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Grundkurs des Glaubens - Der historische Jesus

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1. Abend zur Christologie: Der historische Jesus

I. Von Reimarus zu Bultmann: Ein Problem entsteht
1. Hermann Samuel Reimarus
2. Die Epoche der Leben-Jesu-Forschung
3. Die existentiale Interpretation Christi bei Rudolf Bultmann

II. Die Glaubwürdigkeit des Neuen Testamentes
1. Hat Jesus überhaupt gelebt?
a. Das Schweigen der Zeitgenossen
b. Außerchristliche Erwähnungen
c. Das Schweigen der Gegenstimmen
2. Die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien
a. Stille Post
b. Innere Widersprüche
c. Innere Widersprüche
1. Farbigkeit und der Reichtum
2. Der Realismus und die Selbstkritik der Jünger
3. Lebensumstände und sozialen Bezüge

III. Äußere Belege

I. Von Reimarus zu Bultmann: Ein Problem entsteht

Der folgende Abschnitt ist - gekürzt - der Dogmatik von Ziegnaus/Scheffzyk entnommen (A. Ziegenaus u. L. Scheffzyck: Katholische Dogmatik, Bd. 4, S. 13-27)

1. Hermann Samuel Reimarus

Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), ein Hamburger Orientalist, wollte wider den Materia­lismus und atheistischen Empirismus vieler Intellektueller seiner Zeit die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit, die Freiheit und die Tugend verteidigen. Er bezog den Standpunkt der deistischen Vernunft­religion, derzufolge die empirische Welt durch die Naturgesetze, die der Schöpfer ihr am Anfang eingepflanzt habe, streng determiniert ist. Weil somit jedes Einwirken Gottes in das Weltgeschehen ausge­schlossen ist, kann es keine Wunder und keine Offenbarung geben.

Mit diesem deistischen Vorverständnis geht nun Reimarus an die biblischen Texte heran. Vor allem in der Schrift: »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger» unterscheidet er zwischen System I und II. System I umfasst alles, was Jesus selbst gedacht und getan hat. Jesus hätte an ein irdisch-politisches Messiasreich gedacht, denn anders hätten die Zuhörer die Ankündigung »Genaht hat sich das Reich Gottes« gar nicht verstehen können. Als politischer Messias wurde Jesus schließlich gekreuzigt; er starb von Gott verlassen, der seine Pläne nicht unterstützt hat.

Angesichts des Scheiterns der politischen Absichten Jesu (= Sys­tem I) griffen die Jünger zum System II: Sie ersetzten die landläufi­ge Erwartung eines politischen Messias durch die Vorstellung eines Erlösers, der auf den Wolken kommen wird. Sie stahlen den Leichnam, deuteten den Tod Jesu geistig um und führten den Gedanken der Erwar­tung eines kommenden Weltenrichters ein. Sa­kramente, wie Taufe und Abendmahl, gehören zum System II und ha­ben daher nichts mit Jesus zu tun.

2. Die Epoche der Leben-Jesu-Forschung

Nicht in direkter inhaltlicher Abhängigkeit von Reimarus, wohl aber in Fortführung der von ihm begonnenen Art zu fragen entstand nun eine intensive Forschung nach der Gestalt des geschichtlichen Jesus, sozusagen ohne das System II. Albert Schweitzer (1875-1965) hat die »Ge­schichte der Leben-Jesu-Forschung» geschrieben und dabei ca. 150 Werke verarbeitet. Dass diese Werke teilweise sogar mehrmals wieder aufgelegt worden sind, unterstreicht das verbreitete Interesse jener Zeit an der Gestalt des historischen Jesus.

