Heptalogie über die 7 Todsünden
Axel Schmidt Südkirchen, September/ Oktober 2007
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1. Der Hochmut - Predigt zu Lk 14, 1 . 7 - 14
22. Sonntag im Kirchenjahr (Lesejahr C)
Südkirchen und Capelle - 02.09.2007
Liebe Gemeinde!
Die Schriftlesungen des heutigen Sonntags empfehlen eine Tugend, die heute nur selten genannt wird und für viele
sogar negativ besetzt ist: die Demut. Viele verstehen unter Demut oft nur ihr Zerrbild: sie haben einen
schwachen, mit Minderwertigkeitskomplexen beladenen Typ vor Augen oder einen schmierigen Kriechertyp, deren
falsche Bescheidenheit vorwiegend dazu dient, ihrer eigenen Verantwortung aus dem Weg zu gehen. In Wahrheit geht
es jedoch um das Ideal des Menschen, der sich selbst recht einzuschätzen weiß und sich nichts auf seine
Charaktereigenschaften, Titel und Erfolge einbildet.
Der hl. Pfarrer von Ars hat gesagt: "Die Demut ist das Fundament aller anderen Tugenden. Wenn sie uns fehlt,
nützen uns alle anderen Tugenden nichts."
Das klingt übertrieben. Wir können es aber nachvollziehen, wenn wir uns das entgegengesetzte Laster
vergegenwärtigen, den Hochmut oder Eigendünkel. Unsre Sprache hat dafür noch weitere
Ausdrücke: Überheblichkeit, Arroganz, Hybris, Eitelkeit und Aufgeblasenheit. Es gilt zwar erstens:
Kein Fehler macht einen anderen so unbeliebt wie der Hochmut. Aber andererseits gibt es auch keinen Fehler, den
wir so schwer bei uns selbst bemerken. Je hochmütiger wir selber sind, um so weniger fällt es uns auf,
aber um so mehr verdammen wir den Hochmut bei anderen. Je mehr ich selbst im Mittelpunkt stehen will, um so mehr
ärgert es mich, wenn ein anderer sich in den Mittelpunkt stellt. Je mehr ich mich in meiner eigenen
Überlegenheit über andere sonne, um so mehr trifft es mich, wenn ein anderer seine Überlegenheit
über mich herausstellt, mich von oben herab behandelt oder mich zurücksetzt.
Der Hochmut lebt wesensmäßig von der Konkurrenz, vom Vergleich mit anderen; er ist das Vergnügen,
anderen überlegen zu sein. Er verlangt nach Wettbewerb und kennt darum keine Grenzen. Der Hochmut macht die
Menschen untereinander zu Feinden, ja, er ist die Feindschaft schlechthin. Er ist der Hauptgrund für alles
Elend in jedem Volk und jeder Familie. Er ist ein geistiger Krebs, der den letzten Rest von Liebe, von
Zufriedenheit und sogar von gesundem Menschenverstand zerstört. Dies sehen wir heute z.B. an einer Unterart
des Hochmuts, der Eitelkeit und dem Körperkult. Studien der letzten vierzig Jahre belegen, dass die
Zufriedenheit der Menschen mit ihrem eigenen Aussehen dramatisch gesunken ist, gerade weil für die
Selbstverschönerung ein immer höherer Aufwand betrieben wurde. Je mehr man investiert, um so größer
sind die Chancen, unzufrieden zu sein.
Wo der Hochmut die Herzen der Menschen bestimmt, da herrscht eine Hackordnung, die keine Rücksicht kennt.
Jeder benutzt den anderen als Mittel zur eigenen Selbststeigerung, als Trittbrett um höherzukommen. Die
anderen werden klein gemacht, damit man selbst als der Größere dasteht. Das gibt es schon bei Kindern, in
Jugendgruppen, nicht selten auch in Ehen und Familien. Ins Maßlose gesteigert, ist der Hochmut das
Strukturprinzip der Hölle.
Wir dürfen nicht verkennen, dass auch wir selbst infiziert sind von Hochmut und Selbstherrlichkeit. Wir
haben im Herzen böse Antriebe. Aber wir können auch auf gute Erfahrungen zurückblicken: Wenn wir
z.B. ganz selbstvergessen beim anderen waren und die Sorge um unser eigenes Ich gar keine Rolle spielte - ging es
uns da nicht besser als bei anderen Gelegenheiten, wo wir uns fast zwanghaft mit anderen vergleichen mussten und
ständig das Gefühl hatten, zu kurz zu kommen? Haben wir es nicht schon wiederholt erlebt, dass andere
Menschen uns gerade dann sympathisch fanden, wenn wir uns bescheiden zurückgehalten haben, anstatt unsere
Person in den Vordergrund zu schieben? Zeigt uns also nicht die Selbstbeobachtung, dass der Hochmut in der Tat
Unzufriedenheit und Unfrieden erzeugt?
