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KARL-LEISNER-JUGEND |
«Zwischen Macht und Liebe»
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von Prof. Dr. Axel Schmidt (Oktober 2007)
Vor sechs Jahren habe ich meinen ersten Aufsatz über Harry Potter verfasst und im Internet veröffentlicht. Damals waren erst vier Bände erschienen, und wegen des offenen Endes blieben einige der Interpretationsansätze notgedrungen Mutmaßungen. Inzwischen hat insbesondere Gabriele Kuby mit ihren z.T.
bösartigen Unterstellungen gegen die Autorin für Aufregung unter katholischen Christen gesorgt und sich dazu gar mit der Autorität des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation und jetzigen Papstes Joseph Ratzinger bzw. Benedikt XVI. geschmückt.
Ich bin nach persönlicher Korrespondenz mit Frau Kuby im Jahre 2003 darauf in einem eigenen Aufsatz eingegangen.
Nachdem nun der siebte Band erschienen ist, ist es an der Zeit, die damaligen Interpretationsansätze zu prüfen und ein abschließendes Resümee zu ziehen. Das Ergebnis vorwegnehmend ist festzustellen: Der siebte Band hat insbesondere meine These bestätigt, dass die Harry-Potter-Geschichte als eine moderne praeparatio Evangelii gedeutet werden kann.
Das Evangelium von Jesus Christus als dem Erlöser der Menschen ist den Christen heilig. Wie aber ist es zu ihnen gelangt? Nach dem Apostel Paulus bedarf es dazu vor allem der Verkündigung: Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt? So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi." (Röm 10,14.17) Nun ist jedem Verkünder des Evangeliums klar, dass sein Zeugnis zwar unabdingbar notwendig ist für die Weitergabe des Glaubens, aber offenbar nicht hinreichend. Die Adressaten seines Zeugnisses können z.B. gelangweilt sein oder desinteressiert; manche finden den Inhalt der Verkündigung unglaubwürdig oder lächerlich, den einen ist es ein empörendes Ärgernis", den anderen eine Torheit" (1 Kor 1,23), wieder andere lassen die Botschaft nicht an sich herankommen, sondern sagen: Darüber wollen wir dich ein andermal hören" (Apg 17,32). Jesus selbst beschrieb die vielfältigen Hindernisse gegen die Annahme des Evangeliums im Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3-9) und brachte sie u.a. mit dem Wirken des Teufels, mit psychischer Unbeständigkeit und mit der Habgier in Verbindung (Mk 4,15-19). Sein Vergleich der aufnehmenden Seele mit verschiedenen Ackerbodensorten lässt unmittelbar den Gedanken aufkommen, dass der Boden vor dem Einsäen des Wortes bereitet werden könnte und sollte. Dies ist die Idee der praeparatio Evangelii. Die Vorbereitung des Evangeliums ist noch nicht selbst Evangelium, sondern nur Bereitung des Bodens, Motivierung des Hörers, Weckung von Interesse, Sehnsucht und Suchen, kurz: ist noch nicht Antwort, sondern nur Frage.
Die Bereitung des Bodens kann sich nun auf viele Aspekte beziehen, insbesondere auf die psychologisch-moralische Charakterlage des Angesprochenen, auf seinen intellektuellen Horizont oder auf die sozialen und gesellschaftlichen Kontexte, in denen er steht. Es war und ist immer eine Kunst des Missionars, hierfür einen scharfen Blick zu haben und geeignete vorbereitende Maßnahmen für die eigentliche Evangelisierung zu finden. So spricht der Apostel Paulus vor den Gelehrten im Areopag (Apg 17,16ff) anders als vor seinen jüdischen Gegnern (Apg 22,1ff).
