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KARL-LEISNER-JUGEND |
von Pfr. M. Stücker (erstellt: 2017)
Die Bibel wörtlich zu nehmen?
Sind wir Fundamentalisten, wenn wir zur Bibel greifen, wenn wir auf Fragen unseres Lebens eine Antwort suchen?
Vor ein paar Monaten war ich auf einer Versammlung, wo dem Pastor der Vorwurf gemacht wurde, er fördere Gruppen in seiner Gemeinde, die fundamentalistisch seien. Was das bedeuten sollte, wurde denn gleich auch beschrieben: Fundamentalistisch sei einer, der die Bibel wörtlich nimmt.
Auf dem Podium saß nicht der Pastor selbst, dort saßen aber verschiedene Vertreter, auch einer vom Bistum, und zwei von verschiedenen Bewegungen und Gruppen, die man in Verdacht hatte, fundamentalistisch zu sein. - Und die wurden dann auch gleich in die Zange genommen: Was meinen Sie: muß man als Christ die Bibel wörtlich nehmen und wörtlich glauben?
Interessant fand ich, wie alle sofort und eindeutig zu erkennen gaben: Nein, natürlich nicht! Die Bibel muß man nicht wörtlich nehmen. Sie ist ein Buch, das man irgendwie anders verstehen muß.
Vermutlich hätte ich in dieser Situation genauso geantwortet. Doch irgendwas hat mich an dieser Antwort doch gestört, und ich habe überlegt, warum. Warum ist die Antwort: Die Bibel muß man, ja kann man nicht wörtlich nehmen, eine zu einfache Antwort, vielleicht sogar eine Antwort, die in die Irre führt?
Ich glaube, die Antwort liegt in der Botschaft, die wir heute im Evangelium empfangen. Es ist wiederum ein Abschnitt aus der Bergpredigt Jesu. Die Bergpredigt Jesu, eine große Redekomposition, die uns Matthäus überliefert, beginnt mit den Seligpreisungen der Bergpredigt und endet mit dem Gleichnis vom Haus auf dem Felsen. Sie enthält das schöne Doppelwort vom Salz der Erde und vom Licht der Welt, das wir sein sollen, und sie enthält auch das Vaterunser, das Jesus seine Jünger lehrt.
Und heute hören wir: Liebt eure Feinde. Betet für die, die euch verfolgen. (Mt 5,44). Wir können uns fragen: Wie sollen wir diese Aufforderung Jesu verstehen? Nicht etwa wörtlich? Aber wie dann? In einem übertragenen oder weiteren Sinne? Aber was ist hier der übertragene oder weitere Sinn? Ich kann meinen Feind, also den, der mir Böses antut, hassen und ihm Böses wünschen und ihn vielleicht auch ignorieren oder ich kann ihn lieben, ihm Gutes tun, den Kreislauf der Gewalt und des Bösen durchbrechen.
Ich kann entweder das Eine tun oder das Andere. Dazwischen gibt es eigentlich nichts. Ich muß also dieses Wort Jesu wörtlich nehmen oder ich muß es ablehnen oder mich nicht dafür interessieren. Dazwischen gibt es eigentlich nichts.
Das betrifft jetzt die Worte Jesu. Weiter gibt es in der Bibel Geschichtsberichte, es gibt Gebete, es gibt Kommentare zu Königen und Mächtigen der damaligen Zeit, es gibt Prophezeiungen, Mahnungen, Warnungen. Es gibt Trostworte und Berichte von Heilungen und Wundern. Und es gibt Erzählungen wie zum Beispiel die Josephsgeschichte im Alten Testament, die zu den ganz großen Texten der Weltliteratur gezählt wird, zu Recht.
Wie müssen wir diese Texte verstehen? Wörtlich? Oder anders? Wie verstehen Sie einen Text, einen Bericht, eine Geschichte, die Ihnen jemand aufschreibt, den Sie kennen? Von dem Sie wissen, daß er ein echter, ein authentischer Mensch ist? Jeder würde doch darauf antworten: Ich verstehe diesen Text so, wie er gemeint ist. Wie derjenige, die ihn aufgeschrieben hat, ihn verstanden hat. Ich muß den Schreiber, den Autor, ernst nehmen, und ich muß auch die Umstände ernst nehmen, in denen er schreibt: die Nöte, die ihn treiben, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die eine Rolle spielen. Der Anlaß, der ihn dazu bringt, das aufzuschreiben, was er für wichtig hält.