Jesus sagt prägnant: "Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt,
wird erhöht werden." Damit will er keine rein menschliche Klugheitsregel aufstellen, in dem Sinne, wie
Friedrich Nietzsche das Wort verdreht hat: "Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden." Vielmehr meint
er den ewigen Ausgleich durch den göttlichen Richter, wie es im Spruch heißt: "Gott tritt den
Stolzen entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade." (Jak 4, 6; 1 Petr 5, 5) Doch das ewige
Gericht zeichnet sich schon in diesem Leben ab: die Hochmütigen sind unbeliebt und voller Verbitterung, und
allein die wahrhaft demütigen Menschen haben nicht nur viele Freunde, sondern auch ein frohes Herz - wie
Maria, die von sich sagt: "Meine Seele preist die Größe des Herrn, denn auf die Demut seiner Magd
hat er geschaut." (Lk 1, 46 . 48).
2. Die Trägheit - Predigt zu Lk 14, 25 - 33
23. Sonntag im Kirchenjahr (Lesejahr C)
Südkirchen und Capelle - 09.09.2007
Liebe Gemeinde!
Am letzten Sonntag habe ich über die Demut und ihren Gegensatz, den Hochmut, gesprochen. Heute möchte ich
den Faden wieder aufnehmen und ein anderes Gegensatzpaar bedenken, das aus der Reihe der so genannten sieben
Todsünden genommen ist: die Trägheit bzw. ihren positiven Gegensatz, den Starkmut.
Hierzu möchte ich anknüpfen an den Vergleich, den Jesus im heutigen Evangelium anstellt:
"Wenn einer
von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das
ganze Vorhaben ausreichen?" Wer das Ziel will, der muss auch die Mittel wollen. Das aber ist keineswegs
selbstverständlich; vielmehr kommt es immer wieder vor, dass man eine Sache zwar eigentlich haben will, aber
man hat keine Lust, das dazu Nötige einzusetzen. So würden viele gern mit dem Rauchen aufhören,
aber sie scheuen die Entzugserscheinungen. Oder jemand würde gern Englisch sprechen können, aber er
sieht sich gegen die Arbeit an, die er investieren müsste. Beispiele gibt es genug, die das illustrieren,
wogegen Jesus sich wendet.
Dass wir es hier mit der Trägheit zu tun haben, leuchtet vermutlich leicht ein. Was aber ist die
Trägheit eigentlich, und warum wird sie von den Theologen als eine der sieben Haupt- oder Todsünden
angesehen? Wenn wir die Trägheit beschränken würden auf Faulheit und Bequemlichkeit, dann ließe
sich das allerdings nicht einsehen. Warum sollte der Müßiggang "aller Laster Anfang" sein? Nicht die
Muße ist schlecht, und auch die Neigung zur Bequemlichkeit ist noch keine Sünde; aber die
Geisteshaltung, die sich dahinter verbirgt oder verbergen kann, hat tatsächlich etwas an sich, das direkt
gegen Gott gerichtet ist, und darum geht es bei dem Laster, das die Alten "acedia" genannt haben und das sowohl
Trägheit als auch Traurigkeit einschließt. Gemeint ist die Verweigerung von Anstrengung, insbesondere
von geistiger Anstrengung - und zwar aus einem Gefühl der Traurigkeit und Verzagtheit heraus, das Sören
Kierkegaard als "Verzweiflung der Schwachheit" bezeichnet hat. Wer von dieser Verzweiflung der Schwachheit
befallen ist, wagt es nicht mehr, er selbst zu sein; er weigert sich, sein eigenes Wesen und seine Berufung
anzunehmen: sie ist ihm zu hoch und zu schwer, denn sie mutet ihm eine Würde zu, die ihm eben als Zumutung
erscheint, als etwas, für das er sich zu schwach fühlt - "Verzweiflung der Schwachheit". Das gibt es
bei Erwachsenen und sogar schon bei Kindern. Neulich war ich in der Grundschule, um für den morgigen
Familiengottesdienst zu werben. Daraufhin sagte mir ein Junge: "Das ist nichts für uns. Wir schlafen immer bis
halb 10." Entscheidend war die Verachtung, die in seinen Worten lag: Wie kann man nur so blöd sein, für
den Gottesdienst früher aufzustehen? Wie können Sie mir bloß eine solche Überwindung
zumuten? - Ich frage mich dagegen entsetzt: Wie kann man nur seine Kinder schon in so jungen Jahren zu solch
erbärmlicher Trägheit und Respektlosigkeit erziehen?
Der Mensch, der von Trägheit geprägt ist, weicht seiner Berufung aus, er geht sich selbst aus dem
Weg und verliert sich in Ablenkungen jeder Art. Er ist wie Jona, der vor Gott fliehen will, damit er den schweren
Auftrag nicht ausführen muss. Die Berufung zu einem ewigen Leben bei Gott macht ihn nicht froh, sondern
ärgert ihn, so wie er überhaupt über alles unzufrieden und nörglerisch ist. Weil er sich
nicht vorstellen kann und will, dass es Freude an Gott gibt, kann er nicht mehr danken. Im Extremfall wird er
depressiv und lebensüberdrüssig. Wenn Gott ihm schon das Leben geschenkt hat, so räsoniert er,
dann müsse er ihm die Erfüllung dieses Lebens gefälligst in den Schoß legen, anstatt ihn
aufzufordern, an seiner Vervollkommnung selbst zu arbeiten.
