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Grundkurs des Glaubens - Der Mensch

Im Glauben und in der Theologie beschäftigen wir uns vertieft mit der Frage nach Gott - seiner Existenz und der Frage, was für ein Gott er eigentlich ist. Um Gott zu erkennen, müssen wir die Quellen der Theologie gründlich untersuchen; wir nennen diese Quellen der Gotteserkenntnis »Offenbarung«; denn wir könnten von Gott nichts wissen, wenn er sich selbst nicht zu erkennen gäbe. Wer »Offenbarung« hört, denkt natürlich zuerst an die Bibel und das, was Jesus Christus uns von Gott gezeigt hat. Aber darüberhinaus gibt es die sogenannte »natürliche Offenbarung«, die wir in der Schöpfung entdecken. Paulus schreibt sogar, dass wir nur durch das Anschauen der Natur (damit ist nicht nur die bunte Pflanzenwelt in Omas Garten gemeint, sondern alles, was geschaffen ist) erkennen können, dass es einen Gott gibt.

Von allen natürlichen Geschöpfen ist der Mensch die größte und schönste Offenbarung Gottes - denn Gott hat ihn nach Seinem Ebenbild erschaffen. Eine christliche Anthropologie ist also nicht nur eine Betrachtung des Menschen, sondern ein Blick durch den Menschen auf dessen Schöpfer - auf Gott. Und umgekehrt: Je mehr wir von Gott wissen, umso mehr verstehen wir, wozu der Mensch ursprünglich berufen war, bevor seine Gottebenbildlichkeit durch die Sünde getrübt wurde. Wer auf Gott schaut, begreift überhaupt erst den Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit.

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2. Abend zur Schöpfungstheologie: Der Mensch

I. Philosophische Anthropologie
1. Die Frage nach dem Menschen entsteht
a. Das Nagen an den Rändern
b. Das Mitspracherecht der Christen: Eine Mitsprachepflicht
c. Von der ersten Abgrenzung zur Leib-Seele-Existenz
2. Die Leib-Seele-Existenz
a. Die Seele: Das Phänomen der Geistigkeit, Sprache, Freiheit und Moral
b. Der Grund von Geistigkeit, Sprache, Freiheit und Moral: Die Seele
c. Die Krone der Schöpfung
3. Der Leib in der Leib-Seele-Existenz
a. Monismus: Die Leib-Seele-Identität
b. Dualismus: Der Leib als Gefängnis der Seele (Platonismus)
c. Christliche Theologie des Leibes

II. Theologische Anthropologie
1. Moralische Grenzen
a. Leben von Anfang an
b. Moralische Fragen am Ende des Lebens
c. Freiheit und Würde
2. Naturwissenschaftliche Implikationen
a. Erziehung, Gene oder Seele
b. Menschliches Leben in der Evolution
c. Anthropologie und Hirnforschung
3. Die Zweigeschlechtlichkeit und der Gender-Gaga
a. Mann und Frau als Wesenseigenschaften
b. Unterordnung und Leitung
c. Heiligkeit durch Geschlechtlichkeit

III. Christliche Anthropologie: Das christliche Menschenbild
1. Guter Mensch - böser Mensch?
2. Gemeinschaft als Bestimmung der Zukunft
3. Glück durch Wahrheit und Liebe

I. Philosophische Anthropologie
1. Die Frage nach dem Menschen erwacht

a. Das Nagen an den Rändern: Grenzerfahrungen. — Zunächst ist die Frage »Was ist der Mensch?« wenig alltagsrelevant: Wir alle wissen, was ein Mensch ist. Vor allem wissen wir, wer ein Mensch ist: Oma, Opa, die Familienmitglieder, die Nachbarn und Freunde und so weiter. (Für kleine Kinder mögen die Unterschiede gelegentlich verwischt erscheinen und sie erkennen Stofftieren und fiktiven Figuren ein scheinbar ebenbürtiges Personsein zu. Aber bei gezieltem Nachfragen wissen auch schon die Kleinsten, dass es sich dabei um eine Illusion handelt.)

Erst an den »Rändern« der menschlichen Existenz wird deutlich, dass wir intensiver darüber nachdenken müssen, was ein Mensch ist und was ihn mit einer unverwechselbaren Würde auszeichnet:

Im Zusammenhang mit der Abtreibung stellt sich die Frage, ab wann ein Mensch existiert; im Zusammenhang mit der Organtransplantation oder der Sterbehilfe müssen wir uns der Frage stellen, bis wann wir einen Menschen seiner Würde entsprechend behandeln müssen; im Zusammenhang mit Tierversuchen (oder auch schon der Frage, ob wir Tiere töten und essen dürfen) stellt sich die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet - und im Zusammenhang mit einer (heute gottseidank seltenen) Herrenrassen-Ideologie stellt sich die umgekehrte Frage, ob es eine fortschreitende Evolution gibt, die wiederum das Recht verleiht, Menschen unmenschlich zu behandeln (was leider nicht so selten passiert).

Aber auch ohne nach diesen »Rändern« der menschlichen Existenz zu fragen, gibt es Aussagen über das Wesen des Menschen, die unseren bislang nicht reflektierten Erfahrungen widersprechen - und die von großer Alltagsbedeutung sind: Sind letztlich alle Menschen zunächst gleich und gleichartig - und entwickeln sich erst später z.B. zum Abiturienten oder Hauptschüler? Oder gibt es ein Intelligenz-Gen? Wählen die Menschen ihr Geschlecht und ihre sexuelle Identität oder ist sie ihnen vorgegeben? Ist der Mensch frei und damit für sein Tun verantwortlich oder ist er letztlich ein Produkt seiner Erziehung oder seiner Gene? Sollte die Erziehung der Kinder von Anfang an verstaatlicht werden, damit alle Menschen wirklich eine gleichwertige Chance erhalten?

b. Das Mitspracherecht der Christen: Eine Mitsprachepflicht. — Nicht wenige Zeitgenossen billigen der Kirche und der Religion in diesen Fragen kein besonderes Mitspracherecht zu - die Kirche sei (so die verbreitete Meinung) letztlich so etwas wie ein Kegelverein, dessen Mitglieder nach ihren eigenen, selbsterfundenen Spielregeln handeln. Für alle Vorgänge innerhalb des Vereins seien diese Regeln brauchbar; wer möge, könne danach leben. Aber warum sollte der Staat Kegelclubs, Kaninchenzuchtvereine, die Kirche oder die FIFA nach ihrer Meinung fragen, wenn es zum Beispiel um die Diskussion bezüglich der Embryonenforschung geht?

Warum schweigen wir dennoch nicht? Etwa, weil wir keinen Glauben an einen Gott haben können, der nicht auch ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt? Ja, das auch. Aber noch viel mehr gilt: Wer keinen Glauben an Gott und damit ein bestimmtes Gottesbild hat, kann auch kein wirkliches Menschenbild haben. Jede Offenbarung über Gott schließt auch eine Beschreibung des Menschen mit ein; eine reine Naturwissenschaft kann niemals zu einem Begriff wie Menschenwürde gelangen, geschweige denn von der Unantastbarkeit der menschlichen Würde sinnvoll reden. Der Staat ist in seiner Vollmacht, die weltlichen Dinge zu regeln, auf Voraussetzungen angewiesen, die er sich selbst nicht geben kann (so die Position des bekannten Staatsrechtlers Böckenförde). Gott, Offenbarung, Theologie und Kirche schreiben dem Staat nicht vor, wie er sich zu organisieren hat, aber sie erweisen dem Staat den notwendigen Dienst, ihm die Wirklichkeit aus ihrer jeweiligen Perspektive und den damit zusammenhängenden Aspekten zu beschreiben. So wie die Naturwissenschaften sich zur unbelebten Natur äußern und der Staat dies tunlichst berücksichtigt, ebenso beschreiben Wirtschaftswissenschaften, Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften, Humanwissenschaften, Psychologie und Medizin bestimmte Aspekte der Wirklichkeit. Vergleichbares gilt für die Theologie. Für den Staat sind vor allem jene Aussagen der Theologie nicht selbst ableitbar, die sich auf moralische Werte und die Würde des Menschen beziehen.

Wenn sich die Politik nicht um die Erkenntnisse der verschiedenen Wissenschaften kümmert, schadet das vor allem dem Menschen und somit auch dem Politiker selbst. Es ist also gut, hinzuhören, was die christliche Anthropologie zu sagen hat. Und es ist wichtig, dass die Christen auch etwas zu sagen haben - und vor allem wissen, was sie sagen sollten.

c. Von der ersten Abgrenzung zur Leib-Seele-Existenz. — Schon bei der ersten Frage - »Was unterscheidet den Menschen eigentlich vom Tier?« - kommen wir nach gründlichem Nachdenken nicht darum herum, neben dem Körper des Menschen noch ein geistiges Prinzip anzunehmen. Denn alle unsere körperlichen Merkmale unterscheiden uns von den Tieren nur insoweit, als sich auch einzelne Tierarten voneinander unterscheiden. Rein biologisch gesehen sind wir nicht mehr als nur eine unter unzähligen anderen Säugetier-Gattungen. Selbst wenn wir annehmen, dass wir intelligenter oder anpassungsfähiger sind als alle anderen Tierarten und sich dadurch erst unsere Kultur und Gesellschaftsform entwickeln konnte, lässt sich daraus nicht einmal annähernd so etwas wie eine »Würde« des Menschen ableiten. Außerdem sind wir gar nicht einmal soviel intelligenter; bestimmte andere Tierarten (wie z.B. der Buckelwal) übertreffen uns in speziellen Intelligenzleistungen allemal.

Nein, der grundsätzliche Unterschied zum Tier kann nicht in dem liegen, was wir biologischerseits hervorbringen, leisten oder an Fertigkeiten besitzen. Vielmehr muss der Mensch eine Eigentümlichkeit haben, die ihn dazu in die Lage versetzt, Moral zu erkennen (bis hin zum Jurastudium), Sprache zu entwickeln (bis hin zum Shakespeare'schen Drama) und Technik anzuwenden (wie zum Beispiel ein Handy oder eine Raumstation). Und diese Eigentümlichkeit ist nicht materieller Art.