Alles das und sicher noch manches mehr kommt zusammen, wenn man etwas, was vielleicht in ferner Zeit aufgeschrieben wurde, wirklich verstehen will.
Wir können es dann versuchen zu verstehen, aber verstehen ist noch nicht glauben.
Ich kann etwas lesen und verstehen, aber ich kann zugleich ablehnen, was ich da lese und verstehe: einen Kommentar, eine Meinung, eine Überzeugung.
Jesus um nun auf die Bergpredigt zurückzukommen - möchte nicht nur gelesen und verstanden werden. Er möchte, daß ich ihm glaube und ihm folge. Daß ich seine Worte ernst nehme. Nicht einfach wörtlich, sondern ernst. Das ist sicher der tiefe Sinn, der in den Worten Jesu liegt. Wir sollen diese Worte als Worte für unser Leben nehmen, damit dann unser Leben gelingt.
Wie hat schon Mark Twain, der große amerikanische Erzähler, einmal gesagt: Mir bereiten nicht die Stellen in der Bibel Schwierigkeiten, die ich nicht verstehe, sondern am meisten die, die ich verstehe.
In den Reisebeilagen zu den Tageszeitungen lese ich am liebsten die kleinen Kästchen mit den Urteilen zu den Klagen, die Reisende anstrengen. Wenn der Baulärm vor dem Hotel unerträglich ist – wenn das Essen ungenießbar ist oder wenn es gar keins mehr gibt – wenn Ungeziefer in den Betten krabbelt – wenn ein angekündigter Ausflug ausfallen muß ... es kann viele Verdrießlichkeiten geben, die einen die schönsten Wochen im Jahr gründlich vermiesen und wo es nur einen Ausweg zu geben scheint: mein Geld muß zurück. Das, was mir zusteht, bekomme ich auch, und wenn ich es mir hole.
Die Urteile, die darüber gesprochen werden, versuchen, irgendwie die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Das, was recht ist, soll auch zum Zuge kommen. Der, der im Recht ist, soll auch recht bekommen. So weit, so gut.
Unser ganzes Rechtssystem fußt auf dieser Grundlage: daß jedem Gerechtigkeit widerfahren soll, das heißt, daß jedem nach Möglichkeit das gegeben wird, worauf er gerechterweise Anspruch hat.
Ist auf diesem Hintergrund nicht das, was Jesus sagt, völlig absurd? Daß einer, dem etwas weggenommen wird – der Mantel - auch noch das Hemd hergibt? Daß einer, der ungerecht geschlagen wird, das auch noch hinnimmt und erwartet, noch mehr Schläge zu bekommen? Ist das überhaupt noch menschlich, von Fairneß und Gerechtigkeit ganz zu schweigen?
Bevor wir behaupten, Jesus sei hier völlig weltfremd und abgehoben, und bevor wir denken, naja, die Kirche steht ja auch im Verdacht, in einer unrealistischen Weise Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit zu predigen, und sie muß sich darum nicht wundern, von vielen nicht ernstgenommen zu werden – bevor wir also unser Urteil darüber sprechen, was wir glauben, von Jesus verstanden zu haben, müssen wir doch erst einmal einen Moment innehalten.
Wir müssen uns überlegen: Was bedeuten denn eigentlich diese beiden zentralen Stichworte, die da die ganze Bergpredigt Jesu durchziehen? Diese beiden zentralen Worte, das sind: Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Unsere Gerechtigkeit, so will Jesus, soll größer, „überfließender“ sein als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, also derer, die den Ton angeben und eigentlich Vorbilder sein sollten, - und wir sollen „vollkommen“ sein, so wie Gott vollkommen ist.
Als Jesus gefangengenommen war und beim Verhör vor dem Hohenpriester ein Knecht ihm ins Gesicht schlug, hat Jesus das nicht einfach hingenommen, sondern den Knecht gefragt, mit welchem Recht er ihn schlägt (vgl. Joh 18,23).