Geschwundene Überzeugungen
Dennoch blieb selbst vor diesen gegensätzlichen Gruppen ein Faktor
konstant, der jedoch in der modernen säkularisierten Welt seine Selbstverständlichkeit
verloren hat: die Überzeugung, dass es Heiligtümer"
(Apg 17,23) gibt, die den Menschen mit der transzendenten Welt verbinden
bzw. ihn vor dem verdienten Zorn der Götter schützen, dass überhaupt
unser moralisches Leben eine religiöse Relevanz und dass dieses Leben
wohl nach dem Tod eine wie auch immer geartete Fortsetzung besitzt. Diese
Überzeugungen, die Juden und Heiden bei allem sonstigen Gegensatz
verbanden, sind im säkularisierten Denken verschwunden. An ihre Stelle
ist der Glaube an den Fortschritt von Wissen und technischer Macht getreten:
So hoffte z.B. Descartes, dass die Technik die Menschen einst zu
Herren und Eigentümern der Natur machen" würde und dass
insbesondere die Medizin den Menschen vor allerlei Krankheiten, ja
vielleicht sogar auch vor Altersschwäche bewahren" können
müsste. Ganz in dieser Linie behauptete in jüngster Zeit der
amerikanische Wissenschaftstheoretiker und Präsidentenberater Ray
Kurzweil, der Sinn des Lebens bestehe darin, an der Evolution teilzunehmen
und Wissen zu schaffen"; er bestehe die Hoffnung, dass uns der technische
Fortschritt eines Tages den Tod überwinden lasse.
Angesichts solcher rein diesseitig orientierter Vorstellungen könnte
man eine ähnliche Kette rhetorischer Fragen bilden, wie Paulus sie
im Römerbrief formuliert hat: Wie sollen die Menschen auf einen
göttlichen Erlöser hoffen, wenn sie gar nicht auf die Idee kommen,
dass es eine andere Hoffnung geben könnte als die auf den technischen
Fortschritt? Woher sollen sie diese Idee haben, wenn ihnen alle Welt einredet,
dass das Leben nicht mehr ist als ein zeitlich befristeter Kampf ums Dasein?
Innerweltlicher Fortschrittsglaube untauglicher Boden für
das Evangelium
Der Glaube gründet zwar in der Verkündigung der Botschaft, aber
er setzt auch auf Seiten des Hörers etwas voraus: nämlich zumindest
die ernste Frage, ob sich die Welt auf das Gesetz des Stirb und Werde
im unvermeidlichen Daseinskampf reduzieren lässt oder ob es mehr
und anderes gibt: ob Liebe mehr ist als Besitzstreben und Genießen,
ob Wahrheit mehr ist als Interesse. Solange ein Mensch diese Frage nicht
stellt, bietet er keinen Boden für das Evangelium. Da prallt die
Glaubensbotschaft des Neuen Testaments ab, auch wenn sie regelmäßig
im Religionsunterricht mit noch so ausgeklügelten pädagogischen
Methoden aufbereitet wird.
Macht ohne Liebe
Was Not tut, ist eine Infragestellung und Widerlegung des scheinbar so
plausiblen säkularen Messianismus. Gewiss gibt es hierzu viele verschiedene
Erfolg versprechende Ansätze; aber ein gemeinsames Moment müsste
es sein, die zugrunde liegende Logik zu entlarven, und zwar als auf das
Interesse und die Macht von partikulären Subjekten ausgerichtet und
deshalb unfähig, das universale Wohl (aller Menschen) zu fördern.
Anders gesagt: Weil das säkularistische Denken auf Macht ohne Liebe
baut, bleibt es zutiefst inhuman.
Vorrang der Liebe
Der alternative Weg, den es zu bahnen gilt, kehrt den Primat um und setzt
auf die Liebe, ohne zu wissen, ob sie sich auf Dauer gegen die entfesselten
Mächte des Bösen halten und durchsetzen kann. Die Antwort auf
diese bange Frage gibt erst der christliche Glaube an einen Gott, der
die Interessen jedes Einzelnen im Auge hat und den Menschen aus der unseligen
Konkurrenz befreit, indem er ihn aus dem Tod herausholt und Leben in ewigem
Frieden anbietet. Der dreieinige Gott der christlichen Offenbarung vereint
somit Macht und Liebe und hebt ihren vorläufigen Gegensatz auf.
Die vor-christlichen Religionen konnten davon nichts ahnen, sondern
stellten den Menschen prinzipiell als das machtlose Wesen vor, das sein
Leben und Überleben allein der Gnade der Götter verdankt
wobei sie freilich, zumindest in ihren besseren Varianten, den Wert der
Tugend anerkannten und sogar bis zur Einsicht vordrangen, dass es besser
sei, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Demgegenüber verblasst
im nach-christlichen Fortschrittsglauben der moralische Ernst und
weicht einem Optimismus der zunehmenden menschlichen Macht. So beerbt
er das Christentum jedoch nur ganz einseitig, weil er die Anstrengung
ehrfürchtiger Liebe zu Gott verachtet.