1835/36 wurde die Thematik durch das »Leben Jesu, kritisch bearbeitet« von David Fr. Strauß (1808-1874) in veränderter Perspektive aufgegriffen und zur Darstellung gebracht. Straußens Zentralbegriff heißt Mythos. Im Kern des Mythos steht nicht ein geschichtli­ches Ereignis oder eine Person, sondern eine religiöse Idee. Im Unterschied zu den Vorläufern war Strauß wenig an der Frage interessiert, welche historischen Züge Jesu aus den Evangelien noch herauszufiltern sind. Sie ist für ihn auch nicht von zentraler Bedeutung; wichtig ist eben der Mythos, den die absichtslos dichtende Sage hervorbringt. Ihm weist nun Strauß fast alles zu, nämlich die Kindheitsevangelien, die Geschichten um Johannes den Täufer und seine Vorläuferfunktion für Jesus, die Versuchungsgeschichte, wohl auch die Tempelreinigung, Auferstehung und Himmelfahrt. Was die Wunder betrifft, so mögen einige Heilungen historisch sein, aber nicht in der überlieferten Fassung. Die Folgezeit hat ein Ereignis ins Wunderhafte gesteigert und anhand alttestamentlicher Vorlagen ausgeschmückt. Naturwunder, wie Sturm-, See- und Fischgeschichten, sind in noch höherem Maße mythisch. Die Berich­te von der wunderbaren Speisung beruhen auf alttestamentlichen Vorlagen.

3. Die existentiale Interpretation Christi bei Rudolf Bultmann

Rudolf Karl Bultmann (1884-1976) knüpft zum einen an die religionsgeschichtliche For­schung an und führt sie weiter. Insgesamt äußert Bultmann seine Skepsis hinsichtlich der Darstellung des historischen Jesus: »Ich bin der Mei­nung, dass wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können». Bultmann macht aus der historischen Not eine theologische Tugend: Die Evangelien seien Glaubenszeugnisse und Verkündigung, aber keine historischen Berichte, deshalb dürfe man sie auch nicht in den Evangelien suchen.

Worauf liegt nun das Gewicht der neutestamentlichen Verkündi­gung, wenn der historische Jesus als theologisch bedeutungslos zu betrachten ist? Der Akzent ist nach Bultmann auf das zu legen, was die Leben-Jesu-Forscher als Mythos außer Acht gelassen haben, also auf Präexistenz, Inkarnation, Jungfrauengeburt, Wunder, Auferste­hung, Himmelfahrt und Wiederkunft. Aber alle diese Aussagen seien nicht im realistischen Sinn zu verstehen, d.h. die Mythen sind zu ent­mythologisieren und existential zu interpretieren.

Die ganze Offenbarung konzentriert sich auf die Verkündigung - das Kerygma. Was in der Bibel in verschiedene Ereignisse auseinandergezogen ist und als Schöpfung der Welt, Erwählung Israels, Geburt Christi, Tod, Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft geschildert wird, wird bei Bultmann entmythologisiert und existential interpretiert und auf einen Punkt in der Gegenwart (präsentische Eschatologie!) kompri­miert. Der Predigt, in der sich das Heute der Offenbarung ereignet, entspricht im Menschen das neue Selbstbewusstsein. Die Person Jesu geht letztlich in seinem Wort auf.

So bleibt noch die Frage nach der Be­deutung Christi zu klären. Der historische Jesus ist, wie gezeigt, ohne Bedeutung; sich an ihn zu halten hieße »den Christus dem Fleische nach zu suchen, der vergangen ist. Der gepredigte Jesus Christus ist der Herr.«

Rudolf Bultmann wirkt noch immer in unseren Köpfen, Schulbüchern und Predigten fort. Aus der Ansicht heraus, Jesus habe seine Wunder und Zeichen als Predigt verstanden und mit einer Botschaft versehen, ist Jesus einfach gestrichen worden: Nun erzählen die Evangelisten uns Geschichten, die diese Botschaft vermitteln sollen - und als handelnde Person haben diese Geschichte eben einen fiktiven Jesus. Wer deshalb folgert, diese Geschichten seien dann ja gar nicht »wahr«, wird darauf hingewiesen, dass sie zwar nicht historisch seien, aber in einem »viel tieferen Sinne Wahrheit vermitteln«. Nun stellt sich angesichts Bultmann erneut die Frage: Wie historisch ist das Neue Testament und insbesondere die Evangelien?