Wenn aus der Offensichtlichkeit, dass der Mensch dem Tier zumeist überlegen ist (und in diesem Sinne ist die rein evolutionäre Intelligenz ja auch eine körperliche Eigenschaft), schon folgen würde, dass der Mensch deshalb auch Tiere töten darf, dann wäre das die pure Anwendung des »Gesetzes des Stärkeren« (für Freunde von unverständlichen Fremdwörtern: auch Trasymachisches Gesetz). Die Frage von Tierschützern, Vegetariern und Veganerinnen, warum der Mensch unter seinesgleichen die Anwendung des Gesetzes des Stärkeren als Verbrechen, Tieren gegenüber als hingegen rational vertretbares Prinzip ansieht, ist berechtigt. »Woher nimmt sich der Mensch die Arroganz, sich so über die Tiere zu erheben? Mit welchem Recht tut er dies?«

Einer meiner Schüler bemerkte konsequenterweise: Wenn die jeweils größere Intelligenz ausreiche, um Macht und Gewalt zu rechtfertigen, dann wäre es ja auch berechtigt, wenn Aliens, die nunmal deutlich intelligenter als wir Menschen seien, uns wie Tiere behandeln, töten und gegebenenfalls verspeisen würden.

Natürlich können wir (wie es zum Beispiel Peter Singer tut) auf das Vorhandensein bestimmter Merkmale schauen: Tiere haben zwar Pläne (zum Bau eines Nestes), aber keine Hoffnungen und Zukunftsträume, die wir durch einen Tod zerstören. Oberstes Prinzip der Moral sei die Leidfreiheit und somit auch das Respektieren von Zukunftserwartung. Einem Menschen können wir seine Zukunft rauben - einer Ameise nicht, weil sie gar keine Vorstellung von Zukunft hat. Das bedeutet allerdings auch, dass wir mit dieser Begründung nicht nur Embryonen, sondern auch Neugeborene, Komapatienten, geistig mehrfach Schwerbehinderte und demente Personen auf eine Stufe mit Tieren stellen müssten - ein Problem, das Peter Singer zwar nicht übersieht, aber aus christlicher Sicht wenig akzeptabel löst.

Dieser anthropologischen Sicht und der daraus folgenden Moral (die im allgemeinen Präferenz-Utilitarismus genannt wird) können wir nur darum eine schlüssige Antwort geben, wenn wir eine nicht-materiellen Komponente - die Seele in ihrer geistigen Qualität - als das unterscheidende Wesensmerkmal annehmen. Wichtig: Wir erfinden die Seele nicht, um unser (scheinbar bestialisches) Verhalten den Tieren gegenüber zu rechtfertigen; vielmehr fragen wir nach dem Grund, weshalb der Mensch in der Lage ist, über sich selbst hinaus zu denken und auch moralisches Leid zu empfinden. Letztlich ist die Behauptung, der Mensch sei mehr als nur eine körperliche Existenz, keine bloße Vermutung, sondern eine offensichtliche Erkenntnis.

Bevor wir uns diesem Tier-Mensch-Unterscheidungsgrund zuwenden, sollten wir aber erst einmal klären, was wir unter dieser offensichtlich vorhandenen, aber gerne geleugneten immateriellen Seele zu verstehen haben.

2. Die Leib-Seele-Existenz

a. Die Seele: (1) Das Phänomen der Geistigkeit, Sprache, Freiheit und Moral. — Zunächst ist die Geistigkeit des Menschen ein Phänomen. Eine Geist-Seele ist weder messbar, noch sichtbar oder auf andere Weise direkt erfahrbar. Die Erkenntnis, dass der Mensch aber ein ganzes Bündel von Eigenschaften hat, die ihn deutlich und unleugbar von der Pflanzen- und Tierwelt abheben, ist dagegen umso offensichtlicher. Allerdings sind diese Phänomene nicht naturwissenschaftlich fassbar, da es sich eben um geistige Wirklichkeiten handelt: Freiheit, Sprache, Selbstbewusstsein, Moralität, Gewissen und Religiösität. Wir haben schon bereits am ersten Abend festgestellt, dass der Mensch nicht umhin kann, die Wirklichkeit zu deuten und zu interpretieren. Selbst ein Materialist deutet die Welt, und zwar als geistlos, anstatt sie, wie Tiere es tun, einfach nur hinzunehmen und sich jeder Deutung zu enthalten. Dieses »Nicht-in-der-Lage-Sein, der Welt keinen Sinn beizumessen«, ist schon ein Aspekt der Geistigkeit des Menschen. Der Mensch ist wesensmäßig auf der Suche nach dem, was hinter den Dingen liegt (wie gesagt: Das haben wir am ersten Abend ausführlicher besprochen); sobald der sinnsuchende Mensch nicht nur die Welt, sondern eben in dieser Welt vor allem den Mitmenschen betrachtet, wird er sich selbst als geistig, das heißt als tiefgründiger und mehrschichtiger erkennen. Der Mensch und Mitmensch ist nicht bloß Organismus und materiell, sondern mehr.

(2) Die Freiheit, zu interpretieren: Das, was Geistigkeit ausmacht, ist also die Fähigkeit, von der bloßen Oberfläche, die wir sehen, zu abstrahieren und eine unsichtbare und größere Wirklichkeit anzunehmen. Wenn wir einen anderen Menschen anschauen, dann sehen wir zwar Haut, Haare und Kleidung, vor allem aber sehen wir einen anderen Menschen mit seinen seelischen Eigenschaften. Das setzt voraus, dass wir von den bloßen Sinneseindrücken absehen können - fast so, als wenn diese durchsichtig, transparent seien. Wir können uns also von der sinnlichen Wahrnehmung lösen: Wir haben die Freiheit, Sinn zu erkennen (im Gegensatz zu einer Katze beispielsweise, die einem Lichtpunkt hinterher jagt, ohne zu erkennen, dass das keinen Sinn hat). Nur, wer diese Freiheit hat, ist beispielsweise zur Ironie fähig - denn Ironie bedeutet, dass jemand mit einer Aussage oder Gestik genau das Gegenteil von dem meint, was er tatsächlich sagt (»Ironie ist die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten«).

(3) Die Freiheit, sich zu verhalten: Eine solche Freiheit gibt dem Menschen die Möglichkeit, »sich wertend zu verhalten«. Zwar kann der Mensch die Wirklichkeit (auch seine eigene Wirklichkeit, also zum Beispiel sein Aussehen, sein Alter, seine Volkszugehörigkeit und sein Geschlecht) nur bedingt ändern; aber selbst, wenn er sie nicht ändern kann, ist er in der Lage, Zustimmung oder Ablehnung zu empfinden und auszudrücken.

»Ich hasse mein Leben!« (im Film Jupiter Ascending) ist zum Beispiel ein wertendes Verhalten zu einer ansonsten wenig änderbaren Realität. Wer dagegen »Ich liebe Dich!« sagt, verhält sich auch zu einer Realität. Nur deutlich positiver.

Die Fähigkeit, sich wertend zu verhalten, ist, so meine ich, die zumindest grundlegendste Übersetzung der Begriffe Freiheit und Geistigkeit. Der Mensch als geistiges Wesen kann sich zu seiner Umwelt genauso wie zu seinen erblichen Voraussetzungen positionieren; er kann sich den Einflüssen durch Umwelt und Erbgut öffnen und widersetzen und sogar auf Umwelt und Erbgut zurückwirken und in Grenzen seine Voraussetzungen ändern. Natürlich ist kein Mensch vollständig frei, sich über die Erziehung und das Erbgut hinwegzusetzen; jedem Menschen werden auch unüberwindliche Grenzen gesetzt. Aber der Mensch kann diese Grenzen akzeptieren oder dagegen rebellieren, er kann sich innerhalb der Grenzen frei verhalten und kann teilweise seine Grenzen verändern (nach außen und nach innen: Seine Freiheit kann zunehmen oder geringer werden).

(4) Die Freiheit, gut zu sein (Moralität): In seinem Verhalten einer Sache und noch mehr einer Person gegenüber kann sich der Mensch nun angemessen oder unangemessen verhalten. Er kann die Wirklichkeit leugnen oder akzeptieren, wie sie ist. Er kann sich wahrhaftig oder verlogen verhalten. Mit anderen Worten: Freiheit führt zur Sittlichkeit - also zur unausweichlichen Wahl zwischen gutem und schlechtem Verhalten und Handeln. Dabei liegt die eigentliche Freiheit nicht darin, diese Wahl zu haben, sondern vor allem darin, sich angemessen wertschätzend zur Wirklichkeit zu verhalten. Anderen Personen gegenüber können wir sogar von lieben sprechen - der eigentlichen Erfüllung der Freiheit.

Zu den gleichen Erkenntnissen kommen wir, wenn wir nicht von den Phänomenen, sondern von der Theologie ausgehen: Wenn Gott in uns Menschen ein zur Liebe fähiges Wesen erschaffen hat, dann müssen wir »im anderen sein können«; Selbstbewusstsein heißt nicht nur, sich selbst als ein Selbst wahrzunehmen, sondern den anderen als ebenfalls selbstbewusst zu denken; Liebe setzt Freiheit voraus - und öffnet damit auch die Möglichkeit zu sündigen; Sprache (im Gegensatz zur Signalkommunikation der Tiere) ermöglicht Abstraktion.

b. Der Grund von Geistigkeit, Sprache, Freiheit und Moral: Die Seele. — Die soeben genannten geistigen Phänomene werden zwar allgemein als tatsächlich vorhanden anerkannt, aber »irgendwie« als Eigenschaften einer hochkomplex organisierten Materie gedeutet. Dabei liegt auf der Hand, dass eine Maschine niemals moralisch handeln kann - weder gut noch böse. Selbst bei Tieren sprechen wir nur im übertragenen Sinn von »gut und böse«; selbstverständlich ist ein Raubtier nicht böse, wenn es seinen Trieben folgt. Jedes Phänomen der Geistigkeit setzt etwas voraus, dass nicht-materiell ist: die Seele.

Jeder Naturalismus (also die Vermutung, die Welt sei nur Materie bzw. naturwissenschaftlich vollständig beschreibbar) scheitert letztlich am Wesen des Menschen, sich selbst zu seinen materiellen Voraussetzungen wertend zu verhalten. Der Mensch ist nicht einfach nur Materie, sondern er besitzt die unleugbare Fähigkeit, sich selbst als auch »materiell« zu erkennen. Unleugbar ist diese Fähigkeit, weil sie zwar mit Argumenten bestritten werden kann; aber allein die Tatsache, dass wir darüber streiten und argumentieren, setzt eine Immaterialität voraus. Diese Wesensbestimmung des Menschen ist mehr als nur eine biologische Eigenschaft, wie z.B. ein homo faber (ein herstellender Mensch) zu sein; diese Wesensbestimmung - unsere Geistigkeit, Freiheit, Moralität, Sprache oder unser Selbstbewusstsein - ist und kann keine Funktion der Materie sein.