Ein wenig vereinfacht lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt darstellen:
Heidnische Religiosität versucht die Macht der Götter durch
gewisse Gegenleistungen zu sichern; diese sind teils magischer, teils
moralischer Art. Die Gottheit wird nicht selbst als moralisch oder gar
liebend vorgestellt. Die christliche Verkündigung hebt demgegenüber
die Liebe Gottes hervor, die so groß ist, dass sie dem geschaffenen
Menschen Anteil an der göttlichen Macht über die Schöpfung
gewährt, wobei freilich die Liebe immer das Motiv der Machtausübung
sein muss. Der nach-christliche säkulare Fortschrittsglaube blendet
die Frage nach Gott aus und neigt dazu, moralische Fragen solchen nach
Ausweitung von Wissen und Macht hintanzustellen.
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Moderne praeparatio Evangelii
In einer Gesellschaft, in der die Rede von Gott entweder unplausibel geworden
ist oder dem säkularen Zeitgeist konform verkürzt wird, kann
die christliche Verkündigung nicht wie zur Zeit der Heidenmission
an schon vorhandene Überzeugungen hinsichtlich der Macht und Hoheit
Gottes und daraus folgender moralischer Forderungen an den Menschen anknüpfen.
Sie bedarf vielmehr einer grundlegenden Aufklärung darüber,
dass eine Vermehrung der menschlichen Macht ohne Liebe kein Heilsweg ist,
sondern nur heilloser Fortschritt und deshalb eher ein Rückschritt
in die Barbarei. Diese Art der Aufklärung ist heute unabdingbare
praeparatio Evangelii.
Die siebenbändige Romanfolge Harry Potter" enthält viel Stoff für literaturkritische, philosophische oder pädagogische Betrachtungen. Bereits jetzt sind die Besprechungen im Internet uferlos und kaum noch zu überblicken. Hier möchte ich lediglich den bescheidenen Versuch unternehmen aufzuzeigen, inwiefern der reichhaltige Stoff Anschauungsmaterial für die soeben skizzierte theologische Aufklärung bietet.
Widerstreit von Macht und Liebe
Dass es um den Widerstreit von Macht und Liebe geht, hat bereits der erste
Band gezeigt. Die Liebe seiner Mutter hat Harry das Leben gerettet, indem
sie das ihre geopfert hat; mit elf Jahren steht er zum ersten Mal vor
der Entscheidung, ob er sich auf die Seite des Mörders Voldemort
schlagen will, ob er das Machtmittel zur Unsterblichkeit, symbolisiert
im Stein der Weisen, bevorzugt oder ob er wie seine Eltern auf dem Weg
der hingebenden Liebe bleiben will. Die Versuchung ist groß, vor
allem deshalb, weil Voldemort listig argumentiert, dass seine Mutter umsonst
gestorben wäre, wenn Harry am Ende doch durch Voldemort umkommen
sollte, anstatt zu überleben. (Vgl. I, 319) Doch der junge Harry
widersteht dieser Logik des Egoismus und entscheidet sich dafür,
dem Vorbild seiner Eltern zu folgen.