Jesus lehrt uns nicht, Unrecht einfach hinzunehmen. Ungerechtigkeiten und Unrecht sind Wirklichkeit in unserer Welt, in unserem Alltag, leider. Da sind Unannehmlichkeiten im Urlaub noch harmlos. Was Christen in vielen Ländern dieser Erde erdulden, wo sie verfolgt, eingekerkert, geschlagen und sogar getötet werden, ist für uns beinahe unvorstellbar. Und noch heute leben viele Menschen in bedrückender Unfreiheit, in Sklaverei und sind entrechtet, hilflos, ausgebeutet.
Aber wie kann da Jesus noch fordern oder erwarten, daß wir dem Unrecht keinen Widerstand entgegensetzen, daß wir den Peinigern sogar vergeben, ja sie lieben sollen? Was ist da der Grund, was ist da der Maßstab?
Der Maßstab, so müssen wir sagen, ist ganz einfach! Es ist nicht eine neue Rechtsformel, keine Konstitution, kein Programm. Sondern der Maßstab, der die ganze Bergpredigt durchzieht, ist Er selbst, Jesus. Nicht weniger als sich selbst stellt Jesus als Maßstab auf für alle diejenigen, die Ihm nachfolgen wollen.
Das sieht wie eine Überforderung aus: Wer kann schon von sich sagen, er redet, er handelt, er denkt ganz so, wie Jesus es getan hat! Wir sind schwach, und wenn wir ehrlich sind, sind wir auch häufig mutlos, oberflächlich, wir versagen häufig schon in kleinen Dingen, in Nebensächlichkeiten.
Aber genau da, denke ich, setzt Jesus an: in unserer Schwäche, in unseren Begrenzungen, in unser Armseligkeit. Er setzt daran an, indem er das wunderbar Neue verkündet, etwas, das uns wirklich frei macht, etwas, das uns eine ganz neue Perspektive schenkt und in die Lage versetzt, frei zu handeln und das zu tun, was in den Augen dieser Welt so dumm, so naiv und so unkritisch aussieht: Er schenkt uns die Kindschaft. Er zeigt uns Gott als den Vater aller Menschen, als den Vater, der alle Menschen liebt und der uns zu seinen Töchtern und Söhnen macht und zu Geschwistern untereinander.
Diese Perspektive ist tatsächlich naiv, kindlich, denn wenn ich das annehme und glaube, dann handle ich in einer ganz neuen Weise, in einer ganz neuen Freiheit. Das Recht, das ich erwarten darf, die Gerechtigkeit, die ich wünsche und einfordere, empfange ich von Gott, nicht von Menschen. Den Lohn, den ich für das Gute erhoffe, das ich tue und um das ich mich bemühe, empfange ich von Gott, nicht von Menschen. Die Liebe, die mich aufatmen läßt und die mir Hoffnung und Kraft gibt, empfange ich von Gott. Und wenn Menschen Liebe schenken, haben sie die Kraft und die Möglichkeit dazu von Gott.
Das ist die neue Perspektive, die Jesus eröffnet: die Perspektive der Kindschaft. Als Kinder des einen Vaters im Himmel dürfen wir alles von Ihm erwarten.
Jesus selbst hat in dieser Perspektive gelebt, auch dann, als alles zu Ende schien und er das schwere Kreuz, das ihm auferlegt wurde, den Berg hinaufschleppte. Er hat sich nicht gewehrt, er hat für seine Peiniger gebetet. Und er hat die Hilfe des Simon von Cyrene angenommen, der gezwungen wurde, mit ihm zu gehen und das Kreuz mitzutragen. Hier haben wir, in der Leidensgeschichte Jesu, zum zweiten Mal das Wort, das Jesus in der Bergpredigt verwendet, als es um die Überwindung des Bösen geht: „Wenn dich einer nötigen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm“ (Mt 5,41). – Simon von Cyrene hat diese Weisung der Bergpredigt erfüllt, vermutlich zunächst mit Widerwillen und Abscheu. Später aber ist er mit seiner Familie ein gläubiger Christ geworden, der Jesus in seinem Leben nachfolgt.
Wenn wir die Bergpredigt beherzigen, können wir wie Simon von Cyrene diese Erfahrung machen: Wir gehen nicht allein, Jesus geht mit uns. Er hat das Böse dieser Welt durchkreuzt. Mit ihm verbunden, wird selbst das Böse zum Segen.