Wir Christen nehmen also ein zweites, grundlegendes Prinzip in der Schöpfung an. Wobei dieses Prinzip umfassender ist als vielleicht gedacht; denn jedem Lebewesen kommt schon ein Anteil an dieser immateriellen Wirklichkeit zu. So sprechen die Philosophen seit Aristoteles bis zur christlichen Scholastik von der immateriellen Pflanzenseele (der anima vegetativa), der ebenfalls immateriellen Tierseele (der anima sensitiva) und der Menschenseele (der anima rationale), die wir auch Geistseele oder geistbegabte Seele nennen.

Daher sollten wir tunlichst die Immaterialität und die Geistigkeit unterscheiden: Auch Tiere und Pflanzen haben eine immaterielle Seele, die aber noch nicht geistbegabt (lateinisch: rational) ist. In dieser Hinsicht ist unsere Alltagssprache eher unbrauchbar, um die doch relativ einfache Unterscheidung auszudrücken. Deshalb haben sich die Philosophen einer besonderen Sprache bedient, die das Gesagte unverständlich erscheinen lässt. Dabei ist es doch einfach, oder?
Die Behauptung übrigens, gerade die Christen hätten den Tieren immer schon eine Seele abgesprochen und zur Ausbeutung beigetragen, ist erwiesenermaßen falsch - wie wir gerade gesehen haben. Das Tier als »seelenloser Organismus« ist ein Produkt der naturwissenschaftlichen Biologie, keineswegs der christlichen Philosophie.

Die Seele ist zwar kein räumliches Objekt, das man wiegen, vermessen oder beobachten kann. Aber dennoch ist sie ein Teil der geschaffenen Welt. Die Vorstellung, dass die Naturwissenschaften nur den direkt erfahrbaren Teil dieser Welt beschreiben, wurde stillschweigend in den letzten Jahrhunderten aufgegeben und ersetzt durch den Gedanken, dass die Grenzen der Naturwissenschaften zugleich die Grenzen der natürlichen Wirklichkeit seien. Diese Sichtweise hat den Reiz, alles naturwissenschaftlich Nichtprüfbare als Märchen, Magie oder Mirakel beiseite zu legen.

Deshalb wurde in den Augen der materialistischen Naturwissenschaftler die Behauptung der Existenz einer Seele zum Zeichen für mangelnde Bildung und Aberglauben - obwohl umgekehrt die Annahme, außerhalb der durch die Naturwissenschaften beschriebenen Wirklichkeit gebe es keine größere Wirklichkeit, auf einen mindestens ebenso beschränkten Geist schließen lässt.

Tatsache ist dagegen, dass schon allein die irdische Wirklichkeit voller Phänomene steckt, die zwar naturwissenschaftlich nicht fassbar sind, aber dennoch legitimer Bestandteil der Natur: Freundschaft, Liebe, Freiheit, Schuld und Glaube. Wenn die Seele sich gerade durch die Nicht-Leiblichkeit auszeichnet, ist es logischerweise vergebliche Mühe, sich der Existenz der Seele mit naturwissenschaftlichen Methoden oder Fragestellungen zu nähern: Die Seele hat weder ein Gewicht noch eine Farbe, sie ist keine »gasförmige Essenz« und auch keine materielle Organisationsform (wie z.B. eine Software), auch wenn sich die Existenz einer Seele in der Organisation der Materie auswirkt. Dank der modernen Quantenphysik ist mittlerweile eine Wechselwirkung zwischen immaterieller und materieller Welt auch physikalisch nachweisbar.

c. Die Krone der Schöpfung. — Die Geschichte der Schöpfung ist eine Geschichte zunehmender Ordnung und Erhebung; der Geist, der zunächst nur »über den Wassern schwebte« (Gen 1,1) prägt zunehmend die Materie, ordnet sie zu immer komplexeren Strukturen, um im Menschen schließlich die »Krone der Schöpfung« zu schaffen.

Eine solche Gesamtsicht der Schöpfungsgeschichte hat in den 50-er und 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts der Theologe, Priester und Biologe (Paläontologe) Teilhard de Chardin erarbeitet. De Chardin bekam jedoch Schwierigkeiten mit dem Lehramt der Kirche, weil er die Menschwerdung in Christus als Endpunkt der Evolution auffasste und die Christologie somit in naturwissenschaftliche Vorgänge auflöste (im Grunde eine ähnliche Vermischung wie beim Intelligent Design).
Die Beschreibung der Schöpfung als einer zunehmenden Hinordnung auf das Leib-Seele-Wesen des Menschen findet sich nicht erst bei Teilhard, sondern ist schon lange als analogia entis vor allem durch Thomas von Aquin bekannt: Die höhere Ordnung entsteht dabei aufgrund der Wahrung der niederen; die Seele durchformt und erhebt die Materie (»anima forma corporis«, dt.: »Die Seele ist die Formursache des Körpers«), in diesem Sinne kann die Menschwerdung Jesu (Einheit von Gott und Schöpfung) zwar als Schöpfungsziel bezeichnet werden; aber kaum als Ziel der Evolution (wie Teilhard de Chardin behauptet), da eine bloße Evolution aus sich heraus noch kein Ziel verfolgt.
3. Der Leib in der Leib-Seele-Existenz

Nun ist es offensichtlich, dass der Mensch nicht nur als Seele, sondern auch leiblich existiert. Dabei sind die Leiberfahrungen der Menschen in den verschiedenen Epochen, Kulturen und Geisteshaltungen sehr unterschiedlich. Zwischen der Behauptung (beides sei im Grunde nur ein Prinzip) und der Erfahrung (Seele und Leib seien einander widerstreitende Elemente), positioniert sich die christliche Anthropologie als Mittelweg.

a. Monismus und Dualismus
(a) Monismus: Die Leib-Seele-Identität.
— Klarstes Beispiel für einen heute gelebten Monismus sind die Zeugen Jehovas. Sie pflegen einen Leib-Seele-Monismus, den sie auf Aussagen der Bibel zurückführen; so verweigern die Zeugen Jehovas bekanntermaßen jede Blutübertragung, weil für sie das Blut mit der Seele des Menschen identisch ist - oder doch zumindest wesentlicher seelischer Bestandteil der Person.

Auch die Vertreter der Ganztod-Theorie (dazu mehr am 23. Abend - Abschnitt I-2-c) nehmen mit dem Tod des Leibes auch ein Aufhören der Existenz der Seele und damit der Person an; inwieweit sich diese Haltungen überhaupt noch von der Leugnung der menschlichen Seele unterscheiden, ist bei den verschiedenen Gruppen und Personen, die diese Ansicht vertreten, mehr oder weniger unklar.

Im Wortsinn sind auch die Leugner einer Seele und Verfechter einer materialistischen Anthropologie Monisten, da sie nur ein einziges Prinzip als Bestandteil des Menschen anerkennen: die Materie. Allerdings wird diese Haltung in philosophischen Kreisen eher Naturalismus oder Materialismus genannt. Der Monismus führt die seelische und leibliche Existenz auf ein gemeinsames Prinzip zurück, während der Naturalismus die seelische Existenz schlicht leugnet.

Tatsächlich deuten im Alten Testament zahlreiche Aussagen auf eine monistische Leib-Seele-Einheit hin, die sich vor allem in den frühen Schichten der Bibel finden. Doch diese Auffassung wandelt sich im Laufe des Judentums; schon vor Jesus hat sich der Gedanke im jüdischen Glauben etabliert, dass der Mensch mit dem Tod des Leibes nicht aufhört zu existieren, sondern seine Seele den leiblichen Tod überdauert und weiterhin existiert. Gleichzeitig kommt bereits im Judentum die Hoffnung auf, dass es eine Wiedervereinigung von Leib und Seele geben wird: im Glauben an die Auferstehung.

(b) Dualismus: Der Leib als Gefängnis der Seele (Platonismus). — Die dem Monismus entgegengesetzte Ansicht vertrat zu der Zeit, als die jüngsten Schriften des Alten Testamentes entstanden, die griechische Philosophie. Nicht nur Sokrates und Platon waren der Ansicht, dass der Leib das Gefängnis der Seele sei, der Tod also eine Art Befreiungsschlag und letztlich der glücklichste Moment des irdischen Lebens.

Sokrates bat vor seiner Hinrichtung seinen Freund, an seiner Stelle einen Hahn zu opfern, wenn er gestorben sei. Die Opferung eines Hahnes war das übliche Dankopfer eines freigelassenen Sklaven. Sokrates verstand also den Tod als den Moment, in dem die durch den Leib versklavte Seele endlich frei wurde.

Diese Annahme der griechischen (besser: platonischen) Philosophie ist durchaus mit zahlreichen Erfahrungen verbunden; nicht selten sprechen Angehörige nach dem Tod eines langjährig kranken Menschen von einer »Erlösung«. Noch mehr gilt das natürlich, wenn Folter und Gewalt ins Spiel kommen. Aber die Folgerung, jeder Tod sei eine Erlösung, weil die Seele ohne Leib besser dran sei und so eine nie gekannte Freiheit gewinne: Das entspricht nicht mehr unserem Glauben. Der Tod ist und bleibt ein Übel und kein Gottesgeschenk. Mag auch manchmal das Lebensleid eines Menschen größer sein als das Todesleid und damit der Tod willkommen erscheinen: Das kleinere Übel wird angesichts eines größeren Übels nicht zu etwas Gutem.

Allerdings ist es einem Menschen erlaubt, den Tod freiwillig zu erleiden: Zum Beispiel im Martyrium. Den Tod zu erleiden ist ein geringeres Übel als seinen Glauben zu verraten, zu verleugnen oder gar zu verlieren.
Allerdings gilt unbedingt: Das Martyrium (der Tod) darf nicht selbst herbeigeführt werden, um einem anderen Übel zu entgehen.

Gegen die platonischen Dualisten ist allerdings festzuhalten: Die Seele ohne Leib ist keine befreite Seele, sondern eine beraubte Seele; der Tod ist eine Strafe und kein Lohn; der Glaube an die leibliche Auferstehung am jüngsten Tag ist eine Verheißung, und keine Drohung. - Warum das so ist, sehen wir nun im folgenden Abschnitt.

b. Christliche Anthropologie: Leib ist Ausdruck, Verwirklichung und Gegenüber der Seele; die Art der Verbindung: Überformung. — Eine Anthropologie verdient nur dann den Namen »christlich«, wenn der Leib der Seele als unverzichtbar und gottgewollt zur Seite gestellt wird. Die Seele braucht den Leib ebenso wie der Leib der Seele bedarf - beide sind einander komplementär. Das heißt jedoch nicht, das beide gleichartig seien: Der Leib bedarf der Seele, um überhaupt zu existieren; die Seele bedarf des Leibes, damit dieser Ausdruck und Verwirklichung ihrer Regungen sein kann. Der Leib ist für die Entwicklung der Individualität unverzichtbar; Träger der Individualität dagegen ist die Seele, deren Fortbestehen über den Tod hinaus Grund für ein Leben nach dem Tod ist. Der Leib zerfällt mit dem Tod, die Seele verliert ihr Veränderungspotential.

