Gott hat jeden Menschen mit besonderen Eigenschaften ausgestattet. Die einen
können gut rechnen, die anderen gut malen. Manche können schöne
Geschichten schreiben, manche können schnell laufen oder sind überhaupt
gut in Sport. Manche finden schnell viele Freunde und sind beliebt. Manche
sind besonders hübsch.
Meine Freundin Susi, die war sogar beliebt und hübsch gleichzeitig. Ich
aber war gar nichts von beidem richtig. Auch wenn es darum ging, gut zu rechnen,
zu malen oder zu schreiben, schnell zu laufen und Sport zu machen - ich war
immer mittelmäßig in diesen Dingen. Ich war eher unauffällig
und auch irgendwie anders als die anderen.
Vielleicht weil ich nichts so richtig gut konnte und auch sonst eher ein wenig
komisch war und von den anderen manchmal ausgeschlossen wurde, hat Gott mir
ein kleines Geschenk gemacht. Er hat mir die Fähigkeit gegeben, Verstorbene
zu sehen und mit ihnen zu sprechen. [Gut, ich kann sie nicht richtig sehen
- nicht so wie man jemanden mit dem äußeren Auge sieht, der gerade
vor einem sitzt. Aber ich kann sie so sehen wie man jemanden in der Erinnerung
sieht: Wie einen Schatten. Besondere Eigenschaften wie ihre Haarfarbe, ihren
Charakter und manchmal auch ihr Gesicht, die kann ich wahrnehmen. Ich hab
das immer ihre Seele genannt, aber wie genau das wirklich aussieht, das kann
ich ganz, ganz schlecht erklären. Auch wenn sie mit mir sprechen, dann
hörte ich das nicht mit meinem äußeren Ohr, wie man jemanden
hört, der laut spricht, sondern ich höre ihre Stimmen in meinem
Inneren oder spüre manchmal einfach nur mit einer ganz großen und
gewissen Ruhe, was sie sagen wollten.] Das war nicht immer so und nicht bei
allen Verstorbenen, aber manchmal, eben wenn Gott es will.
Das erste Mal, dass mir das passierte, war beim Tod von Onkel Willy. Ich
kannte Onkel Willy, seitdem ich auf der Welt war. Er war immer gut gelaunt,
machte Witze und veräppelte mich. Wir hatten viel Spaß miteinander.
Onkel Willy kam häufig vorbei, denn er war Rentner und hatte Zeit. Dann
half er meinem Vater im Garten beim Holzhacken oder trank einfach nur Tee
mit Mama und Papa. Manchmal kam Tante Gundula auch mit und sie spielten abends
Karten. Onkel Willy und Tante Gundula wohnten im Haus gegenüber. Sie
waren älter als Mama und Papa und hatten schon ganz viele weiße
Haare. Mama sagte immer, dass Onkel Willy mein Großvater hätte
sein können und für mich war er auch einfach mein dritter Opa.
Der Tag, an dem Onkel Willy starb, war eigentlich ein ganz schöner Tag.
Man merkt es den Tagen ja meistens vorher nicht an, wenn etwas Schlimmes passiert.
An dem Tag schien sogar die Sonne. Ich kam mittags von der Schule heim und
nachdem ich gegessen hatte, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, um Schularbeiten
zu machen. Es war schon vier Uhr, da hörte ich auf einmal einen lauten
Schrei. Vater lief kreideweiß ins Haus und kurz darauf telefonierte
Mutter aufgeregt. Weil ich wissen wollte, was los war, ging ich in den Garten
zum Holzschuppen. Ich sah Onkel Willy nur von weitem dort liegen, da schickte
mich Papa schon wieder ins Haus.
Dort saß ich dann allein am Küchenfenster und sah alle möglichen
Leute kommen: Der Krankenwagen mit dem Notarzt und Sanitätern, die in
den Garten rannten, und Tante Gundula, die zum Holzschuppen stürzte.