Fazit

Nicht aus biblischen Erkenntnissen, sondern aus einem deistischen Vorverständnis entstand seit Reimarus die Leben-Jesu-Kritik, die schließlich dazu führte, dass Rudolf Bultmann die historische Dimension als insgesamt unbedeutend beiseite schob und nur nach der Absicht der Verkündigung fragte. Eine bis heute in und außerhalb der Kirche weit verbreitete Herangehensweise an die Text des Neuen Testamentes.

II. Die Glaubwürdigkeit des Neuen Testamentes
1. Hat Jesus überhaupt gelebt?

Historiker betrachten diese Frage eigentlich als längst geklärt - und äußern sich oft nicht mehr dazu. Das ermutigt immer mal wieder Verschwörungstheoretiker (siehe z.B. www.zeitgeist.com) zu der abwegigen Behauptung, es sei inzwischen erwiesen, dass Jesus niemals gelebt habe.

a. Das Schweigen der Zeitgenossen. — Zugegeben: Schriftliche Aufzeichnungen von Zeitgenossen Jesu sind kaum erhalten geblieben - abgesehen von den Texten, die in der Bibel stehen. Aber dies verwundert nur den Laien, der sich in den Geschichtswissenschaften nicht sonderlich auskennt. Warum sollten große und berühmte Geschichtsschreiber zur Zeit Jesu von einem jüdischen Wanderprediger in einem der abgelegensten Bereiche des römischen Reiches Notiz von seinem Leben nehmen? Für Geschichtsschreiber spielten schon immer Kriege, Feldherren und Politiker eine größere Rolle als Prediger und fromme Gottesmänner.

Mit großer Sicherheit fanden sich Hinweise zur Person Jesu in den Akten römischer Gerichte und Bürokraten; Justin und Tertullian zitieren im Jahre 200 n. Chr. daraus. Aber mit dem römischen Reich sind auch diese Schriften untergegangen.

Auch die jüdischen Geschichtsschreiber, die es zur Zeit Jesu sehr wohl gab - z.B. Philo von Alexandria und Justus von Tiberias - erwähnen Jesus nicht. Das mag zum einen daran liegen, dass deren politische Gesinnung (als Herodianer) oder Angehörige der politischen jüdischen Oberschicht eher dazu verleitete, Jesus zu ignorieren - vielleicht provozierte der Anspruch Jesu sogar deren jüdische »Gegengeschichte«. Das kann aber auch darin seinen (wahrscheinlicheren) Grund haben, dass die Schriften der jüdischen Historiker insgesamt nur sehr bruchstückhaft überliefert sind.

Auch die Tatsache, dass Jesus in seinem Leben Aufsehen erregende Wunder vollbrachte, dürfte die damaligen Geschichtsschreiber nicht dazu bewegt haben, Jesus noch zu Lebzeiten mit einem Eintrag in ihr Geschichtswerk zu würdigen. Täuschen wir uns nicht: Damals waren Wunder, ebenso wie heute, nicht an der Tagesordnung. Das führte bei seriösen Geschichtsschreibern, die selbst keinen direkten Kontakt zu Jesus gehabt haben, ebenso wie heute dazu, solche Wunderberichte eher als »Geschwätz« von aufgebrachten und ungebildeten Juden abzutun - von einer (angeblichen) Wunderhysterie ließen sich solche Herren nicht anstecken (vor allem, wenn der Wundertäter schmählich am Kreuz endete).