An dieser Stelle müsste eigentlich eine »Theologie des Leibes« erfolgen, die deutlich macht, welch überragende Bedeutung dem Leib in der christlichen (zumindest der katholischen) Theologie zukommt. Denn nur die mit dem Leib verbundene Seele kann das Heil ergreifen und sich durch Mitwirkung zu eigen machen. Der Leib ist Ausdruck seelischer Regungen und wirkt zugleich auf die Seele zurück. Was wir leiblich tun, wirkt auch auf unsere Seele zurück. Wenn Erlösung bedeutet, dass wir zu einem neuen Menschen werden (siehe z.B. in der Reich-Gottes-Botschaft (9. Abend) oder der Soteriologie (10.-12. Abend)), dann gelingt uns das nur im leiblichen Vollzug.

Aber auch wenn es in der Leib-Seele-Existenz eine Rangfolge gibt und im allgemeinen davon gesprochen wird, dass die menschliche Seele den Leib erst forme und mit Leben erfülle, so ist der Leib doch nicht seiner materiellen Eigenschaften beraubt. Unser Körper funktioniert weiterhin nach den Gesetzen der Physik, Chemie und Biologie - und dennoch ist er als Ausdrucksmedium der Seele zu weitaus Größerem in der Lage. Die Seele überformt den Leib, ohne ihm seine Eigengesetzlichkeit und auch seine Eigenständigkeit zu nehmen.

c. Und zum Dritten: Die Gnade. — Manche christliche Theologen wollen - wohl in Anlehnung an die Dreifaltigkeit - im Menschen nicht nur zwei Prinzipien annehmen. Um die Dreiheit auch im Menschen zu finden, sprechen sie von Leib, Seele und Geist. Tatsächlich haben auch Tiere (und Pflanzen) eine Seele und bilden eine Leib-Seele-Einheit; was liegt näher, als den Menschen vom Tier durch die Annahme des Geistes in einen besonderen Rang zu erheben? Dagegen sprechen sich die meisten Theologen, Kirchenväter und Kirchenlehrer dafür aus, der menschlichen Leib-Seele-Einheit nicht den Geist als weiteren Bestandteil hinzuzufügen, sondern die menschliche Seele als eine geistige Seele zu verstehen. So haben die Pflanzen eine vitale Seele (anima vegetativa), die Tiere eine sinnenhafte Seele (anima sensitiva) und der Mensch eine geistbegabte Seele (anima rationale). Wenn wir von der Geist-Seele des Menschen sprechen, so ist damit nicht eine weitere duale Einheit neben der Leib-Seele-Einheit gemeint, sondern eine besondere Art der Seele.

Ein Großteil des heutige Judentums dagegen unterscheidet Geist und Seele als zwei verschiedene Bestandteile des Menschen. Die Seele (hebr. nefesch oder ruach) sei das allgemeine Lebensprinzip eines jeden Menschen, der Geist (im biblischen hebr. leb - Herz) dagegen das, was die individuelle Persönlichkeit ausmache.

Dennoch liegt der Gedanke der »Dreiheit auch im Menschen« nahe, und wer unseren Kurs bisher aufmerksam verfolgt hat, wird erkennen, dass er uns schon an mehreren Stellen begegnet ist. Tatsächlich findet der Mensch seine Erfüllung und seine Vollkommenheit in der Leib-Seele-Gott-Einheit, die ihm als himmlische Verheißung und als schon beginnend in der christlichen Existenz geschenkt wird. (Siehe dazu auch die »Christologie für Nachfolger« am 8. Abend - Abschnitt III).

Falsch wäre allerdings die Vorstellung, dass Gott im Menschen erst ab dem Beginn eines christlichen Leben zu wirken beginnt - beispielsweise ab der Taufe. Im Sinne der »creatio continua« (der andauernden Schöpfung), der »gratia sufficiens« (der zuvorkommenden Gnade) und der »preparatio evangelii« (der Vorbereitung auf das Evangelium) wirkt Gott in seiner Schöpfung und auch im Menschen bereits alles, was mit der Freiheit der Schöpfung vereinbar ist, um den Menschen sowie die gesamte Schöpfung zu ihrem übernatürlichen Ziel zu führen.

Fazit

Erst wenn wir den Menschen als Einheit von Leib und Seele verstehen (und der Seele ein eigenes Sein zugestehen), können wir zahlreiche Fragen der Moral beantworten. Zuvor müssen wir aber genau klären, in welchem Zusammenhang Leib und Seele stehen (Leib als Ausdruck und Verwirklichung der Seele) und in welchem Verhältnis die Seele zum Ich des Menschen (die Seele ist der Träger der Individualität) steht.

II. Theologische Anthropologie
1. Moralische Grenzen

a. Leben von Anfang an. — Nach dieser guten (vielleicht etwas langen und schwierigen) philosophischen Vorbereitung der theologischen Fragen lassen sich die moraltheologischen Heißen Eisen der Gegenwart relativ zügig beantworten: 1.) Ein Mensch wird nicht durch die Entwicklung von bestimmten skills (Fähigkeiten) zum Menschen, sondern durch das, was der Entwicklung der skills vorausliegt: die Seele. 2.) Die Seele ist keine Funktion der Materie, kann sich also nicht aus Materie entwickeln, sondern muss erschaffen worden sein. 3.) Daraus folgt, dass jeder menschliche Organismus in jedem Entwicklungsstadium im Vollsinne Mensch und Person ist - eben aufgrund der Existenz einer geistbegabten Seele. Nicht die Ausbildung der seelischen Möglichkeiten macht jemanden zum Menschen, sondern das Vorhandensein der Geistseele.

Das männliche Sperma und die weibliche Eizelle sind keine eigenständigen Lebewesen - die befruchtete Eizelle dagegen sehr wohl. Sie besitzt alle Eigenschaften, die in der Biologie ein Lebewesen kennzeichnen. Ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Samen- und Eizelle ist dieses Lebewesen ganz klar ein Mensch - schon allein aufgrund seines Genoms (der DNA). Ein Mensch, mag er noch so früh am Beginn seiner Entwicklung stehen, ist ja nur deshalb ein Mensch, weil er eine geistige, personale und individuelle Seele besitzt.

Natürlich ist die Seele und die Qualität der Seele nicht Gegenstand der Naturwissenschaften. Aber es gibt es keinen weiteren Zeitpunkt, der durch die biologischen Erkenntnisse auch nur annähernd die Entstehung einer menschlichen Person nahelegt. Ab der Befruchtung der menschlichen Eizelle hat der Embryo ein menschliches, individuelles Genom, seine eigene, ganz persönliche DNA. Ab der Befruchtung ist der Embryo in seiner genetischen Identität von der Mutter unterschieden und wird sich darin bis zum Tod nicht mehr verändern.

Es werden in der Diskussion weitere Phasen als »Beginn menschlichen Lebens« vorgeschlagen: Bis zum 4. Tag kann der Embryo noch zu einem Zwilling (oder Mehrling) werden (die Biologie spricht von der Omnipotenz der embryonalen Zellen). Manche folgern: Wenn noch nicht entschieden ist, wieviele Personen unterwegs zur Gebärmutter sind, dann kann auch noch nicht von Mensch und Person gesprochen werden. - Der Denkfehler ist klar: Die Annahme, alle Mehrlinge müssen gleichzeitig entstehen, ist völlig willkürlich. Wenn am 4. Tag noch ein Zwilling entstehen sollte, folgt daraus nicht im Geringsten, dass der Embryo ab der Zeugung kein Mensch sei.
Manche denken, dass erst mit der Einnistung (10. - 12. Tag) in die Gebärmutter (Nidation) von einem Menschen die Rede sein könne. Tatsächlich fängt juristisch erst in diesem Augenblick eine Schwangerschaft an. Aber am Embryo selbst ändert sich in diesem Moment nichts. Wenn er zuvor kein Mensch war, wird er auch durch die Einnistung in die Gebärmutter kein Mensch. Wie auch?
Es gibt weitere Einschnitte: ab der 4. Woche beginnt sich in der Blastozyste die Keimscheibe zu differenzieren. Ab der 5. Woche ist der erste Herzschlag messbar. Ab der 8.-10. Woche ist ein schmerzempfindendes Gehirn vorhanden. Diese Entwicklungsschritte geschehen aber ohne äußere Einwirkung und rechtfertigen nicht die Annahme, nun erst sei dort ein Mensch. Vielmehr ist es immer schon ein Mensch, der sich entwickelt - und nicht ein sich zum Menschen entwickelndes Etwas.

b. Moralische Fragen am Ende des Lebens. — Das Gleiche gilt auch für das Ende des menschlichen Lebens. Ein Mensch ist solange Mensch, wie er lebt. Er verliert sein Menschsein nicht durch das Erlöschen bestimmter Fähigkeiten. Selbst ein dementer Patient, der zunehmend seine bis dahin erkennbare Persönlichkeit verliert, ist bis zum Schluss noch Person: Denn der Grund für seine Persönlichkeitsmerkmale geht nicht verloren, auch wenn die materiellen Ausformungen verloren gehen.

Wenn es sich aber immer um einen Menschen handelt, hat er auch die Würde und Rechte einer Person. Keinen Menschen würden wir aktiv töten, nur weil wir sein Leben für weniger lebenswert halten. Die Aussage, ein Leben sei nicht mehr lebenswert, ist immer ein Aufruf, diesen Zustand zu beheben und nicht, das Leben zu beenden.

Wir können diese Frage am besten an anderer Stelle klären - z.B. in einem eigenen Moralkurs. Aber bereits jetzt dürfen wir nicht übersehen, dass die Konsequenz der Aussage »Ein unwertes menschliches Leben zu beenden ist nicht verboten, sondern sogar unter Umständen eine gute Tat« zu den Voraussetzungen für die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts gehörten.

c. Freiheit und Würde. — Auf die Frage, warum wir eigentlich kein unschuldiges menschliches Leben direkt töten dürfen, lässt sich befriedigend nur dann antworten, wenn wir 1. die Existenz einer Seele annehmen, 2. von deren Existenz über den Tod hinaus ausgehen und 3. überzeugt sind, dass das irdische Leben einen unwiederbringlichen Wert für das ewige Leben hat: Das Ziel des irdischen Lebens besteht darin, das ewige Leben zu erlangen, und diese Zeit ist jedem Menschen so weit wie möglich zu gewähren und zu schützen. Das gilt gerade für solchen Menschen, die große Schuld auf sich geladen haben und für die eine Bekehrung unverzichtbar ist.