Die Polizei kam und dann noch Gerd, Tante Gundulas und Onkel Willys Sohn.
Später gingen noch ein paar Nachbarn über die Terrasse. Mich hatten
sie aber offensichtlich alle vergessen. Als der Pastor kam und ich in sein
ernstes Gesicht blickte, wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Denn er war sonst immer so fröhlich und witzig und scherzte, wenn ich
ihm begegnete.
Nach einiger Zeit schlich ich mich in den Garten und stellte mich in die letzte
Reihe. Im allgemeinen Getümmel fiel ich nicht auf. Gerd hielt Tante Gundula
im Arm, die schluchzte und heulte. Die Nachbarn flüsterten leise und
die Polizisten standen mit meinem Vater etwas abseits und fragten ihn, wie
es passiert sei. Ich hatte nicht gelauscht, aber trotzdem bekam ich mit, dass
Onkel Willy wohl einfach so tot umgekippt war, während er eine Schüppe
in den Schuppen zurückbringen wollte.
Onkel Willy lag noch immer da. Sein Hemd war aufgeknöpft, weil Vater
versucht hatte ihn wieder zu beleben. Aber dazu war es offensichtlich zu spät
gewesen. Friedlich lag er da, auch wenn sein Gesicht einen leichten Schrecken
zeigte. Der Arzt stand etwas abseits und schaute nervös umher. Auch er
hatte nichts mehr tun können. Das Gebet, das Herr Pastor anstimmte, schien
alle ein wenig zu beruhigen, aber das war nur von kurzer Dauer.
Während dieser aufgeregten Ruhe, spürte ich mit einem Mal, wie jemand
sich neben mich stellte und mit mir aus der letzten Reihe auf die Leute blickte.
Ich sah ihn an und erkannte ihn nicht, aber ich wusste, dass es Onkel Willy
war. Ich schaute auf Tante Gundula und ihr schmerzverzerrtes Gesicht und sagte
ihm: "Schau Dir an, wie sie leidet! Erspar ihr das doch und geh zurück!"
Doch Onkel Willy lächelte nur. Ich merkte ihm deutlich an, dass er nicht
zurück wollte, sondern zu Gott, und auch das Bild von Tante Gundula ihn
nicht umstimmen konnte. Es war so als wollte er sagen: "Irgendwann wird
sie verstehen - und es mir gönnen." Dabei schien er genauso fröhlich
wie immer - vielleicht sogar noch ein wenig freudiger.
Onkel Willy war noch bis zu seiner Beerdingung ständig an meiner Seite
und auch wenn ich seitdem mit ihm spreche, spüre ich deutlich: Er ist
da und hört mich und manchmal, wenn Gott ihn lässt, antwortet er
mir auch.
Ich habe niemandem davon erzählt. Wie hätte ich es Mama und Papa
oder sogar Tante Gundula sagen sollen! Sie hätten mir ja doch nicht geglaubt.
Manchmal glaube ich es ja selbst nicht, wenn ich nicht immer mal wieder solche
Erfahrungen machen würde.
Irgendwann, viel später, im Firmunterricht, sprachen wir darüber,
dass der Tod nicht das Ende ist, sondern, dass wir Katholiken an das Leben
nach dem Tod glauben. Für viele ist das kein wirklicher Trost, denn der
geliebte Mensch scheint einfach weg - aus der Welt - zu sein. Aber ich sage,
dass ich nicht nur an ein Leben nach dem Tod glaube, sondern, dass ich weiß,
dass es das gibt. Die Verstorbenen sind uns nach ihrem Tod näher als
vorher. Nur weil wir sie nicht mehr sehen, heißt das nicht, dass sie
weg sind und wir nicht mehr mit ihnen reden könnten. Vielleicht kann
sie nicht jeder so sehen und hören wie ich, aber sie hören einen,
wenn man mit ihnen spricht, und manchmal antworten sie ganz, ganz leise im
Herzen.
J.W.