Von hier aus verstehen wir vielleicht besser, warum der hl. Thomas von Aquin die Trägheit das
"Kopfpolster Satans" genannt hat. Vielleicht kommen wir sogar dahin, wenigstens ansatzweise die schockierenden
Sätze Jesu aus dem heutigen Evangelium zu verstehen: über das Geringachten von familiären Banden,
Leib und Leben im Vergleich zum Reich Gottes, das Jesus als unmittelbar nahe gekommen ansah. Wer dieses Ziel so
klar im Blick hatte wie Jesus, der musste nun auch die Mittel ergreifen, die zu ihm hinführten und alles
andere hintanstellen: Nur wer das wollte, der konnte Jünger Jesu sein und mit ihm eine Lebens- und
Schicksalsgemeinschaft bilden. Bloßes kraftloses Wünschen hilft nichts, wenn das Ziel durch allerlei
Hindernisse verstellt ist. Da muss man die Hindernisse ausräumen! Wer das nicht tun will, sondern
untätig herumsteht und andere machen lässt, der arbeitet dem Ziel entgegen.
Im Grunde ist das klar. Anstößig für uns ist eher die Übertragung dieser Forderungen Jesu
auf die ganze Gemeinde, für die weder klar ist, dass die Welt jeden Augenblick untergehen kann, noch, dass
familiäre Beziehungen dem Reich Gottes im Weg stehen. Aber will der Evangelist die Forderung Jesu wirklich
buchstäblich auf seine Gemeinde und sogar auf alle späteren Gemeinden übertragen? - Es geht doch
wohl eher um die geistige Haltung und Konsequenz, von denen wir unser Handeln bestimmen lassen sollen - je nach
den Umständen mal so, mal so, aber eben überzeugt, unbeirrt und mit frohem und starkem Mut. D.h. wenn
man z.B. spürt, dass die Blutsbande ein Hindernis für den Glauben sind, dann muss man sich davon
befreien; oder wenn man merkt, dass die weltliche Karriere oder das Luxusleben nach und nach die
Religiösität ersticken, dann muss man sich nach Alternativen umsehen; wer diese Konsequenz fürchtet,
ruht sich auf dem Kopfkissen des Teufels aus.
Der Trägheit und der geistigen Unlust ist die Tugend der Tapferkeit oder des Starkmutes entgegengesetzt.
Wie gewinnt man Starkmut? In erster Linie durch mentales Training, durch das Betrachten des geistig Edlen und
Schönen, also u.a. auch durch das, was wir hier im Gottesdienst tun: Kontemplation Gottes und seiner
Herrlichkeit, für die es sich lohnt, sich anzustrengen. Auch die Betrachtung der Hässlichkeit der
feigen Bequemlichkeit kann uns aufrütteln: "Mir nach spricht Christus, unser Held, mir nach, ihr Christen
alle. ... Ein böser Knecht, der still kann stehn, sieht er voran den Feldherrn gehen."
3. Der Neid - Predigt zu Lk 15, 11 - 32
St. Pankratius, 24. Sonntag im Kirchenjahr (Lesejahr C)
St. Pankratius - 16.09.2007
Liebe Gemeinde!
Ein beliebter und erfolgreicher Hochschullehrer, glücklich verheiratet mit zwei wohlgeratenen Kindern,
fährt zu einem Klassentreffen und kehrt davon völlig verändert zurück: Seine ehemaligen
Klassenkameraden haben ihm von ihren verschiedenen Karrieren und Erfolgen erzählt, und seitdem nagt der Neid
an dem bis dahin glücklichen und zufriedenen Mann. Seine wohlgeordneten Verhältnisse kommen ihm
plötzlich mittelmäßig und langweilig vor, sein Gehalt erschient ihm lächerlich im Vergleich
zu dem seiner früheren Mitschüler, obwohl einige viel dümmer als er waren. "Warum haben die
anderen, was ich nicht habe? - So viele Jahre schon strenge ich mich an und gönne mir kaum eine Pause - doch
wie wenig wird das honoriert. Aber die trüben Tassen und Versager - die schöpfen überall den Rahm
ab." Der Professor wird vom Neidgefühl so zerfressen, dass er zu einem Psychiater gehen muss.
"So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie
auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier
gekommen, dein Sohn, ... da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet." (Lk 15, 29f). Aus dem Lamento des
älteren Sohnes im Gleichnis spricht der Neid, eine der sieben Wurzelsünden, eine Sünde, die ihre
eigene Strafe im Gepäck hat, denn sie macht wie keine andere Sünde einsam und unzufrieden. Der
ältere Sohn will am Fest nicht teilnehmen, der Professor kann sich seines Lebens nicht mehr freuen. "Der
Neid frisst seinen eigenen Herrn." Er sticht, nagt und frisst, ist wie ein Wurm in uns und redet uns immer wieder
ein, dass wir zu kurz kommen und benachteiligt werden. - Wie steht es mit Ihrer Lebensfreude?
Kain neidet Abel die Gunst Gottes, Geschwister belauern einander, ob der andere vielleicht mehr bekommt: mehr
zu essen, mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuwendung. Als meine kleinen Nichten in Kanada sprechen lernten, war ein
Ausruf von Anfang an im Repertoire: "Me too!" - "Ich auch!" Wenn ein Kind ein Spielzeug haben will, das einem
anderen gehört - wie oft hört es dann: "Nein, damit will ich jetzt selbst spielen." Die Botschaft ist
klar: Das sollst du nicht haben, du sollst nicht in den Genuss von dem kommen, was mir zusteht. Die Angst, selber
zu kurz zu kommen, wandelt sich sogleich in Missgunst: Was ich nicht habe, soll der andere auch nicht haben.