Die Würde des Menschen besteht in dieser Freiheit zur Umkehr. Einem Menschen die Möglichkeit abzusprechen, noch etwas aus seinem Leben zu machen, hieße, seine Würde zu leugnen. Es verbietet sich für uns Christen also, den Genen oder den Einflüssen durch Erziehung und Umwelt eine so große Bedeutung zuzumessen, dass kein Platz für die Freiheit des Menschen mehr bleibt: Dann hätte dieser Mensch auch keine Würde; die Unantastbarkeit des Lebens wäre aufgehoben.

Es verbietet sich aber auch, einen inhaftierten Verbrecher der Todesstrafe auszuliefern. Die Hoffnung, er möge sich dadurch bekehren, ist ebenso anmaßend wie die Rechtfertigung, er habe seine Wahl getroffen und ein neuer freiheitlicher Akt (zum Beispiel eine Bekehrung) sei nicht zu erwarten.

Interessant ist, dass die Frage nach der menschlichen Freiheit keine naturwissenschaftliche Frage ist. Für einen Biologen, der nur die körperliche Seite der menschlichen Existenz beobachtet, bleibt die Möglichkeit einer menschlichen Seele, sich den körperlichen Vorgängen gegenüber frei zu verhalten, prinzipiell verborgen.

Die verwegene Aussage mancher Hirnforscher, sie hätten die menschliche Freiheit als eine Illusion entlarvt, ist daher reine Anmaßung. Der Hirnforscher mag die Freiheit leugnen, ein Nachweis darüber ist jedoch der Biologie aufgrund der ihr innewohnenden Grenzen nicht möglich.

Somit ist auch die Definition der Würde des Menschen den Naturwissenschaften zweifach entzogen (und damit auch denjenigen, die ausschließlich naturalistisch denken): Einmal, weil der Grund für die Würde des Menschen - seine Freiheit - nicht natürlich zu fassen ist. Und zum anderen, weil wiederum der Grund für diese Freiheit des Menschen - die Seele - immateriell ist.

2. Naturwissenschaftliche Implikationen

a. Erziehung, Gene oder Seele. — Immer wieder wird gefragt, ob der Mensch durch die Erziehung (Umwelt) oder durch die Gene (Erbgut) geprägt wird. Auch diese Frage können wir nach der ausführlichen Vorbereitung zügig beantworten: Ein großer Teil unserer (vor allem biologischen) Ausstattung wird durch die DNA codiert; ein vermutlich größerer Teil (unserer Verhaltensweisen) durch unsere Erziehung und Beeinflussung durch die Umwelt festgelegt. Halten wir uns vor Augen, was es bedeutet, den Menschen als geistiges Wesen anzunehmen, so dürfen wir aber nicht übersehen, dass der Mensch von Anfang an die Möglichkeit hat, sich diesen Faktoren gegenüber zu verhalten. Der Mensch beginnt von Anfang an, auf äußere Reize (schon in der Schwangerschaft) und die Erziehung zu reagieren.

Vor allem die Gene sind im populären Verständnis scheinbar allmächtig und damit vollkommen falsch verstanden. Denn die DNA ist nur ein Rezept zur Herstellung von Zutaten (der Aminosäuren) für die Herstellung von Produzenten (den Enzymen) zur Steuerung von biologischen Vorgängen. In der DNA ist weder ein Bauplan für die äußere Gestalt des Menschen (seine Größe, Sportlichkeit oder Schönheit) zu finden, noch eine Anlage für Musikalität oder technisches Verständnis. In dem Hinweis »Aber diese Eigenschaften müssen doch in den Genen liegen - sie werden doch offensichtlich vererbt!« zeigt sich nur, dass der Mensch selbst im populären Verständnis inzwischen auf die materielle Ebene reduziert wird. Was spricht dagegen, dass all diese Eigenschaften, die über das rein Biologische weit hinausgehen, in der Seele begründet liegen - und eben nicht in der DNA?

Mittlerweile hat sich ein weiterer Forschungszweig in der Genetik etabliert: Die Epigenetik. Nachdem klar wurde, dass der genetische Code - die Desoxyribonukleinsäure - nur die Anleitung zur Herstellung von Zutaten enthält, hat die Epigenetik einen Mechanismus entdeckt, nach dem die Mischung, Abfolge und Verarbeitung geschehen könnte. So können biologische Vorgänge, die durch die DNA zwar als Anlage existieren, durch Umwelteinflüsse, Erziehung und sogar durch Selbstbestimmung des Individuums aktiviert, gehemmt und sogar dosiert gesteuert werden - und diese Veränderung an den Genen kann sogar vererbt werden.

Es spricht nun auch wissenschaftlich nichts mehr gegen die Annahme, dass auch die genetische Ausstattung - ähnlich der Erziehung - eine Grenzziehung ist, zu der sich der Mensch in seiner Freiheit verhalten kann. In Grenzen kann er diese sogar erweitern, verändern oder auch seine Freiheit reduzieren.

So meint z.B. der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger, dass der Mensch ab 30 für sein Gesicht verantwortlich ist. (Und nicht nur dafür!)

Christlich gesprochen können wir also an der Redeweise festhalten, die Seele enthalte den Charakter des Menschen, der individuell auf Erbgut, Umwelt und Selbstwahrnehmung reagiert und darin eine zwar variable, aber unverlierbare Freiheit besitzt. Der Mensch kann auch seine seelische Erstausstattung verändern (nichts anderes ist das Ziel christlicher Erlösung); um das aber zu können, braucht er von Anfang an eine freiheitliche Individualität.

b. Menschliches Leben in der Evolution. — In den Ausführungen zur Evolution (16. Abend) oder zu den Naturwissenschaftlichen Grenzfragen (2. Abend) haben wir auch diese Frage schon angesprochen. Die Entstehung des Menschen im Laufe der biologischen Entwicklung der Arten bedarf eines Schöpfungsaktes Gottes, denn die menschliche Seele ist kein Produkt materieller Entwicklung. Aber dieser Schöpfungsakt erfordert nicht die Erschaffung eines vollständigen menschlichen Organismus aus dem Nichts (wie viele Kreationisten annehmen); es ist durchaus sinnvoll anzunehmen, dass Gott an Vorhandenem (z.B. an Primaten oder sonstigen Vorläufern des Menschen) »weitergeschaffen« hat. Diese Veränderung eines Tieres mit einer rein sensitiven Seele zu einem Menschen mit einer rationalen Seele ist dabei biologisch gar nicht fassbar und daher auch kein Konfliktfeld zwischen Anthropologie und Naturwissenschaften.

Die »Einschaffung einer Geistseele« mag zwar eine materielle Entwicklung des Körpers als notwendige Voraussetzung haben, sie ist aber dadurch keineswegs erklärt.

c. Anthropologie und Hirnforschung
(1) Seele und Gehirn.
— Und noch ein letzter Punkt ist im Gespräch mit den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie, wichtig. Ein Großteil der Steuerung des Leibes geschieht zwar durch das Gehirn, vor allem alle willentlichen Handlungen haben dort ihren Ursprung. Die Formung des Menschen durch die Seele ist aber ein ganzheitliches Geschehen: Die Entwicklung des Embryos zu einem individuellen Menschen geschieht durch die Formgebung insgesamt - und nicht nur durch Impulse des Gehirns. Auch der erwachsene Mensch erhält sein Menschsein nicht nur allein durch geistige Impulse aus dem Großhirn, sondern er ist Mensch und Person in jeder Faser seiner Existenz. Bis in die molekularen Vorgänge auf Zellebene geschehen ordnende Einflüsse eines immateriellen Prinzips.

Deshalb ist auch der Tod des Gehirns nicht mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen - der Leib des Menschen kann auch noch weit über das Erlöschen von Hirnfunktionen zu erstaunlichen Leistungen in der Lage sein, bishin zur Fortführung einer Schwangerschaft und der Geburt eines Kindes.

(2) Ursache und Wirkung. — Ebenfalls näher zu betrachten ist die Gleichsetzung von geistigen Ereignissen und biologischen Reaktionen. Wenn eine Person beispielsweise einen Erfolg erzielt (im Sport oder in der Schule), lässt sich das damit verbundene Glücksgefühl biologisch mit der Ausschüttung bestimmter Hormone verbinden. Daraus zu folgern, Glück sei nichts anderes als eine Steigerung einer Hormonkonzentration, ist sicherlich kein kluger Gedanke. Dem gleichen Fehlschluss unterliegen Hirnforscher, wenn sie (kein Scherz) im Gehirn eine Region als »Ursprung der Religion« identifizieren, weil diese Region besonders aktiv bei betenden und glaubenden Menschen sei. Das erinnert ein wenig an Kinder, die glauben, das Liederbuch sei die Ursache für singende Menschen.

(3) Freiheit und Moral. — Wie schon erwähnt, entzieht sich die Frage, ob der Mensch eine (metaphysische) Freiheit besitzt, den Methoden der Naturwissenschaften.

Die spezielle Form der biologischen Reduzierung des Menschen nennt sich »Neurobiologismus (im Gegensatz zum »Naturalismus«, der allgemeinen Reduzierung der Wirklichkeit auf die Naturwissenschaften). Wolf Singer etwa findet »im Gehirn nirgends einen Platz für den freien Willen«. Wolfgang Prinz hält »Handlungsentscheidungen für das Ergebnis subpersonaler Prozesse, die nachträglich personal interpretiert werden«, und der Verhaltensphysiologe Gerhard Roth erklärt ohne Umschweife, dass das »ICH nicht der Herr im Hause« sei. Hätten diese Herren Recht, so wäre der Mensch nichts als eine »biochemische Marionette« (Sam Harris). - Gottseidank übersehen diese Wissenschaftler, dass sie keine naturwissenschaftliche, sondern eine philosophische Aussage machen. Dafür aber haben sie weder eine Sachgrundlage noch triftige Argumente.

Kant hat die Freiheit des Menschen deshalb auch als ein Postulat bezeichnet: Etwas, dass wir zwar nicht beweisen können, aber als Ausgangsthese annehmen dürfen.