Auch wenn uns die Missachtung der Zeitgenossen Jesu überrascht, für Historiker ist das nicht verwunderlich: Häufig findet sich in antiken Quellen kein einziger Hinweis zu bestimmten Personen, die durch andere Quellen als unbezweifelbar historisch belegt sind. So berichtet Philo (von Alexandrien) nichts über Johannes den Täufer, den Josephus und die Mandäer erwähnen. Josephus, der sich zum Pharisäismus bekannte, berichtet wiederum nichts über Paulus und über Rabbi Hillel.

b. Außerchristliche Erwähnungen. — Aber dennoch gibt es Jesus-Erwähnungen durch nichtchristliche Autoren - die allerdings alle keine Augenzeugen sind und deren Informationen auf Hörensagen beruhen:

Die wichtigste Erwähnung ist die durch den jüdischen Historiker Flavius Josephus, der Jesus in seinen Antiquitates Judaicae (um 93/94) zweimal erwähnt. Dabei wird oft behauptet, dass die wichtigere Stelle - das »Testimonium Flavianum« (18, 63f) - als Fälschung gilt - was nicht ganz korrekt ist. Vermutlich wurde diese Stelle nachträglich von Christen überarbeitet; aber die Historiker sind sich zum größten Teil einig, dass es eine authentische Urversion gibt, die tatsächlich von Josephus stammt.

Außerdem berichtet Tacitus um 117 in seinen Annales von »Chrestianern«, denen Kaiser Nero die Schuld am Brand Roms im Jahr 64 zugeschoben habe: »Der Mann, von dem sich dieser Name herleitet, Christus, war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden«.

Sueton schrieb um 120 in seiner Biografie des Kaisers Claudius, dieser habe »die Juden, welche, von einem gewissen Chrestos aufgehetzt, fortwährend Unruhe stifteten«, aus Rom vertrieben.

Ebenso gibt es eine Erwähnung im jüdischen Talmud (ab 95 n. Chr.), bei Plinius d. J. (um 110 n. Chr.) und bei Julius Africanus (der sich wiederum gegen eine unbelegte Behauptung des Thallus - ab 52. n. Chr. - wendet).

Nicht zu unterschlagen ist die Erwähnung bei Mara bar Serapion (zwischen 73 und 135 n. Chr.) und Lukian von Samosata.

Obwohl wir also keine Biographie Jesu aus nichtchristlicher Feder haben, sind diese Quellen dennoch aufschlussreich und keineswegs leicht abzutun - denn sie stammen aus Umfeldern, die kein Interesse an einer Geschichtsfälschung haben bzw. sich verächtlich über Jesus äußern. Daher sind sie bis in die jeweilige Wortwahl christlich-distanziert und deshalb erst recht unverdächtig.

Die Texte im Einzelnen sind im Internet nachzulesen: Entweder unter www.k-l-j.de/Flavius_Josephus.htm, oder unter Wikipedia (»Außerchristliche Notizen zu Jesus von Nazareth«.

c. Das Schweigen der Gegenstimmen. — Für seriöse Historiker gelten solche Zeugnisse und selbst fragmentarische Erwähnungen von Personen so lange als glaubwürdig, wie es keine gegenteiligen zeitgenössischen Quellen gibt, die zum Beispiel die Existenz Jesu leugnen, oder andere Hinweise auf eine Fälschung (wie z. B. anachronistisches Vokabular oder Schrift) vorliegen. Das vollständige Fehlen irgendwelcher entlarvenden Hinweise - selbst durch die Gegner Jesu und der jüdischen Oberschicht - ist durchaus bedeutsam.

Selbst wenn die Existenz Jesu erst Jahrhunderte später erfunden worden wäre - noch mehr aber, wenn Jesus im ersten Jahrhundert »nach Christus« erfunden worden wäre - hätten die Kritiker der Christen (und davon gab es mehr als genug) mit Sicherheit das absolute Fehlen von Hinweisen auf seine Existenz als Argument vorgebracht. Aber das gab es nicht.