Unsere moderne Konsumwelt setzt diesen Neid voraus und lebt von ihm. Permanent stimuliert die Werbung unsere
Wünsche, damit wir inmitten des Überflusses das Gefühl haben, uns fehle etwas, wir hätten
noch nicht, was uns glücklich machen kann.
Aber der Neid ist nicht harmlos. Den neidischen Menschen selbst verkrüppelt er und wühlt in ihm
viele andere negative Gefühle auf: Traurigkeit und Missgunst. Der neidische Mensch sucht einen Ausgleich
für das eigene Unglück und findet ihn in der Herabsetzung der beneideten Menschen: ("der da, dein
Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat") oder in der Schadenfreude, in Rache durch
Intrigen oder Denunziation. Im Extremfall führt der Neid zu Ressentiment und Hass, wie wir am Beispiel
Kains sehen können, aber auch z.B. Hitlers, der seinen mangelnden Erfolg mit tiefem Hass auf die beneideten
Juden kompensierte und in vielen Deutschen und Österreichern auch willige Neidgenossen fand.
Wie gehen wir mit aufkommendem Neid um? Der Professor, den ich eingangs erwähnt habe, konnte seinen Neid
überwinden, indem er mit Hilfe des Psychiaters aufhörte, ständig auf die Besitztümer der
anderen zu schauen, und sich stattdessen bewusst machte, wie viel er selbst hatte und wie gut es ihm doch
eigentlich ging. Er lernte, seinen eigenen Selbstwert wieder durch das zu definieren, was er Positives geleistet
und erreicht hatte, und nicht durch den Vergleich mit anderen. Überhaupt ist das Sich-Vergleichen die Wurzel
von Neidattacken. Man kann es auch übertreiben mit dem Vergleichen, vor allem dann, wenn die
Maßstäbe, die man dabei setzt, unpassend sind. Wenn man das Vergleichen schon nicht lassen kann, dann
sollte man sich auch gleichsam nach unten vergleichen: mit Menschen, denen es schlechter geht, und davon gibt es
bekanntlich mehrere Milliarden.
Zweitens sollte man sich überlegen, was einen Menschen denn in Wahrheit zufrieden macht: Sind es denn
wirklich Besitz, Geld, Freizeit und Status? Sind wir neidisch, weil wir unglücklich sind, oder
unglücklich, weil wir neidisch sind? Macht nicht vielmehr das Bewusstsein glücklich, lieben zu
können und selbst geliebt zu sein, vor allem von Gott, der spricht "Mein Kind, du bist immer bei mir, und
alles, was mein ist, ist auch dein." - Ist es nicht Dummheit und schnöde Undankbarkeit, das zu
vergessen?
Und drittens kann es auch helfen, sich einmal zu überlegen, was es den Menschen denn womöglich
gekostet hat, um die Position zu erreichen, für die ich ihn beneide. Vielleicht hat er hart arbeiten
müssen und auf Freizeit, Bequemlichkeit und Beliebtheit verzichtet - während ich selber all das zur
Genüge hatte und weiterhin habe.
Der ältere Sohn im Gleichnis hat seinen Bruder wegen der Barmherzigkeit beneidet, die ihm der Vater
geschenkt hat. Ob er aber bereit gewesen wäre, mit ihm zu tauschen und all die Demütigungen zu
ertragen, die dieser erlebt hat? Ob er selbst wohl verloren, ja seelisch tot sein wollte? Und wenn nicht - wie
kann er dann neidisch sein?
4. Die Habgier / der Geiz - Predigt zu Lk 16, 19 - 31
26. Sonntag im Kirchenjahr (Lesejahr C)
St. Pankratius - 30.09.2007
Liebe Gemeinde!
"Wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen. Wenn wir
Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen. Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und
Schlingen, er verfällt vielen sinnlosen und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Verderben und
in den Untergang stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen,
sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet." (1 Tim 6, 7 - 10).
Das sind Worte des alternden Apostels Paulus an seinen Schüler Timotheus. Paulus hat seine Erfahrungen
mit Menschen gemacht, die der verfluchten Sucht nach dem Geld verfallen sind: Sie werden von ihrer Gier
aufgefressen, verlieren alle Freude an Gott, haben kein Mitgefühl mehr mit ihren Mitmenschen und
stürzen unweigerlich ins eigene Verderben. Dabei ist es eigentlich so leicht, die entscheidende Einsicht zu
gewinnen, die dem Strudel der Habgier entkommen lässt: Du kannst nichts mitnehmen, das letzte Hemd hat keine
Taschen. Aber irgendwie kann man dieses Wissen doch auch wieder verdrängen, es wirkt jedenfalls kaum.