Allerdings kann die Biologie durchaus die Auswirkungen der Freiheit feststellen; ein im Gehirn verortetes »Belohnungszentrum« für gute Taten (direkt verknüpft mit der Hirnanhangdrüse) ergibt nur einen wirklichen Sinn, wenn der Mensch die Freiheit hatte, sich auch unangemessen zu entscheiden - und wenn es eine Moral gibt, die der Funktionsweise der Hirnanhangdrüse vorgegeben ist. Ein rein materielles Phänomen (»Ich treibe Sport - der Körper belohnt mich mit netten Hormonen«) ist dieser Mechanismus erwiesenermaßen nicht.

3. Die Zweigeschlechtlichkeit und der Gender-Gaga

Es ist ein Merkmal des Menschen, dass er Offensichtliches leugnen und Unsinniges behaupten kann. Zur Zeit machen besonders die Vertreter der Gender-Mainstreaming-Ideologie von diesem Vorrecht Gebrauch: Aus dem Bemühen, Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechtes zu verhindern, ist inzwischen die unverhohlene Leugnung des biologisch gegebenen Geschlechtes entstanden.

a. Gender-Mainstreaming. — Der englische Ausdruck »gender« besitzt im deutschen kein direktes Äquivalent. Im Gegensatz zum englischen »sex«, das das biologische Geschlecht bezeichne, bezieht sich »gender« auf das soziale Geschlecht - das wiederum erlernt und anerzogen sei und deshalb auch veränderbar (Simone de Beauvoir: »Frauen werden nicht als Frauen geboren, sondern dazu gemacht«). - »Mainstreaming« meint nichts anderes, als dass die gender-Perspektive in den gesellschaftlichen »Hauptstrom«, also in alle Gesellschaftsbereiche (von der Politik bis zur Religion) transportiert werden soll.

Das Ziel von gender-mainstreaming ist nicht die Vermeidung oder Aufhebung von Benachteiligung aufgrund des biologischen Geschlechts. Das Übel der Geschlechterdiskriminierung muss an der Wurzel gepackt werden: »Schon allein durch den Umstand, dass alle Welt von zwei Geschlechtern ausgeht, werden Frauen unterdrückt; folglich müssen die Geschlechtergrenzen verschwinden.« (F. Gerbert).

Der Begriff gender geht auf den Psychologen John Money zurück - einer der Pioniere der Gender-Theorie, der zu beweisen versuchte, dass »Geschlecht« als solches nur ein erlerntes Rollenverhalten sei.

Money unterzog 1967 den knapp zwei Jahre alten Jungen Bruce Reimer (aufgrund einer fehlgeschlagenen Beschneidung) einer operativen Kastration und einer anschließenden und hormonellen Geschlechtsumwandlung.« (A. Späth, »Vergewaltigung der menschlichen Identität«). Lange Zeit galt der nun »Brenda« genannte Bruce als Vorzeigebeispiel für die Änderbarkeit des biologischen Geschlechts. Im Frühjahr 2004 erschoss sich Bruce Reimer, nachdem er sich, als er von Moneys Eingriff an ihm erfuhr, wieder »zurückwandeln« ließ.

Auch Alice Schwarzer hat sich der Gender-Ideologie entsprechend geäußert: »Die Gebärfähigkeit (ist) auch der einzige Unterschied, der zwischen Mann und Frau bleibt. Alles andere ist künstlich und aufgesetzt, ist eine Frage der seelischen Identität.« (A. Schwarzer, »Der kleine Unterschied«, S. 192)

Philosophischer Hintergrund des Gender-Glaubens ist der Konstruktivismus - die Auffassung, dass die Welt nicht als solche und an sich existiert. Vielmehr konstruieren wir unsere Umwelt - und auch uns selbst. Meine Realität ist nur subjektiv, du lebst in einer anderen Realität, und jeder weitere Mensch ebenso. Letztlich gibt es nichts Verbindendes mehr; jede Objektivität wird abgeschafft.

Diese zerstörerische Sicht vom Menschen hat bereits C. S. Lewis in »The Abolition Of Man« - »Die Abschaffung des Menschen« beschrieben und kritisiert; ebenso Ratzinger/Benedikt XVI. mit Bezug auf den Relativismus.

Dass der Konstruktivismus eine zwar weit verbreitete Haltung ist (»Jeder Mensch kommt nach dem Tod in "seinen" Himmel«, »Jeder Mensch muss selber wissen, was gut und was böse ist«, »Jeder sieht die Welt halt anders«), macht ihn nicht plausibler. Wenn eine verbindende Wirklichkeit nicht mehr existiert, dann zerbricht alles, was den Menschen ausmacht: Jede Moral, jede Kommunikation, jede Interaktion. Und schließlich jede Identität - was vermutlich auch das Ziel des Gender-Mainstreaming ist.

Birgit Kelle hat ein Buch darüber mit dem Titel »Gender-Gaga« geschrieben, und viel mehr als »Gaga« ist an Gender auch nicht dran. Gender-Mainstreaming ist Gaga: Wäre die Auflösung der Geschlechter naturwissenschaftlich zu untermauern, so könnte man sich ja noch auf die Forschungsfreiheit berufen. Tatsächlich ist die Behauptung, Mannsein und Frausein seien lediglich gesellschaftliche Konstrukte, durch unzählige abgesicherte Erkenntnisse eindeutig widerlegt (aus Psychologie, Hirnforschung, Medizin, Biologie, Anthropologie und Soziologie). Norwegen hat als erstes Land Europas den Gender-Mainstream-Projekten wegen erwiesener Ineffektivität alle Fördergelder gestrichen.

Halten wir fest: Mann und Frau sind verschieden in biologischer, medizinischer und psychologischer Hinsicht, und dies schon vom Beginn ihrer Existenz an. Diese Geschlechterdifferenz wird durch kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Traditionen teilweise ergänzt (aber auch teilweise ausgeglichen). Diese zusätzliche soziale Geschlechterdifferenzierung macht sich der Mensch durch Umwelt und Erziehung zueigen; manche dieser Unterschiede (ob anerzogen oder angeboren) führen zu Ungleichbehandlungen, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen. Das ist verwerflich und muss dringend korrigiert werden. Die Abschaffung jeder Geschlechterdifferenz, wie sie Gender-Mainstreaming versucht, und die Behauptung, jeder Geschlechterunterschied sei ein soziales Konstrukt, führt jedoch nicht zur größeren Gerechtigkeit, sondern stellt eine Vergewaltigung der menschlichen Identität (A. Späth) dar.

Ebenfalls sollten wir - dem christlichen Menschenbild entsprechend - nicht nur von biologischen und sozialen Geschlechterdifferenzen sprechen, sondern nicht vergessen, dass der Mensch zu dem, was er ist, durch seine Seele wird. Es ist unerlässlich, auch die seelische Existenz des Menschen als weiblich-männlich zu denken. Vermutlich liegt genau hier der entscheidende Kritikpunkt der Gender-Theoretiker - obwohl diese vermutlich alle die Existenz einer Seele leugnen.

b. Unterordnung und Leitung. — Gegenüber den Gender-Mainstreaming-Ideologien bietet die christliche Anthropologie ein weitaus positiveres Konzept: Mann und Frau sind verschieden, weil sie aufeinander hin geschaffen sind; sie finden ihr Glück und ihre Erfüllung erst in wechselseitigem Zueinander.

In diesem Zusammenhang das Wort »Hierarchie« zu verwenden, ist gewagt: Unsere heutige Gesellschaft und Medienpolitik möchte am liebsten jede Hierarchie verbannen - denn, so macht man uns glauben, in der Unter- und Überordnung liegt immer eine Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Aber genau das Gegenteil ist der Grundzug des christlichen Geschlechterverständnisses: Erst durch gegenseitiges Lehren und Hinhören, Geben und Annehmen, Schenken und Empfangen verwirklicht sich der Mensch. Das, was der Mann nicht gut kann, empfängt er von seiner Frau durch seine persönliche Unterordnung unter ihr Können. Das, was die Frau nicht gut kann, empfängt sie von ihrem Mann auf die gleiche Weise.

Es fällt uns nicht schwer, den ersten Satz auszusprechen: »Der Mann erfährt sein eigentliches Wesen dadurch, dass er die Frau in ihren weiblichen Eigenschaften als Ergänzung seiner eigenen Unvollständigkeit würdigt und sich ihrem Können unterordnet.« - Die umgekehrte Formulierung geht uns dagegen kaum über die Lippen: »Die Frau erfährt ihr eigentliches Wesen dadurch, dass sie den Mann in seinen (typisch) männlichen Eigenschaften als Ergänzung ihrer eigenen Unvollständigkeit würdigt und sich seinem Können unterordnet.« - Wenn aber der erste Satz nicht diskriminierend ist, dann auch nicht dessen Umkehrung in der zweiten Formulierung.

Über das, was »typisch Mann« und »typisch Frau« ist, wollen wir hier nicht weiter nachdenken.

Sowohl Johannes Hartl (»Die Kunst eine Frau zu lieben« / »Die Kunst, (m)einen Mann zu lieben«), als auch Shaunti & Jeff Feldhahn (»Männer sind Frauensache« / »Frauen sind Männersache«) und Allan & Barbara Peas (»Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken«) haben dazu kluge und zugleich witzige Bücher geschrieben.

Fazit ist allemal, dass der Geschlechterunterschied eine Hierarchie beinhaltet - die aber

keine Wertung

darstellt! Das ist sicherlich erklärungsbedürftig: In der modernen, als »kapitalistisch« gedachten Gesellschaft ist der Chef der Ausbeuter und der Untergebene das Opfer. Und da keiner gerne Opfer ist, wollen alle möglichst Chef sein; sich unterzuordnen heißt ein Verlierer zu sein. - Der Fehler in diesem Schluss liegt bereits in der Ausgangsthese: Chef sein (zum Beispiel einer Firma) ist sehr wohl ein Dienst; der Leiter eines Schulkollegiums ist ganz sicher nicht der Ausbeuter, sondern der notwendige Orientierungspunkt. Das Papstamt ist sicher kein viel gefragter Ausbildungsberuf, sondern (für die Person des Papstes) eher das Ende der meisten persönlichen Träume und Freiheiten.

Das trifft sicherlich nicht immer zu; immerhin leben wir ja in einer Gesellschaft mit gewissen kapitalistischen Elementen. Aber dort, wo Gesellschaft, Familie und Verein im Guten funktionieren, muss jemand leiten und Verantwortung übernehmen. Am besten derjenige, der es kann und es als Dienst versteht. Auf der anderen Seite bedarf der »Chef« der Anerkennung seiner Position, der Erlaubnis, diese auszufüllen und der positiven Unterstützung. Wer Verantwortung übernimmt, braucht jemanden, der ihm diese Verantwortung vertrauensvoll überlässt und ihn dazu ermutigt. Außerdem muss jemand, der entscheidet, bei den anderen genau hinhören, wasseine Entscheidungen bedeuten und bewirken können. Dafür braucht der »Leiter« das Wohlwollen der »Geleiteten« - auf diese muss er hören, mit ihnen denken und sie achten.