Die größte Versuchung zur Macht
Eigentlich hätte er diese Entscheidung mit dem Leben bezahlen müssen,
aber er wird auf unverhoffte Weise gerettet, und das nicht nur einmal,
sondern in jedem der sieben Bände. Nach Erscheinen des vierten Bandes
erschien es durchaus noch vorstellbar, dass die Autorin für
einen der noch ausstehenden Bände vorsieht, dass der Heranwachsende
sich (zeitweise) für die falsche Weise entscheiden wird". In
der Tat hat sie im siebten Band mit den drei Heiligtümern des
Todes" Harry vor eine Versuchung ersten Ranges gestellt, eine Versuchung,
der nicht einmal Dumbledore hat widerstehen können (VII 721), zumal
diese drei magischen Gegenstände ja keineswegs klar als schwarze
Magie" erschienen; vielmehr schienen sie gegenüber Gut und Böse
neutral zu sein, und es galt lediglich, Voldemort daran zu hindern, sie
in seine Gewalt zu bringen. Den Tarnumhang besaß Harry ohnehin schon
seit langem (als rechtmäßiger Erbe des Ignotus Peverell), den
Auferstehungsstein hatte er von Dumbledore geerbt (der ihn wiederum aus
Vorlost Gaunts Ring, einem der sieben Horcruxe, herausgelöst hatte),
ohne allerdings zu wissen, wie er ihn aus seiner Verpackung, dem Schnatz,
herausbekommen und benutzen konnte. Nur den Elder Wand", den
mächtigsten aller Zauberstäbe, hatte Harry nicht, aber er wusste,
dass Voldemort kurz davor war, sich ihn zu beschaffen. Mit Harry fiebert
auch der Leser, ob die märchenhaften Heiligtümer des Todes"
nicht womöglich der Schlüssel für Sieg oder Niederlage
im Kampf zwischen Gut und Böse sein könnten, und lange Zeit
ist Harry Potter ganz im Gegensatz zur wieder einmal nüchternen
und hellsichtigeren Hermine davon ganz besessen, den unbesiegbaren
Zauberstab der Peverells zu finden. Doch als er Dobby, der für ihn
und seine Freunde sein Leben geopfert hat, mit eigenen Händen begräbt
und dies ganz ohne magische Hilfe tut eine sehr bewegende und aufwühlende
Szene , überwindet er diese letzte Versuchung, auf die Macht
zu setzen, und besinnt sich wieder auf die von Dumbledore gestellte Aufgabe,
die Horcruxe, Voldemorts magische Unsterblichkeitsgaranten, zu zerstören.
Von nun an ist Harry gefestigt, dass ihn keine Versuchung mehr von diesem
Weg abbringen kann. Sein anfangs durchaus schwankender Charakter ist gereift,
die pubertären Schwächen, die insbesondere im 5. Band dominierten,
sind überwunden, und am Ende gelingt es Harry sogar, seinen Geist
vor Voldemort zu verschließen eine lebenswichtige Übung,
an der er so lange verzweifelt ist.
Entscheidung zum Selbstopfer
Als Harry schließlich erfährt, dass ein Seelenteil Voldemorts
in ihm aufbewahrt ist, dass er also selber ein Horcrux ist, wird ihm klar,
dass er selbst sterben muss, wenn Voldemort endgültig besiegt werden
soll. Die bittere Wahrheit vor Augen, wird ihm der Wert des eigenen leiblichen
Lebens auf neue und intensive Weise bewusst, aber er entschließt
sich in heroischer Tapferkeit, das ihm auferlegte Opfer anzunehmen und
sich Voldemorts Todesfluch freiwillig auszusetzen. Rowling beschreibt
diesen schweren Gang ihres Helden in äußerst bewegender und
einfühlsamer Weise. Harry muss auf die Begleitung seiner Freunde
verzichten, doch wird seiner schier unerträglichen Einsamkeit ein
Gegengewicht dadurch entgegengesetzt, dass er plötzlich den Auferstehungsstein
benutzen kann, um seine Liebsten für eine gewisse Zeit aus dem Tod
zu sich zu holen. Seine Eltern, sein Pate und sein Lieblingslehrer geben
ihm Trost und Kraft: 'You'll stay with me?'" 'Until
the very end.'" Harry looked at his mother. 'Stay close
to me.'" (VII 708) Nachdem er verstanden und akzeptiert hat, dass
keinem Menschenwesen Macht über den Tod hinaus zusteht, besteht keine
Gefahr mehr, dass er den magischen Stein missbraucht, und so ist ihm seine
Benutzung für einen befristeten Trost nicht mehr verwehrt. Sein sehnlichster
Wunsch ist ganz rein, und so geschieht etwas Ähnliches wie sechs
Jahre zuvor, als er sich vom Bild seiner Eltern im Spiegel Nerhegeb hat
trösten lassen.
Leben nach dem Tod?