Darum ist es von Zeit zu Zeit nötig, die ernsten Aussagen der Bibel zu den Gefahren der Geldgier neu ins
Bewusstsein kommen zu lassen. Die Habsucht ist ein Götzendienst, sagt der Epheserbrief (5, 5). "Weh euch,
die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten." (Lk 6, 24) Und noch drastischer: "Eher
geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt." (Mt 19, 24). Diese
sprichwörtlich gewordene Warnung stützt sich auf das rätselhafte Phänomen, dass die Habsucht
sich nie begnügen kann, sondern schier unersättlich immer weiter giert und rafft. Wo das Raffen und
Anhäufen zum Selbstzweck geworden ist, da haben Vermögen und Besitz ihre ursprünglich positive
Rolle verloren und sind zum Mammon geworden, zum Götzen, der den Habgierigen kontrolliert und schikaniert.
Nicht er besitzt die Dinge, sondern sie besitzen ihn!
Das Evangelium führt uns diese psychologische Dynamik eindringlich vor Augen: Der reiche Mann denkt
offenbar nicht daran, seinen opulenten Reichtum mit dem armen Lazarus zu teilen, ja, nicht einmal, ihm wenigstens
etwas von den Resten zu geben. Mit welchen Ausreden mag er sich vor den Pflichten zu drücken versucht haben,
die das Alte Testament allen Begüterten gegenüber den Armen klar auferlegt hat, denn Eigentum verpflichtet?
Z.B. "Wenn bei dir ein Armer lebt, ... dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder
deine Hand nicht verschließen." (Dtn 15, 7) Oder in prophetischer Warnung bei Amos: "Hört dieses Wort,
die ihr die Schwachen verfolgt und die Armen im Land unterdrückt. Ihr sagt: ... Wir wollen den Kornspeicher
öffnen, das Maß kleiner und den Preis größer machen und die Gewichte fälschen. Wir
wollen mit Geld die Hilflosen kaufen, für ein paar Sandalen die Armen. Sogar den Abfall des Getreides machen
wir zu Geld. Beim Stolz Jakobs hat der Herr geschworen: Keine ihrer Taten werde ich jemals vergessen."
(Am 8, 4 - 7).
"Jeder ist sich selbst der Nächste", "das Hemd ist mir näher als der Rock", "wer nichts hat, ist
selber schuld" - und viele andere Sprüche gehen um, um der Verpflichtung des Eigentums auszuweichen. Aber es
sind nur die Ausflüchte des Geizigen, dem schon der Gedanke ans Teilen weh tut.
Da ist es schon ein Skandal, wenn nicht nur in der Werbung, sondern auch sonst im öffentlichen Leben der
Geiz als Tugend gepriesen wird. Anstatt den knickrigen Haltefest wenigstens mit Spott zu bedenken, wird sein
krankhaftes Jagen nach Schnäppchen auch noch als nachahmenswert und "geil" hingestellt. Doch der Geiz ist
Ausdruck einer tief sitzenden Angst, die das Leben ersticken lässt und schlechte Laune, Missmut und Bosheit
gebiert. Der geizige Mensch ist klein, bitter und hässlich.
Die ökonomischen und politischen Folgen der Habsucht sind keineswegs rosiger. Gewiss ist es wahr, dass
das Besitzstreben die Gesellschaft wohlhabend gemacht hat. Wenn es um den eigenen Grundbesitz und den eigenen
Erfolg geht, strengen sich die Menschen mehr an, als wenn sie nur für das Allgemeinwohl arbeiten müssen.
Aber es ist ein Irrtum, dass die blanken egoistischen Interessen der Reichen "wie von unsichtbarer Hand" den
Wohlstand auch der Armen befördern, wie Adam Smith vor über 200 Jahren behauptet hat und wie der
Neoliberalismus es heute wieder behauptet. In Wahrheit werden im globalisierten Kapitalismus die Reichen immer
reicher und die Armen immer ärmer. Die Verlierer im Kampf ums Dasein werden immer mehr ausgegrenzt, man
nennt sie sogar abfällig den "unvermeidlichen Bodensatz". Eine unbeschreibliche Gefühllosigkeit hat die
Menschen ergriffen, nicht nur die 800.000 Millionäre in Deutschland, sondern alle sozialen Schichten, soweit
sie von der "demokratisierten Habsucht" infiziert sind.
Jesus malt im Gleichnis das Schicksal des Habsüchtigen nach dem Tode aus. Es ist töricht, seine
Lehre als Drohbotschaft zu verunglimpfen und totzuschweigen. Unser Leben auf der Erde ist endlich, nach dem Tod
beginnt das ewige Leben, dessen Unendlichkeit unsere besten Kräfte jetzt schon mobilisieren sollte. Das
letzte Hemd hat keine Taschen. Wir können nichts mitnehmen. Einzig unsere guten Taten nehmen wir mit. Sie
sind gleichsam die Währung, mit der im Reich Gottes gehandelt wird. Mit der praktischen Nächstenliebe
bauen wir an unserer Zukunft.
5. Die Völlerei - Predigt zu Lk 12, 13 - 21
Erntedank - 27. Sonntag im Kirchenjahr (Lesejahr C)
St. Pankratius / St. Dionysius - 30.09.2007
Liebe Gemeinde!
Der reiche Bauer, von dem wir im Evangelium gehört haben, hätte für die reiche Ernte eigentlich
ein großes Dankopfer darbringen müssen. Aber Danke zu sagen, war wohl nicht seine Sache. Worum es ihm ging,
fasst er prägnant im Selbstgespräch zusammen: "Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des
Lebens!" (Lk 12,19).