Noch habe ich diese Rollen keinem bestimmten Geschlecht zugeordnet - und tatsächlich ist die Zuordnung auch manchmal überraschend anders verteilt. In jedem Verein, in der Kirche, in der Gesellschaft und in der Familie soll man die Aufgabe übernehmen, für die man geschaffen wurde; aber auch wenn dies eine Leitungsfunktion ist, bleibt es ein Dienst!

Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter ausführen, ob und warum und in welcher Hinsicht der Mann eine andere Berufung hat als die Frau. Es ist jedoch nicht sofort eine Diskriminierung der Frau, wenn Paulus schreibt:

Eph 5, 21-27: Einer ordne sich dem andern unter in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus. Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen.
Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos.

Zugegeben, Paulus hat es mit diesen Aussagen heutzutage schwer. Aber vielleicht wird es leichter nachvollziehbar, wenn wir vom Inneren zum Äußeren denken: Die Bestimmung und Erfüllung der Mutter ist es, das Baby mit ihrer Liebe und ihrem Wesen zu beschützen und zu umhüllen. So ist es die Bestimmung und Erfüllung des Vaters, die Mutter mit ihrem Kind mit der väterlichen Liebe und seinem Wesen zu beschützen und zu umhüllen. So ermöglicht er der Frau, Mutter zu werden. Und wiederum ist es die Freude und Erfüllung Jesu Christi, den menschlichen Vater (und damit auch die Mutter mit ihrem Kind) mit seiner göttlichen Liebe und seinem Wesen zu beschützen und zu umhüllen. So ermöglicht er dem Vater, Hüter seiner Frau zu sein - damit diese die Freiheit hat, Mutter zu werden - damit das Kind in einem behüteten Raum der Freiheit heranwächst.

Aber ist der Mensch denn ausschließlich zum Vater- und Muttersein geschaffen? - Dieser Einwand ist wichtig. Ja, es stimmt: für viele Menschen vollzieht sich ihr Dasein nicht in der Ehe (was übrigens in früheren Zeiten auch nicht anders gewesen ist; der Prozentsatz der Menschen, die eine Familie gründen, hat nicht abgenommen - die Anzahl ihrer Kinder allerdings schon). Aber dennoch bleiben auch alle anderen hineingenommen in den Dienst an den Familien, ob Priester oder Ordensleute, ob unverheiratete Tanten oder Onkel, ob freiwillige Singles oder »Übriggebliebene«: Sie alle haben ihre Aufgabe, die sich in Analogie zur paulinischen Sicht der Geschlechter bestimmen lässt.

c. Heiligkeit durch Geschlechtlichkeit. — In seinen 129 Mittwochskatechesen von 1979-1984 hat Papst Johannes Paul II. eine Theologie entworfen, die allgemein als »Theologie des Leibes« bezeichnet wird. Dabei ist sie viel mehr: Sie ist eine Theologie des Menschen, der seine Heiligkeit unter Einbeziehung der ihm eigenen Geschlechtlichkeit findet.

Die Philosophen der griechischen Stoa verabscheuten den Kontrollverlust im Orgasmus, weil sie dadurch den Menschen wieder auf die Ebene des Tieres herabsinken sahen. Der Mensch war ihrer Meinung ja nur deshalb Mensch, weil er seine Triebe beherrschen und durch die Vernunft (ratio) steuern konnte. Die Sexualität war zwar zur Zeugung von Nachkommen notwendig, aber ansonsten tunlichst zu vermeiden; der Geschlechtsakt schien dem Wesen des Menschen entgegengesetzt zu sein.
Im Christentum wurde dieses Denken nach und nach überwunden; der Geschlechtsakt wurde im Laufe der Theologiegeschichte sogar zum Vollzug des Ehesakramentes aufgewertet. Aber letztlich fanden sich in Mann und Frau vor allem zwei defizitäre Wesen zusammen, die einander ausglichen, was dem einen oder anderen jeweils fehlte.

Papst Johannes Paul II. hat in seinen Mittwochskatechesen nun nicht die Sicht auf die Rolle des Leibes oder der Sexualität revolutioniert; obwohl ihm unbestritten der Verdienst zukommt, dieses Thema erstmalig (durch einen Papst!) offen, theologisch und vom Menschen her denkend in den Fokus der Theologie gestellt zu haben. Das eigentlich Revolutionäre ist dagegen, dass die Geschlechtlichkeit des Menschen nicht ein Defizit in der Gottebenbildlichkeit darstellt, das nachträglich durch die Lebens- und Liebesgemeinschaft der Ehe ausgeglichen wird. Vielmehr sind Mann und Frau bereits jeder für sich Ebenbild Gottes und spiegeln in ihrer Geschlechtlichkeit Züge Gottes wider. In der Hinordnung auf die jeweiligen Vorzüge des anderen Geschlechts - auch die sexuell-leibliche Hinordnung! - gelangt der Mensch erst zur Eigentlichkeit und Heiligkeit. Erst indem er die eigene positive Geschlechtlichkeit als Mann oder als Frau anerkennt, kann der Mensch zu Gott finden.

Nachzulesen: Johannes Paul II., Norbert und Renate Martin (Hrsg.): Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Eine Theologie des Leibes. Mittwochskatechesen von 1979 – 1984

Außerdem: Carl Anderson, Zur Liebe berufen: eine Einführung in die Theologie des Leibes von Johannes Paul II. , Kißlegg 2014
Fazit

Auch in den Naturwissenschaften, der Biologie und der Medizin ist gelegentlich von einer Seele die Rede; dies ist jedoch zumeist in einem bildlichen Sinne gemeint - eine immaterielle Seele wird dagegen meist ausdrücklich verneint. Doch erst, wenn wir der Seele ein eigenständiges Sein zusprechen, klären sich wesentliche Fragen der Moral (Anfang und Ende des menschlichen Lebens), der menschlichen Existenz (»nature or nurture« - Umwelt oder Gene?) und der Geschlechteridentität (»Gender«: Soziales oder seelisches Geschlecht?).

III. Christliche Anthropologie: Das christliche Menschenbild
1. Guter Mensch - böser Mensch?

a. Theodizee und Anthropologie. — Die Frage nach dem Woher des Leids in der Welt und des Bösen im moralischen Handeln des Menschen ist seit jeher eine Nagelprobe theologischer Weltdeutung. Bereits Epikur leitete aus der Differenz zwischen dem Sosein der Welt und dem gedachten Sein der Götter einen unlösbaren Widerspruch ab: Entweder Gott ist nicht gut (das erklärt, warum die Welt es ebenfalls nicht ist), oder er ist nicht allmächtig (was die Schlechtigkeit der Welt zumindest möglich werden lässt). Er kann aber nicht beides sein - gut und allmächtig - denn dann wäre die Welt nicht so, wie sie ist: mangelhaft. Das widerspräche allerdings dem Wesen Gottes.

Die Antwort des christlichen Glaubens ist aber nicht bloß eine Reaktion darauf, sondern erweist sich als anthropologischer Geniestreich: Der Mensch ist gut erschaffen, aber gefallen - aufgrund einer ihm von Gott geschenkten Eigenständigkeit. Die Theologie antwortet zunächst auf die Frage der Theodizee: Gerade weil der Mensch in seiner Gottebenbildlichkeit auch frei in seinem Handeln ist, ist er frei, sich gegen seinen eigenen Schöpfer zu entscheiden und damit gegen seine Bestimmung, gut zu sein.

In dieser Antwort liegt aber zugleich eine Wirklichkeitsbeschreibung, die den Menschen treffender beschreibt als andere anthropologische Entwürfe aus Antike und Neuzeit, Philosophien und Weltreligionen. Während die Charakterisierung des Menschen als in sich schlecht (Hobbes: »homo homini lupus est« - »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«) an der Realität der großen und kleinen Selbstlosigkeiten und Ideale vorbeisieht, leugnet die Verherrlichung des natürlich gebliebenen Menschen (Rousseau: »Zurück zur Natur!«) die Abgründe der Unmenschlichkeit, mit der sich der Mensch in allen Epochen der Geschichte selbst konfrontiert.

b. Erbsünde als Charakteristikum des Menschen. — Erst die Lehre vom Menschen als »geschwächter Heiliger« findet einen Standpunkt, der die beiden Thesen (von Natur aus böse - von Natur aus gut) in einem anthropologischen Entwurf verbindet: Der Mensch ist gut geschaffen und zu Höherem auserwählt, aber er ist gefallen und fällt immer wieder, wenn er sich nicht aufrichten lässt von dem, der ihm aus der Höhe zu Hilfe kommt. Somit ist der Mensch nicht nur offen für Religiösität oder in seinem Menschsein unvollständig ohne eine Beziehung zu Gott; er bedarf vielmehr zur Verwirklichung menschlicher Größe des Beistands Gottes. Diesen gefallenen Zustand des Menschen zwischen Gut und Böse nennt die Kirche »erbsündliche Verfassung«.

c. Drei Missverständnisse. — Der Begriff der Erbsünde darf nun (erstens) nicht überzogen werden, wie es die Reformatoren getan haben. Anders als diese geht die katholische Kirche davon aus, dass das Gute im Menschen geschwächt ist, aber nicht getötet; seine Freiheit ist eingeschränkt, aber nicht verloren; seine Natur ist verwirrt, aber nicht verdorben; die Erkenntnis verdunkelt, aber nicht verhindert. Wie ein Magnet die Eisenspäne wieder »in Ordnung« bringt, so richtet die Gnade Gottes die natürlichen Kräfte des Menschen wieder auf das ursprüngliche Ziel aus. Dennoch sind auch ohne den Magneten die Eisenspäne vorhanden; auch ohne die Gnade ist der Mensch mit Gottes guten Gaben ausgestattet.

Zudem ist (zweitens) der Begriff »Sünde« nicht aktuell, sondern nur habituell zu verstehen: Der Mensch ist zwar von Geburt an dem ursprünglichen Schöpfungszustand entfremdet (habituelle Sünde meint ein Sein, dessen Bezug zum Guten gestört ist), wird aber erst persönlich schuldig, wenn er eine eigene Tat der Auflehnung gegen das sittliche Ideal setzt (aktuelle Sünde meint ein handelndes Absondern vom Guten). Die Erbsünde ist also keine persönliche Schuld, sondern ein Zustand, in dem der Mensch gleichermaßen von Gut und Böse angezogen ist - während der ursprüngliche, gottgewollte Zustand beinhaltet, vom Guten angezogen und vom Bösen abgestoßen zu werden. Das biblische Bild des Essens vom Baum der »Erkenntnis von Gut und Böse« beschreibt diese freiwillige Neutralität: Gut und Böse gleichermaßen zu erkennen und zu verinnerlichen heißt, nun auch dem Guten neutral gegenüber zu sein.