Die alle sieben Bände begleitende Frage, was nach dem Tod geschieht,
wird dadurch nicht beantwortet, nur noch intensiver gestellt. Bis zum
Ende harrt Dumbledores orakelhafte Andeutung einer näheren Ausdeutung,
wonach der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste
große Abenteuer" ist (I, 215). Selbst als Harry vom Fluch getroffen
gleichsam an der Schwelle zwischen Leben und Tod steht und dem bereits
gestorbenen Dumbledore begegnet, bleibt verhüllt, was ihn nach dem
Tod erwartet. Er darf allerdings wählen (VII 730), ob er ins irdische
Leben zurück oder ob er sofort das offenbar viel versprechende Abenteuer
eingehen will. Aus Verantwortung für seine Freunde entscheidet er
sich für das erstere, was indessen keine zweite Chance ist, wie P.
Irrgang fälschlich unterstellt (Peter Irrgang: Potter sieben: It's
over now? In: Komma 42/ 2007, 30-36, 32. Ansonsten ist dieser Aufsatz
jedoch ganz ausgezeichnet), da Harry zum einen gar nichts zu korrigieren
hat und zum anderen gar nicht wirklich tot war der Avadra-Kedavra-Fluch
hat lediglich den Seelenteil Voldemorts zerstört, nicht jedoch Harrys
leibliche Leben.
Bild- und Sachebene
Gewiss ist diese Begegnung mit Dumbledore im Zwischenreich nicht als Anknüpfungspunkt
für theologische Reflexionen zu benutzen. So ist sie wohl auch nicht
gedacht, sondern ganz innerhalb der reichhaltigen Bildwelt zu verstehen,
in der gezaubert wird, man mit Besen fliegt, wo Fotographien sich bewegen
und sprechen können und wo es auch Geister gibt, die zwar schon ganz
tot sind, aber dennoch auf dieser Erde herumspuken. Es wäre töricht,
diese Elemente der Bildwelt für die Sache selbst zu nehmen und Zauberer,
Hexen und Geister mitsamt ihren zahlreichen aberwitzigen Details wie Buchtiteln,
Zaubersprüchen und -tränken, Flohnetzwerk, Schulfächern
und -noten, Quidditch usw. für etwas anders zu halten als fiktive
Fantasy-Kreationen. Dass diese Bildwelt indessen auch gemeinsame Züge
mit der realen Menschenwelt aufweist, ist selbstverständlich, sonst
könnte sie der Leser nicht mit seinem Leben in Verbindung bringen
und keine Lehren aus ihr ziehen. So sind natürlich alle Zauberer
im Wesen Menschen mit allen uns bekannten charakterlichen und moralischen
Vorzügen und Mängeln. Sie sind Wesen mit endlicher Macht und
begrenzter Lebenszeit, der Tod macht ihnen nicht weniger Angst als uns
und stellt sie vor ungelöste Rätsel.
Schlimmeres als der Tod
Ja, die eigentliche Hauptfrage der sieben Bände ist die, welchen
Weg der Mensch angesichts des Todes einschlagen soll: Soll er mit aller
Macht versuchen, den Tod zu besiegen dieses Programm steckt schon
im Namen Voldemort" (vermutlich Raub des Todes";
vgl. IV, 682f) , oder soll er sich mit seiner Endlichkeit abfinden
und das Beste aus seinem begrenzten Leben machen? Zum Besten gehört
dann freilich auch diese Einsicht wird schrittweise entfaltet und
mit reichlichen Beispielen belegt , lieber zu sterben als
deine Freunde zu verraten" (III 387). Dazu gehört, wie Harry
gegenüber Aberforth Dumbledore klarstellt, der ihn dazu bringen will,
seine eigene Haut zu retten, an Höheres als die eigene Sicherheit
zu denken, an das größere Gut (VII 577). Dahinter steckt die
Erkenntnis, dass es Schlimmeres als den Tod gibt, den Verrat z.B., die
Schande, aber auch die ewige Bestrafung, von der Dumbledore Harry im Zwischenreich"
einige Andeutungen macht: Aber eins weiß ich, Harry, nämlich
dass du weniger von der Rückkehr hierher zu befürchten hast
als er." (VII 730f). Er bezieht sich auf eine entstellte, jammernde
Kreatur, die Harry sieht, welche entweder die hoffnungslosen Überreste
des zerstörten Horcruxes darstellt oder vielleicht sogar Voldemort
selbst. (VII 713ff) Dem entsprechen Dumbledores aufmunternde Worte: Bedaure
nicht die Toten, Harry. Bedaure die Lebenden, und vor allem diejenigen,
die ohne Liebe leben."(VII 731)
Aufforderung zur Reue
Am Ende redet Harry sogar noch auf Voldemort ein: Aber bevor
du versuchst mich zu töten, würde ich dir raten, darüber
nachzudenken, was du getan hast,
denk nach, und versuch ein wenig
zu bereuen, Riddle
- Das ist deine letzte Chance, sagte Harry, das
ist alles, was dir noch bleibt
Ich habe gesehen, was du andernfalls
sein wirst
sei ein Mann
versuch ein wenig zu bereuen
"
(VII 750) (Spätestens an dieser Stelle bricht G. Kubys abenteuerliche
Interpretation endgültig zusammen.)