Doch Jesus nennt dieses Denken Narrheit. Wer "nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott
nicht reich ist" (Lk 12, 21), ist ein Narr, denn er hat nicht begriffen, dass unser Dasein auf der Erde
begrenzt ist und dass sich darum nicht alles ausschließlich um dieses irdische Leben drehen darf. Vielmehr kommt
es darauf an, vor Gott reich zu sein, denn Gott ist unser Ziel, und unser Leben hier auf der Erde ist gedacht als
Weg zu Gott, als Einübung in die ewige Liebe.
Diejenigen Haltungen, die den Menschen von seinem ewigen Ziel abbringen, nennt die Theologie Todsünden.
Von der Habgier habe ich am letzten Sonntag gesprochen, sie ist auch im heutigen Evangelium Thema. Dass aber auch
die Unmäßigkeit im Essen und Trinken, die Völlerei, zu dieser Gruppe von todbringenden Sünden
gehört, ist nicht ohne weiteres einsichtig. Wem soll denn der unmäßige Esser schaden außer
sich selbst? Ist er nicht eher ein friedlicher und geselliger Zeitgenosse, der keiner Fliege etwas zuleide
tut?
Essen und Trinken sind keineswegs etwas Schlechtes, und auch der damit verbundene Genuss soll nicht madig
gemacht werden. Davon zeugen die vielen biblischen Vergleiche des Gottesreiches mit einem Hochzeitsmahl. Wie
sonst hätte Jesus ausgerechnet Brot und Wein zu den Zeichen seiner eucharistischen Gegenwart in der Kirche
machen können? - Aber hier wie auch im Falle des Geldes liegt der Haken in der Verkehrung der rechten
Ordnung, Vergötzung genannt. Der Apostel Paulus weiß ein Lied davon zu singen. Im Brief an die
Philipper schreibt er: "Viele - von denen ich oft zu euch gesprochen habe, doch jetzt unter Tränen
spreche - leben als Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Ende ist das Verderben, ihr Gott der Bauch." (Phil 3, 18f).
Wir leben nicht, um zu essen und zu genießen, sondern wir essen und trinken, um zu leben, und wir leben, um
lieben zu können: Gott und die Menschen. Wenn diese Ordnung verdreht ist, dann kommt der Mensch vom rechten
Weg ab. Noch einmal Paulus: "Die Speisen sind für den Bauch da und der Bauch für die Speisen; Gott wird beide
vernichten." (1 Kor 6, 13). Das klingt drastisch, ist aber heilsame Wahrheit. Es gibt einen Zusammenhang
zwischen Jenseitsglauben und Konsumverhalten: Wenn es nur dieses eine Leben gibt, muss ich möglichst viel
davon mitbekommen. "Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir
tot", schreibt der Apostel Paulus (1 Kor 15, 32). Die Gier nach Leben kennt dann kein Maß. Wenn man
seine Identität nicht von Gott her erwartet und erhofft, sucht man sie im Kaufen, Konsumieren und
Einverleiben.
Doch die Maßlosigkeit im Konsum wirkt auch zurück auf die spirituelle Dimension des Menschen: Wer
immer nur an Essen, Trinken und Genießen denkt, der hat keinen Blick mehr für die Schönheit der
Schöpfung, sondern nur mehr für den Genuss, den sie verspricht. Die Völlerei zerstört und
verschlingt alles, was sie berührt. Zurück bleiben verwüstete Buffets, leer gefressene Tafeln und
Berge von Abfall, Essensresten und Unrat. Hinzu kommen meist noch unzählige Mengen an Papier, Pappe und
Plastik, die unsere Müllberge ins Gigantische wachsen lassen und Zeugnis geben von ökologischer
Maßlosigkeit einerseits und Gedankenlosigkeit und Hartherzigkeit gegenüber den Hungernden
andererseits.
Der maßlose Konsum stört somit nicht nur das Gottesverhältnis, sondern auch das Verhältnis
zum Nächsten. Wer sich der Fressgier ergeben hat, ist egoistisch und selbstbezogen. Er neigt zur
Verschwendung und verliert die Ehrfurcht vor den Schöpfungsgaben, verliert die Dankbarkeit und die
Solidarität mit den zahllosen Hungernden dieser Erde.
Freilich hat die Völlerei heute ein anderes Gesicht als zu den Zeiten, als die Lebensmittel überall
knapp und nur den Reichen in Fülle zugänglich waren. Heute kann sich fast jeder Deutsche mit den besten
Speisen mehr als satt essen. Wurde früher der Dicke beneidet, weil er offensichtlich reich war, so ist es
heute beinahe umgekehrt: Die Reichen sind schlank und die Armen sind dick. In allen Schichten der Gesellschaft
sind wir fast permanent mit Essen beschäftigt, es ist geradezu zur Obsession geworden. In unserer
überflussgesellschaft werden unseren Augen nahezu ständig irgendwelche verführerischen
Nahrungsmittel dargeboten: Süßigkeiten, Kuchen, Salzgebäck, Chips, Snacks usw. Und wenn wir es
auch meistens schaffen, zu widerstehen, lassen wir unserem Appetit doch spätestens bei einer der zahllosen
Einladungen ungehemmten Lauf. So sind wir inzwischen so weit gekommen, dass Essen und Trinken als Bedrohung
erfahren werden, als Risikofaktoren, die das Leben verkürzen, statt es zu erhalten. Wenn Essen und Trinken
früher eine Art Ersatzreligion sein konnten, so gilt dies heute für die Gesundheitsmoral. Neuerdings
schreiben Theologen Bücher "wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult" . Aber
es ist wieder nur die alte Vergötzung des Bauches, die hier die theologische Kritik herausfordert. In jedem
Fall wird an die Stelle der wahren Religion ein Ersatz geschoben, der den Menschen auf seine animalische Stufe
reduziert und seine geistige Dimension ignoriert.
