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Das Mädchen Ming

 

Das Mädchen Ming

Vor einigen Jahren pochte es schüchtern an meine Tür, wie mit dem zaghaften Finger eines Kindes. Ich ging rasch hin, um zu öffnen. Da stand ein kleines, weibliches Wesen, meiner Schätzung nach gerade über das Jungmädchenalter hinaus, und nach einer Fülle von Begrüßungszeremonien gelang es mir, sie zum Eintritt in das Zimmer zu bewegen, wo sie ihr Anliegen vorbrachte. »Ming möchte von deinen Göttern hören, fremder Priester«, sagte das Mädchen, »denn sie hat gehört, dass deine Götter die Frauen nicht verschmähen, die zu ihnen kommen. Aber Ming ist aus keinem guten Hause, sie ist ein Findelkind, das man aussetzte, weil es bloß ein Mädchen war. Eine habgierige Frau hat das Mädchen großgezogen, um eine billige Magd zu bekommen. Dies ist mein Leben. Und so frage ich den fremden Priester, ob seine Götter auch die Magd Ming in ihrem Dienst dulden werden.«

Da begann ich erst einmal zu erzählen, dass wir keine Götter haben, sondern nur einen Vater, der im Himmel ist und der im Anfang Mann und Weib schuf und auch das Weib liebte und ehrte, so wie er den Mann geliebt und geehrt hat.

Atemlos fast hörte sie zu und las mir die Worte von meinen Lippen. Da tat ich einen weiteren Schritt und erzählte ihr, wie er ein armes Mädchen berufen hatte, die Mutter seines Sohnes zu werden... Als ich so weit gekommen war, erhob sie abwehrend die Hände: »Fremder Priester«, bat sie, »ich bitte dich, Ming nicht zu betrügen. Erzähle, dass es ein Märchen ist, das man bei fremden Völkern den Kindern erzählt, wenn sie weinen, damit sie wieder froh werden. Unmöglich erscheint es Ming zu glauben, dass Gott einer Frau so Großes tat.«

Ich aber betete in meinem Herzen und erklärte das Wunder aller Wunder, die Wahrheit aller Wahrheiten, dass unser Gott Mensch wurde aus Maria, der Jungfrau.

Da geschah etwas Seltsames, etwas, das mich tiefer ergriff als alles, was ich erlebt hatte. Das Mädchen Ming ließ sich auf die Knie nieder, und nach chinesischer Sitte wählte sie die tiefste Form der Anbetung. Ihre Stirn berührte den Boden. So kauerte sie lang. »O unbekannter Gott«, hörte ich sie murmeln, »unbekannter Gott, Ming dankt Dir zum ersten Mal, dass sie da ist!« Ich wagte nicht, mich zu rühren. Endlich richtete das Mädchen sich auf. Ihr Gesicht war nass von Tränen. Da wollte ich etwas sagen, aber wieder erhob sie die Hand.

»Fremder Priester«, bat sie, »gewähre eine Zeit der Ruhe. Denn habt ihr mehr solcher Wahrheiten, wird Ming an ihnen sterben, weil sie zu schwer sind für ihr Herz.«

Otto Bohr