Sinn des Leidens
Das hier zum Vorschein kommende Ideal heroischen Verhaltens wird
in jedem Band mit anspornenden Beispielen unterstrichen, am deutlichsten
jedoch im siebten Band, wo z.B. der anfangs so furchtsame Neville die
Widerstandsbewegung in der Schule anführt und schließlich todesmutig
die Schlange Nagini tötet und damit den letzten Horcrux vernichtet,
wo Dobby unter Einsatz seines Lebens Harry und seine Freunde aus der Höhle
des Löwen rettet und wo eine große Schar von Mutigen im Kampf
um Hogwarts als Märtyrer ihr Leben lassen muss. Das Beispiel Harry
hat auch andere mitgerissen, wie Neville erklärt: er Punkt
ist, es hilft, wenn Leute sich gegen die wehren, es gibt allen Hoffnung.
Das ist mir früher immer aufgefallen, wenn du es getan hast, Harry."
(VII 583) Harrys Folterungsleiden (Band 5) war also nicht umsonst.
Die Freundschaft zwischen Harry, Ron und Hermine bekommt von Band zu Band
einen immer größeren Ernst. Die Erzählkunst Rowlings erreicht
einen Höhepunkt bei der Schilderung der Trennung, als die Nerven
bis zum Zerreißen gespannt sind und Ron es bei den anderen nicht
mehr aushält. Und doch wird später gerade Ron unentbehrlich
sein bei der Bergung des Schwertes von Gryffindor und der Vernichtung
des Horcruxes, das Harry so lange mit sich herumgetragen hat und das ihn
beinahe umgebracht hätte. (VII 376-386)
Verblendung und Bekehrung
Besonders wertvoll ist, dass Rowling keine Schwarzweißmalerei betreibt,
sondern die vielfältigen Grau- und Zwischentöne zeichnet, wie
sie im Leben anzutreffen sind, und zahlreiche Beispielgestalten entwirft,
die teils aus Irrtum und Verblendung, teils aus Angst, Ehrgeiz, Eitelkeit
oder anderen fehlgeleiteten Affekten die Arbeit der Guten behindern und
hintertreiben, gelegentlich ihre eigene Position neu bestimmen und verändern
oder gar ausdrucksstarke Reue und Umkehr an den Tag legen. Hierzu gehören
u.a. der Zaubereiminister Cornelius Fudge, Rons Bruder Percy Weasley oder
auch der Hauself Kreatcher. Während sich am Ende sogar Draco Malfoy
und seine Mutter bekehren, bleibt der weitere Werdegang der Journalistin
Rita Kimmkorn oder der Karrieristin Dolores Umbridge offen.