Zuletzt ist (drittens) der Begriff der »Vererbung« weder rein sozial zu verstehen (»Ich werde in eine ungerechte Welt geboren, so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in den Strukturen dieser Welt schuldig zu machen.«), noch biologistisch im Sinne eines »Gendefektes«. Vielmehr handelt es sich um eine geistige Wirklichkeit, die verloren gegangen ist: Mit der Erbsünde hat der Mensch seine natürlich gegebene Vorliebe für das Gottgewollte verloren; diese Vorliebe kann seitdem auch nicht mehr an nachfolgende Generationen vermittelt werden.

2. Gemeinschaft ist die Zukunft des Menschen

a. Der Mensch ist auf Beziehung hin geschaffen. — Schon aus der christlichen Erbsündenlehre (»Der Mensch ist gut geschaffen und zu Höherem auserwählt, aber er ist gefallen und fällt immer wieder, wenn er sich nicht aufrichten lässt von dem, der ihm aus der Höhe zu Hilfe kommt«) ergibt sich die Hinordnung des Menschen auf eine Hilfe von außen. Diese Angewiesenheit ist allerdings nicht erst eine Folge der Sünde: Schon vor dem Sündenfall (im zweiten Schöpfungsbericht) beschließt Gott, dass es nicht gut sei, wenn der Mensch alleine bliebe (Gen 2, 18-25). Der Mensch ist nur Mensch, wenn er dazu eine Hilfe erfährt. Gott führt ihm die Tiere zu und schließlich »als Fleisch von meinem Fleisch« die Frau. Der Mensch vollendet also sein Wesen, indem er in Beziehung tritt: Zu allem Geschaffenen, zu den anderen Menschen und zu Gott. Ohne diese »Ergänzung« ist der Mensch unvollkommen und unfertig. Sünde ist, in der Beziehungsfähigkeit Schaden zu nehmen und sich damit vom erfüllten Leben zu entfernen.

Daraus ergibt sich aber auch, dass unsere Heiligkeit sich nicht in der autonomen Perfektion erfüllt. Wer so perfekt ist, dass er niemanden mehr nötig hat, ist nicht heilig, sondern wahrnehmungsgestört. Heiligkeit findet sich nur in der (vollkommenen) Beziehung zu dem, der mich ergänzt und somit »heiligt«.

b. Gott will unser Glück. — In den meisten Religionen gibt es die Vorstellung von bedürftigen Göttern, die dem Menschen Pflichten auferlegen, damit ihre Bedürfnisse (nach Verehrung, Opfer oder Gebet) erfüllt werden. Als Gegenleistung versprechen sie dem gläubigen Menschen Schutz, Wohlergehen und das göttliche Wohlgefallen.

Unser jüdisch-christlicher Gott ist anders; das wird spätestens an den Zehn Geboten deutlich, deren Erfüllung Gott als Bundesleistung des Menschen erwartet. Anstatt Opfer, rechten Gottesdienst, den Zehnten Teil der Feldfrüchte oder die Einhaltung bestimmter Rituale zu verlangen, besteht die Forderung Gottes an Sein Volk darin, dass dieses die Beziehungen zu Gott und untereinander schützt! Wohlgemerkt: Nicht das Wohlergehen Gottes, sondern das Wohl der Menschen ist der Gegenstand der Zehn Gebote. Gott erwartet also nichts für sich - sein Glück besteht darin, die Beziehungsfähigkeit seines Volkes wiederhergestellt zu sehen. Gottes Glück besteht darin, sein Volk glücklich zu sehen.

Wenn nun Gott schon in sich ein Beziehungsgeschehen ist, dann muss es auch der Mensch sein, der als Ebenbild Gottes geschaffen wurde.

c. Glücklich wird, wer glücklich macht. — Somit ist die Erfahrungswirklichkeit, dass der Mensch seine größte Erfüllung findet, wenn er anderen zur Erfüllung verhilft, auch theologisch und biblisch gut begründet. Dieses darf getrost als eine Grundwahrheit unseres christlichen Glaubens betrachtet werden: »Glücklich wird, wer glücklich macht!«. Wir werden erst dann Gott ähnlich sein, wenn wir wie er das Glück und das Wohl des Anderen im Blick haben.

Wenn darin nun eine Grundkonstante des Menschseins liegt - und nicht nur ein Defizit aufgrund des Sündenfalls -, dann liegt hierin auch das Glück des Jenseits. Wir werden im Himmel nicht »autonom perfekt« sein, sondern bleiben aufeinander und auf Gott angewiesen. Diese Angewiesenheit aber nicht als Last zu erfahren, sondern als wunderbare Gelegenheit, den Anderen groß sein zu lassen und zu erheben, indem ich ihn um Hilfe bitte (und umgekehrt), ist »Himmel«. Sein eigenes »Defizit« als Gnade anzusehen, die einem anderen die Möglichkeit schenkt, mich zu ergänzen, ist »Himmel«. Einem Anderen zu Hilfe zu kommen und darin einen Grund zur Freude für ihn und für mich zu entdecken, ist »Himmel«.

Ein Himmel, der hier auf Erden nur ein blasses Abbild ist, weil wir unsere Hinordnung auf den anderen immer noch nicht als Gnade, sondern zumindest auch als Last empfinden.

3. Glück durch Wahrheit, Liebe und Beziehung

a. Der Mensch als »animale rationale«. — Bereits Aristoteles bezeichnete den Menschen als »animale rationale« (da er griechisch schrieb, natürlich als »zoon logon echon«); der Gebrauch der Vernunft, die zur Beherrschung der Triebe berufen ist, macht den Menschen erst zum Menschen. Kant bemerkte hierzu richtig, dass der Mensch zunächst nur ein »animale rationabile« sei - also ein zum Vernunftgebrauch fähiger Mensch - diesen Gebrauch muss er nämlich auch wollen, einüben und praktizieren. Der Mensch ist also durch seine Begabung mit Geist bereits von der Tierwelt unterschieden; wenn er aber diese Gabe nicht ausbildet, bleibt er hinter seinen Möglichkeiten zurück und damit auch hinter seiner Menschlichkeit.

Wir sind also aufgerufen, noch zu dem zu werden, was wir in der Anlage bereits sind: Wesen, die zur Erkenntnis der Wahrheit fähig sind. Die Wahrheit zu suchen, zu erkennen, anzunehmen und weiterzugeben, ist ein Geschenk Gottes an den Menschen und zugleich seine Aufgabe. Aber nicht eine Aufgabe, die dem Menschen einiges kostet und ihm abverlangt, sondern die ihn erst zu dem werden lässt, was er sein kann. Der Mensch als »animale rationale« ist also nicht nur wahrheitsfähig, sondern zur Erkenntnis der Wahrheit geschaffen und berufen.

b. Der Mensch als »Tier mit Moral«. — Das gleiche gilt für eine zweite Wesensbestimmung des Menschen: Er ist frei, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Der Mensch ist mit einer Freiheit ausgestattet, die ihn ebenfalls vom Tier unterscheidet. Das Tier ist, was es ist, und tut, was es tut. Das Tier hat dabei keine von seinem Handeln unabhängige Intention - selbst, wenn das Verhalten einzelner Arten (Menschenaffen, Delphine, Papageien, Dohlen, Elefanten und Hunde - zum Beispiel) dem selbstbestimmten Handeln des Menschen verblüffend ähnelt.

Für die Freiheit gilt das gleiche wie für die Vernunft (oder auch die Sprache und das Gewissen): Alle Menschen haben diese Gabe von Anfang an; die Begabung jedoch muss ausgebildet und zur Anwendung gebracht werden, sonst verkümmert sie.

Der Mensch ist aufgerufen, das Gute zu erkennen und in seinem Handeln zu verwirklichen. Der Mensch ist zum Guten fähig. Das Gute zu suchen, es zu erkennen, zu verwirklichen und andere dazu anzuhalten, ist ein Geschenk Gottes an den Menschen und zugleich seine Aufgabe. Die Erfüllung dieser Aufgabe jedoch führt zur eigentlichen Bestimmung des Menschen, nämlich zur Fülle der Freiheit zu gelangen.

c. Der Mensch als »zoon politikon«. — Auch dieser Ausdruck stammt von Aristoteles: Der Mensch ist von seinem Innersten her ein Gemeinschaftswesen. Wahrheit, Sprache, Gewissen und Freiheit dienen dem Ziel, in Freundschaft mit allen anderen Personen zu leben. Darin erfüllt sich sein eigentliches Wesen, dort findet er sein Glück.

Für uns Christen ist klar, dass wir all diese Gaben nicht wirklich zur Blüte bringen können, ohne dass uns dabei unter die Arme gegriffen wird. Wir sind also nicht nur zur Gemeinschaft mit allen Wesen gerufen - wir gelangen dorthin nur, wenn wir die Hilfe anderer Wesen annehmen. Die entscheidende Hilfe (wir Christen sagen auch: Erlösung) gewährt uns jenes Wesen, das Person schlechthin ist: Gott, der Vater; Gott, der Sohn; Gott, der Heilige Geist.

Die »Gemeinschaft der Heiligen« ist also nicht nur ein Ziel des Menschen, sie ist auch sein Weg. Grund für die Erlangung dieses Zieles ist jedoch immer derjenige, der uns darauf hin geschaffen hat; der uns den Weg dorthin gebahnt hat und der uns mit der Kraft ausstattet, sich zur Wahrheit, Freiheit und Liebe führen zu lassen.

Fazit

Die christliche Anthropologie ist nicht nur analytisch: Woraus besteht der Mensch? - Wie entsteht der Mensch? Christliche Anthropologie ist wesentlich von der Eschatologie her zu verstehen: Was ist das letzte Ziel des Menschen? Woraufhin wurde er erschaffen? Drei Aspekte sind hier genannt: 1. Der Mensch ist gut erschaffen, aber sündig geworden; 2. Der Mensch erlangt sein Ziel (Gemeinschaft mit Gott und den Menschen) nur in Gemeinschaft; 3. Der Mensch ist frei, rational und sozial: Ohne Liebe und Wahrheit kann er nicht sein.