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KARL-LEISNER-JUGEND |
Bänder im Baum
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Der Mann saß im Zugabteil am Fenster und wagte es nicht,
seinen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft zu richten. Er
war allein im Abteil.
Vor Jahren hatte er sich von seiner Familie trennen müssen
- denn er war mit dem Gesetz in Konflikt geraten, wie es so
schön hieß. Seine Eltern und Geschwister musste er
schonen; noch bevor alles bekannt wurde, hatte er sie verlassen;
seitdem weigerte er sich beharrlich, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.
Die Schuld nagte an ihm, man sah es ihm an: Er konnte sie
nicht einfach loswerden. Nun, er hatte seine Strafe zwar abgebüßt.
Aber, wenn er einmal versagte hatte: Wer konnte ihm garantieren,
dass er nicht ein zweites Mal schwach werden würde? Konnte
er von sich behaupten, dass er jetzt ein anderer Mensch sei?
Hatte er wirklich einen guten Kern? War er ein guter Mensch?
Oder hatte die nagende Stimme in ihm recht: «Du bist
und bleibst ein Versager, eine Last und Schmach für deine
Familie und die Gesellschaft»?
Überlegungen: Sind die Menschen schlecht? Ist die Welt nur schlecht? Aller Anschein spricht dafür!
Der Mann, der in dem Zug der Entscheidung entgegenfuhr, seufzte
laut. Er dachte an seine Familie, die jetzt wohl zu Hause
seinen Brief bekommen hatte. Er stellte sich die Gesichter
einzeln vor, jedes für sich. Sein Vater. Seine Mutter.
Sein kleiner Bruder (Wie groß mochte er jetzt sein?).
Seine Schwester (Ist sie wohl inzwischen verheiratet?). Sein
Onkel, der mit zur Familie gehörte, genauso wie sein
Vetter.
Er sehnte sich nach seiner Familie. Die Jahre, in denen er jeden
Kontakt zu ihnen vermieden hatte, waren schmerzhafte Jahre gewesen.
Er wollte ihnen jede Peinlichkeit ersparen, aber es war ihm
nicht leichtgefallen. Jetzt, wo er auf den Weg zu ihnen war,
wusste er, wie sehr er sie die ganze Zeit geliebt hatte.
Zum ersten mal kamen Worte über seine Lippen: «Bei
Gott, ich hoffe, sie weisen mich nicht ab.»
Überlegungen: Auch wenn die Welt, die Menschen schlecht sein sollten - sie sehnen sich nach Geborgenheit und Frieden. Sie geben die Hoffnung nicht auf!
Da saßen sie nun alle beisammen und schwiegen sich an.
Gefühle huschten über ihre Gesichter, keiner sprach
sie aus, und doch dachten alle die gleichen Gedanken: Warum
hat er uns das damals angetan? Das mit dem Verbrechen - und
dann das jahrelange Schweigen? Warum wollte er nichts von uns
wissen? Und jetzt, wo er zurückkommen will - hat er sich
geändert? Was ist wohl aus ihm geworden? Liebt er uns noch,
so wie früher? Oder möchte er nur Geld von uns? Kann
ein Mensch sich wirklich ändern?
Das Schweigen lag über dieser Familie wie ein schweres,
nasses Tuch: Der verlorene Sohn will zurückkehren - und
sie sollen darüber entscheiden, ob sie ihm eine neue
Chance geben werden.
Endlich ergriff der Vater das Wort und durchbrach die Stille.
Überlegungen: Geben wir dieser Welt noch eine Chance? Vertrauen wir auf das Gute im Menschen? Oder glauben wir, dass nichts mehr zu retten ist?
Der Zug näherte sich der Stelle, an der sich alles entscheiden
würde. Der Mann wurde immer unruhiger, jetzt blickte er
zum Fenster hinaus, wie gebannt. Er wartete darauf, dass das
Unvermeidliche geschehen würde: Die Ablehnung.
Er hatte seiner Familie geschrieben, dass er sie nicht belästigen
wolle, wenn sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten.
Er würde mit dem Zug an ihrem Hof vorbeifahren, und auch
an dem Baum, in dem er schon als Kind seinen Namen geschnitzt
hatte.
Wenn sie wirklich nichts mehr von ihm wissen wollten, dann bräuchten
sie nichts zu unternehmen. Er würde an diesem Baum vorbeifahren,
nur einen Blick darauf werfen und weiterfahren, immer weiter.
Er würde nicht mehr zurückkehren.
Wenn Sie aber nur eine kleine Chance sehen würden, dass
er sich bei ihnen einfinden könne - und sei es nur für
ein paar Tage - dann sollten sie ein buntes Band in den Baum
hängen. Er würde es sehen, der Zug fuhr ja geradewegs
an diesem Baum vorbei. Und wenn dort wirklich ein Band im Baum
hängt, dann würde er am nächsten Bahnhof aussteigen.
Dann würde er zu ihnen zurückkehren.
Wenn dort ein Band im Baum hängt, nur dann.
Noch konnte er den Baum nicht sehen. Wenige Sekunden noch. Seine
Hände verkrampften sich.
Überlegungen: Wir brauchen Zeichen, damit wir erkennen, dass Gott uns nicht aufgegeben hat. Aber was kann ein solches Zeichen sein? Geben wir offen zu, dass wir Zeichen brauchen? Haben wir Augen für die Zeichen der Güte, der Aufmerksamkeit?
Der Zug hatte sich ein wenig in die Kurve gelegt und sein Tempo
verringert. Der alte Eichenbaum kam in das Blickfeld des Mannes,
der sich vor diesem Augenblick so gefürchtet hatte.
Seine Hände verkrampften sich noch mehr, als er den Baum
sah. Tränen standen in seinen Augen. Er senkte den Blick,
weil er nicht glauben konnte, was er sah.
Er hatte darum gebeten, ein einzelnes buntes Band in den Baum
zu hängen, wenn seine Familie ihm noch eine Chance geben
würde. Aber da hing kein einzelnes Band. Nein, der ganze
Baum war über und über mit Bändern behangen,
sie flatterten im Wind wie bunte Vögel; hundert, vielleicht
sogar zweihundert Bänder, unübersehbar. Die Botschaft
war eindeutig: Nicht nur eine Chance sollst Du haben. Nein,
hundert Chancen: Weil wir an das Gute in dir glauben. Weil wir
an dich glauben.
Guter Gott!
Es gibt viele Menschen, die glauben, dass diese Welt nicht
mehr zu retten ist. Sie haben es aufgegeben, das Gute in den
Menschen zu suchen.
Und doch sehnen sie sich nach Heil, nach Geborgenheit und Hoffnung.
Für diese Menschen ist jeder Gottesdienst nur ein Spiel: Sie spielen heile Welt, sie tun so, als ob sie und alles friedlich wäre - und betrügen sich selbst.
Du aber hast uns gezeigt, dass diese Welt nicht verloren ist, denn Du hast Deinen Sohn als Kind in diese Welt geschickt, weil Du an uns glaubst. Du weißt, dass diese Welt noch zu retten ist, weil du uns kennst. Du weißt, dass die Menschen noch lieben können, mit jedem Gottesdienst sagst Du uns: Ich liebe Euch und ich stehe zu Euch. Ich habe Euch nicht aufgegeben und ich werde Euch nicht aufgeben.
Öffne unsere Augen und Ohren damit sie das Gute sehen lernen. Öffne unseren Mund und unsere Hände, damit wir Deine Güte weitergeben.
Amen.