Verwirrendes Doppelspiel
Von zentralem Interesse ist die Rolle des Lehrers Severus Snape, dem Dumbledore
immer vertraut hat, der aber durch seine Hasstiraden gegen Harry Potter
dem Leser von Anfang an verdächtig erscheint, bis er schließlich
im sechsten Band Narzissa Malfoy durch einen unbrechbaren Schwur versichert,
er werde ihren Sohn Draco bei allen seinen Diensten an Voldemort unterstützen,
was am Ende zur Tötung Dumbledores führt. Und doch stellt sich
dann im siebten Band heraus, dass Snape zwar Doppelagent ist, aber doch
seit siebzehn Jahren fest auf Seiten Dumbledores steht. Gerade dieser
Punkt, über den bis zum Erscheinen des 7. Bandes viel gerätselt
wurde, wird von Rowling auf psychologisch nachfühlbare Weise entwickelt,
so dass keine Widersprüche im Raume stehen. Denn Snape, der Harrys
Mutter unsterblich geliebt hat, wechselt nach deren Ermordung auf die
Seite Dumbledores und stellt sich gegen den Mörder Voldemort, der
selbst keine Liebe kennt und darum nicht ahnt, was in der Seele des am
Tode seiner Liebsten mitschuldigen Snape vor sich geht. Die Wut und Verzweiflung
gegen den Mörder sind freilich nicht ganz reine Motive für Snape,
und so bleibt sein Charakter ungefestigt und launisch. Darum scheint Snape
besonders geeignet, den delikaten Auftrag des todkranken Dumbledore zu
erfüllen und ihn durch den Avadra-Kedavra-Fluch zu töten. Wer
sonst hätte diese Gegensätze in einer Person vereinigen können,
wenn nicht Snape: das Selbstopfer Dumbledores äußerlich durch
den Todesfluch zu vollstrecken und dabei doch in strikter Loyalität
zu seinem Herrn zu bleiben? Snapes eigenes Ende ist weniger heroisch
als sinnlos: Voldemort, der bis zuletzt von Snapes Doppelspiel getäuscht
blieb, tötet ihn nicht, weil er am Ende die Täuschung durchschaut
hätte, sondern in der irrigen Meinung, dadurch Herr des unbesiegbaren
Zauberstabs zu werden. Diese Tat gibt einmal mehr Zeugnis von der absoluten
Bosheit Voldemorts, der alle übrigen Menschen für die eigenen
Zwecke instrumentalisiert und sie nach Bedarf dem Tode preisgibt; zum
anderen raubt sie Snape die Möglichkeit, seine gute Gesinnung in
einem fairen Kampf unter Beweis zu stellen und sich so ein ehrenvolles
Andenken zu bewahren.
Gelungene Deeskalation
Der spätestens seit dem 5. Band angekündigte und mit Spannung
erwartete Kampf zwischen Harry und Voldemort erfüllt die Funktion,
zum einen den Plot auf befriedigende Weise abzurunden, und zum anderen
ein letztes Mal die eigentliche Stärke der Hauptperson herauszustellen:
Das einzige, was Harry Potter wirklich perfekt beherrscht, ist der Entwaffnungs-Zauber,
also Verteidigung. So wenig er irgend einen Menschen töten will,
so wenig muss er Voldemort töten. Schon einmal, nämlich im 4.
Band, hat er sich mithilfe des simplen Expelliarmus-Zaubers retten können;
dieser ist gleichsam sein Markenzeichen. Drei Jahre später sieht
er darin selber auch keine Schwäche mehr, sondern tritt dem gefährlichsten
aller Zauberer selbstbewusst auf gleicher Augenhöhe gegenüber,
spricht ihn gar wie sein großes Vorbild Dumbledore mit seinem bürgerlichen
Namen Riddle an und raubt ihm so den Nimbus übermenschlicher Macht,
entmythologiert ihn quasi. Dass er selber Herr des Elder Wand"
ist, spielt dabei fast nur eine Nebenrolle; wichtiger ist, dass Harry
Potter sich durch seinen Feind nicht mehr schrecken lässt. Darum
muss er ihn auch nicht töten, sondern nur entwaffnen und abwarten,
bis derjenige, der anderen eine Grube gräbt, selbst hineinfällt.
Bibelzitate
An zwei markanten Stellen im 7. Band zitiert Rowling kaum bemerkt die
Bibel: Auf den Grabsteinen von Harrys Eltern und Dumbledores Mutter und
Schwester stehen jeweils Bibelsprüche: Der letzte Feind,
der entmachtet wird, ist der Tod" (VII 268: 1 Kor 15,26) und
Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz" (VII 266:
Mt 6,21). Harry missversteht zunächst den Spruch auf dem Grab seiner
Eltern und verwechselt ihn mit dem Programm der Todesser. Doch Hermine
korrigiert ihn: It doesn't mean defeating death in the way the Death
Eaters mean it, Harry.
