben; seine Erkenntnisse zwingen ihn nicht zu der Annahme, dass die Unvollständigkeit der Welt tatsächlich ein Einfallstor für eine höhere Wirklichkeit ist. Aber falls er an diese größere Wirklichkeit glaubt, so gerät er nicht in Konflikt mit seinem physikalischem Weltbild. Das ist wichtig!

Interessant ist allerdings schon, dass viele Physiker, die der Quantentheorie zugeneigt waren, ihren religiösen Glauben behielten, während zum Beispiel Einstein, der die Offenheit der Physik (trotz seiner Beteiligung an der Entdeckung der Quanteneffekte) bis zu seinem Lebensende leugnete, seinen (jüdischen) Glauben zugunsten des Determinsmus und Materialismus aufgab.

Früher waren die Physiker durch die Bank Atheisten und spöttelten über die Religion. Das hat sich grundlegend geändert; mittlerweile sind nur noch die Naturwissenschaftler, die wenig mit der quantentheoretischen Unbestimmheit anfangen können (darunter viele Biologen und Hirnforscher), ein Hort des Atheismus.
Fazit

Wir dürfen also an die Seele glauben, ebenso an die Freiheit des Menschen. Eng damit verbunden ist die Erkenntnis, dass «Gut und Böse» Realitäten sind und Moral (in ihrer naturrechtlichen Abteilung) dem Menschen vorgeben.
Wir dürfen an die Macht des Gebetes glauben, weil die Zukunft offen ist und unsere Gebete als einen Effekt haben können - wohlgemerkt abhängig vom Willen eines Gottes, diese Welt zu lenken. Wir können sogar die Wirkmächtigkeit Gottes im Einklang mit der Freiheit des Menschen denken. Selbst Wunder sind dem Physiker nun näher (vor allem medizinischen Wunder), obwohl Wunder auch in der klassischen Physik das geringste Problem war.
Auch der Urknall war dem gläubigen Christen auch schon früher nicht fremd. Während Einstein (und alle Physiker vor ihm) noch an die Unveränderlichkeit des Universums glaubten und einen Anfang des Universums als «scheußlichen Gedanken» lange ablehnten, war es ein katholische Priester und Astronom - Georges Lemaitre - der als erster von einem sich ausdehnenden Universum sprach und damit den Schöpfungsbericht und die physikalische Weltbeschreibung in Einklang brachte. Sowohl Physik als auch der Glaube reden seitdem gemeinsam von einem datierbaren Anfang. Der Papst und die New-York-Times waren von der Entdeckung des Urknalls als Bestätigung eines Schöpfungsgedankens begeistert.
Und auch auf die Evolutionstheorie hat die verbriefte Offenheit der Welt eine Auswirkung: Die Behauptung einiger Biologen (die ich dann als «Evolutionisten» bezeichne), sie könnten mit Mutation und Selektion die Entwicklung des Lebendigen vollständig beschreiben, verbietet sich schon allein aus physikalischen Gründen: Eine erschöpfende Abbildung der Wirklichkeit ist in den Naturwissenschaften niemals möglich. Wer möchte, darf durchaus in den biologischen Mechanismen (vor allem in der Mutation, der ständigen Veränderung des Lebendigen) die schöpferische Macht Gottes sehen. Und sich an der Schönheit der Schöpfung freuen.