Der reiche Bauer im Gleichnis hätte für seine reiche Ernte Gott danken und seinen Reichtum mit
anderen teilen sollen, dann wäre er vor Gott reich und kein Narr gewesen. Damit sind uns zwei
Stichwörter gegeben, die uns erinnern, wie wir uns gegen die Verführung zur gierigen
Unmäßigkeit wappnen können: Dankbarkeit und Solidarität. Wer vor und nach dem Essen Gott
dankt und um seinen Segen bittet, der macht sich den Wert der Schöpfungsgaben bewusst und bewahrt seinen
Geist davor, im rein sinnlichen Genuss zu versinken. Wer noch dazu der Armen und der Hungernden gedenkt, der wird
schwerlich zuviel essen. So schickte auch Tobit angesichts der reich gedeckten Tafel seinen Sohn los, um einen
Armen aus dem Kreis der gottesfürchtigen Juden einzuladen. (Tob 2, 1f) Gelebte Solidarität mit den
Hungernden ist in jedem Fall ein wirksameres Mittel gegen die Völlerei als 1000 Diäten.
6. Der Zorn - Predigt zu Lk 12, 13 - 21
29. Sonntag im Kirchenjahr (Lesejahr C)
St. Pankratius / St. Dionysius - 21.10.2007
Liebe Gemeinde!
Das Gleichnis des heutigen Sonntags möchte ich zum Anlass nehmen, über den Zorn zu sprechen und
damit ein vorletztes Mal die sieben Wurzelsünden thematisieren. Der ungerechte Richter muss den Zorn der
Witwe fürchten, und darum gibt er ihr schließlich nach. Witwen galten im Alten Testament als Inbegriff
der Hilflosigkeit, sie waren arm, isoliert und hatten keine Machtmittel, ihre Interessen durchzusetzen. Sie
konnten höchstens an das Mitleid der Einflussreichen appellieren, doch das war eine höchst unsichere
Stütze. Schon damals waren die Mächtigen der Gesellschaft der Versuchung zu Korruption und
Amtsmissbrauch ausgeliefert, und keineswegs waren alle gottesfürchtig und fromm. Jesus wählt
ausdrücklich das Beispiel eines Richters, "der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen
Rücksicht nahm" (Lk 18,2).
Nun kommt es ihm im Gleichnis darauf an, zu erörtern, wie barmherzig und gerecht Gott im Vergleich zu den
Menschen ist, die manchmal sogar trotz ihrer Schlechtigkeit anderen Gutes tun, so wie hier der Richter. "Wenn
nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel
denen Gutes geben, die ihn bitten." (Mt 7, 11). Mir kommt es heute dagegen darauf an, den gefürchteten
Zorn der Witwe als Auslöser für das Nachgeben des Richters zu betrachten. Wäre es richtig und in
Ordnung, wenn sie dem ungerechten Richter ins Gesicht schlüge? Gibt es einen gerechten, gar einen heiligen
Zorn? Und warum ist Zorn dann eine Todsünde?
Dass es gerechten Zorn gibt, steht außer Frage. Denn es gibt Unrecht, empörendes Unrecht, und der
angemessene Affekt darauf ist Zorn. Er kann eine edle Emotion sein, wenn er von einem edlen Menschen ausgeht.
Eins der bekanntesten Beispiele ist die Vertreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel. Aber auch im
Alltag ist manchmal Zorn nötig und angemessen, denn er verschafft Gehör, wenn man sonst
überhört würde, er wirkt reinigend und klärend, nicht selten etwa im engen Familienkreis, wo
Gefahr besteht, dass einer die Ohren auf Durchzug geschaltet hat.
Aber wir wissen alle, dass der Zorn sehr häufig ausartet und gänzlich unangemessene Formen annimmt:
als blinde Wut, zerstörerischer Jähzorn und Aggressivität, ferner als kalter Ärger, schwelender
Groll und giftige Rachsucht. Er kann zu ohnmächtiger Wut ausarten, über die eigene Machtlosigkeit noch
rasender werden als über den eigentlichen Auslöser. Dann führt er zur Weißglut, in Raserei
und sinnloses Toben. Aber auch wenn er sich äußerlich zügeln lässt, kann der Zorn den
Menschen innerlich vergiften und verbittern, kann krank machen, vor allem herzkrank oder auch depressiv. Wie
viele andere Sünden hat der Zorn die eigene Strafe im Gepäck.