It means . . . you know . . . living beyond
death. Living after death." (VII 337) Aus christlicher Perspektive
ist der Tod ein Übel, das jedoch nicht im Diesseits vernichtet werden
kann weder durch Wissen noch durch Macht oder Gewalt. Erst im Jenseits
wird der Tod entmachtet; dann erst triumphiert die Liebe vollkommen. Diese
jenseitige Überwindung ist das Werk Gottes, das in der Aufweckung
Jesu schon begonnen ist, auf die sich nun bereits alle Hoffnung der Christen
stützen kann.
Im Vorhof des Evangeliums
Doch bis dahin dringt der Roman nicht vor. Von echter Transzendenz ist
keine Rede, nur vom Abenteuer des Transzendierens. Jesus von Nazareth
wird nicht erwähnt, ein geschichtliches Eingreifen Gottes in die
Schöpfung bleibt ausgeklammert. Aber es gibt nach-christliche Erinnerung
an das Christus-Ereignis: Jedes Jahr wird Weihnachten gefeiert, dann werden
auch Christmas Carols gesungen (VII 333); Harry zeichnet ein Kreuz in
den Baum, unter dem er Mad-Eye Moodys Auge begräbt (VII 292); er
schreit im entscheidenden Augenblick auch seine ganze Hoffnung zum Himmel
empor (VII 752). Solche Hinweise könnten als verstecktes Bekenntnis
der Autorin gewertet werden. Dies halte ich aber für nicht so wahrscheinlich,
denn wenn sie vorgehabt hätte, genuin christliche Glaubenslehren
zu vermitteln, dann hätte sie dazu mehr Gelegenheiten gehabt. Man
könnte ihr dann sogar im Gegenteil vorwerfen, nur noch die gedankenlose
Oberfläche christlichen Glaubens zu präsentieren statt in die
Tiefen des Mysteriums vorzudringen. Aber eine solche Diskussion
ist verfehlt, wenn meine Vermutung richtig ist, dass Rowling keine religiöse
Botschaft vermitteln will, sondern vielmehr eine umfassende Kritik des
Fortschrittsglaubens, der sich nur auf innerweltliche Wissenschaft, Technik
und Macht stützt und dabei in Gefahr gerät, das Humanum zu zerstören.
Symbol für diesen falschen Glauben sind die Heiligtümer
des Todes", die irdische Macht versprechen und dabei nur zu vermehrter
Konkurrenz und Krieg führen. Die letzte Konsequenz dieses Denkens
führt Voldemort vor Augen, dem es nur noch um das eigene optimale
Überleben geht und den Untergang aller anderen gleichgültig
in Kauf nimmt. Die im Band 6 eröffnete Idee der Horcruxe führt
diese Logik des Überlebens auf Kosten anderer nur bis zur letzten
schrecklichen Konsequenz, wobei der Name wohl nicht zufällig das
lateinische Wort crux" (Kreuz) enthält. Hor"
ist der Name eines altägyptischen Pharao, steht also für das
Begehren, sich nach dem Tod ein unbegrenztes Weiterleben zu sichern. Der
Horcrux ist somit das Gegensymbol zum christlichen Kreuz, das demjenigen
Leben verheißt, der es aus Liebe hingibt: Wenn das Weizenkorn
nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber
stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert
es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren
bis ins ewige Leben." (Joh 12,24f) Und: Wer sein Leben
zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es
gewinnen." (Lk 17,33) Gewiss besteht ein Unterschied zwischen
Hallows" (Heiligtümer") und Horcruxen",
aber beide versprechen, Herr über den Tod" zu werden:
Master of death, Harry, master of Death! Was I better, ultimately,
than Voldemort?" fragt Dumbledore. (VII 721) Harry hält ihm
entgegen, dass er nie getötet habe, dass die Weise, den Tod besiegen
zu wollen, grundverschieden ist beim Hallow" und beim Horcrux".
Aber Dumbledore spürt, dass schon das Begehren nach Unsterblichkeit
gefährlich ist und in den Abgrund führt.
Wenn das Denken so weit gekommen ist, fällt die Verkündigung
des christlichen Evangeliums auf bereiten Boden. Die Liebe, für die
Harry Potter auf jeder Seite plädiert, kann dann als das innerste
Wesen Gottes geglaubt werden. (1 Joh 4,8)