In der modernen Gesellschaft scheint der Zorn eine ganz besondere Verbreitung gefunden zu haben: die
Kriminalitätsrate steigt weiterhin bedrohlich, Gewaltausbrüche gegen Kinder lassen uns erschrecken,
Schulhöfe werden zu Schauplätzen von Mobbing und Gewalt, bis dahin, dass Amokläufer sie in blutige
Schlachtfelder verwandeln; auf Straßen und Autobahnen grassiert die Aggression, "Road-Rage" genannt, der
Terrorismus ist ein weltumspannendes Problem geworden, das tagtäglich Hunderte von Menschenleben fordert.
Und nicht zu vergessen: die Grundstimmung in unserem Land ist mürrisch und missmutig, die Leute kriegen beim
geringsten Anlass "einen dicken Hals", sie ärgern sich über alles und sie verklagen einander, was das
Zeug hält.
Allein diese kurze Aufzählung dürfte einen weiteren Beweis unnötig machen, dass der Zorn
wirklich eine schlimme Sünde ist und die Wurzel von Elend und Grauen in der Welt. Doch was ist der Grund
für die Zunahme der Aggression, und was kann der einzelne dagegen machen? Der Apostel Jakobus schreibt dazu:
"Woher kommen die Kriege bei euch, woher die Streitigkeiten? Doch nur vom Kampf der Leidenschaften in eurem
Innern. Ihr begehrt und erhaltet doch nichts. Ihr mordet und seid eifersüchtig und könnt dennoch nichts
erreichen. Ihr streitet und führt Krieg." (Jak 4, 1f). Neid, Begehren, Eifersucht, ja auch die
übrigen Wurzelsünden sind oft Auslöser von Aggression, also vor allem auch Hochmut und Habgier.
Kaum ein Krieg wurde geführt, ohne dass die fehlgeleitete Leidenschaft eines einzelnen oder einer Gruppe
zugrunde lag.
Diese psychischen Ursachen werden zum Teil durch bestimmte Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens
verstärkt. So haben wir unser Leben in den letzten Jahrzehnten zunehmend verrechtlicht und dadurch ein sehr
hohes Anspruchsdenken geschaffen. Was man früher als unvermeidlichen Schicksalsschlag hingenommen hat, das
wird heute als ungerecht empfunden, und man sucht immer einen Schuldigen und einen, der für das Unglück
bezahlt. Meistens ist dies der Staat, manchmal auch ein einzelner Mensch: der Arzt, die Krankenschwester, der
Kollege oder wer immer. Auch der verbreitete Groll gegen Gott kommt aus einem übersteigerten
Anspruchsdenken.
Ein zweites kommt hinzu: Der moderne Mensch ist in vieler Hinsicht zum Einzelkämpfer geworden,
herausgelöst aus den engen Bindungen an eine Gemeinschaft, hochgradig individualisiert und auf sich selbst
zurückgeworfen. Das führt zu verzerrter Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie man am Beispiel des
Autofahrers gut sehen kann. Da er in seinem Fahrzeug aus Blech und Glas eingekapselt ist und nicht wissen kann,
was in den anderen Fahrern vor sich geht, neigt er leicht dazu, diese anderen als Feinde anzusehen, die ihm
absichtlich die Vorfahrt nehmen, oder als Idioten, die nicht Auto fahren können. Diese Neigung, über
die anderen zu urteilen und ihnen alles Mögliche, vor allem Schlechtes zu unterstellen, ist nicht nur beim
Autofahren anzutreffen, sondern auch sonst im Alltagsleben. Paul Watzlawik hat diese Unterstellungsmanie in
seinem Bestseller "Anleitung zum Unglücklichsein" meisterhaft karikiert:
"Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen.
Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was,
wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig.
Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und
was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte,
ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen
abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und da bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn
angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht's mir wirklich. - Und so stürmt er
hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er "Guten Tag" sagen kann, schreit ihn unser Mann
an: "Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!""
Wenn man die Ursachen einer Verfehlung kennt, dann kann man sie auch leichter vermeiden. Gegen den zuletzt
erwähnten Unterstellungswahn hilft das Gespräch, vor allem das eigene Zuhören. Zuhören ist
vielleicht die wichtigste Fertigkeit, um Ärger vorzubeugen. Wer zuhört, weiß: Die anderen haben
auch ihre Probleme, und sie sind keineswegs alle bösartig und streitsüchtig. Die Besserwisser, die
nicht zuhören können, sind in hohem Maße herzinfarktgefährdet. Dem entspricht der Rat des
Apostels Jakobus: "Denkt daran, meine geliebten Brüder: Jeder Mensch soll schnell bereit sein zu
hören, aber zurückhaltend im Reden und nicht schnell zum Zorn bereit." (Jak 1, 19) - Ein zweites
Heilmittel gegen die Aggressivität sind Toleranz und Vergebungsbereitschaft: Die anderen so lassen
können, wie sie sind, sie nicht anders haben wollen - das spart sehr viel Ärger. Und wenn sie uns
tatsächlich einmal etwas Böses angetan haben, dann wird der Zorn am besten durch Vergebung abgebaut.
Wer Vergangenes vergangen sein lassen kann, der hat mehr Kraft für die Gegenwart und Zukunft. Das empfiehlt
auch der Apostel Paulus: "Lasst euch durch den Zorn nicht zur Sünde hinreißen! Die Sonne soll
über eurem Zorn nicht untergehen." (Eph 4,26).