Natürlich gibt es jetzt die Verschwörungstheoretiker unter uns, die behaupten, das liege daran, dass alle Hinweise auf die Nicht-Existenz Jesu von gläubigen Christen vernichtet worden wären. So etwas behaupten Verschwörungstheoretiker eben. Aber dagegen spricht, dass ansonsten alle Arten von Kritiken an Jesus, den Christen und der frühen Kirche erhalten geblieben sind - nur eben nicht die Behauptung, er habe nicht existiert. Diese Behauptung kommt erst im 18. Jahrhundert auf.
2. Die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien

Schließlich kommen wir zu den wichtigsten Fundstücken: Den Evangelien. Natürlich sind die Evangelien keine neutrale Quellen - sie haben ein deutliches Interesse, Jesus als den Christus zu verkündigen und den Leser zur Verehrung Jesu zu animieren.

Aber auf der anderen Seite sind die Evangelien schon sehr früh entstanden - neueste Schätzungen (z. B. durch Klaus Berger, Carsten Peter Thiede und A.T. Robinson) sprechen für eine Abfassung noch vor 70 n. Chr., vermutlich sogar noch deutlich früher. Wer zu dieser frühen Zeit etwas von einem gewissen Jesus behauptete, obwohl dieser Jesus lediglich frei erfunden wäre, musste mit Widerspruch rechnen - denn die Zeitzeugen lebten noch. Ein Evangelist wie Matthäus, der sein Evangelium auch für Judäa schrieb, konnte nicht die Existenz eines Jesus behaupten, wenn dort noch niemals jemand von ihm gehört gehabt hätte.

Natürlich - das, was über Jesus in den Evangelien erzählt wird, ist so erstaunlich, dass wir geneigt sind, die Evangelien grundsätzlich nicht ernst zu nehmen. So erscheint es uns ja auch als müßig, alle Berichte von UFOs, Yeti-Kontakten, Wunderheilungen in aller Welt, Erscheinungen von Lichtgestalten und Marienbildern auf Toastbroten nachzuprüfen: Die Erfahrung lehrte uns bislang, dass solche Berichte in jeder Hinsicht unglaubwürdig sind.

Aber spätestens, wenn ein Bericht auftaucht, der trotz des Unfassbaren, das darin behauptet wird, in jeder anderen Hinsicht glaubwürdig ist - spätestens dann wäre es unvernünftig, die Glaubwürdigkeit dieses Textes weiterhin pauschal abzulehnen, nur aufgrund unserer Vorentscheidung, die Existenz von Übernatürlichem in unserer Welt nicht in Erwägung zu ziehen.

a. Stille Post. — Es ist zwar schade, aber für einen jüdischen Prediger auch nicht ungewöhnlich, dass Jesus selbst keinen einzigen Text verfasst hat. Das galt ja auch für die meisten der Propheten im Alten Bund, deren Hauptaufgabe die Predigt gewesen ist. Für sie und ebenso für Jesus gilt, dass alles, was wir heute noch von ihren Taten und ihren Lehren wissen, durch die Jünger aufgeschrieben worden ist - das aber oft erst Jahre später.

Der Vergleich Jesu mit den Propheten des Alten Testamentes ist noch aus einem anderen Grunde sehr aufschlussreich: Falls die Juden Jesus zunächst für einen weiteren Propheten gehalten haben (was sehr wahrscheinlich ist), werden sie - genauso wie sie es schon bei den vorangegangenen Propheten getan haben - seine Worte und Taten aufgeschrieben und gesammelt haben. So sind die Prophetenbücher entstanden, und vermutlich auch die ersten Aufzeichnungen, aus denen später die Evangelien entstanden sind.

Sogar das apokryphe Jakobus-Evangelium, das viele Legenden und märchenähnliche Wundergeschichten enthält, ist wahrscheinlich aus dem Brauch entstanden, Aufzeichnungen über besondere Personen zu sammeln. Nur, dass das Jakobus-Evangelium vermutlich von der Großfamilie in Nazareth zusammengestellt und dort weitergegeben wurde, weshalb es vor allem der dörflichen-familiären Tradition folgte und nicht so sehr dem christlich-historischen Anspruch genügt - darum wurde es auch nicht in die Bibel aufgenommen.

Nun ist es allgemein bekannt, dass etwas, was mündlich weitergegeben wird, sich mit jeder Person, die daran beteiligt ist, wandelt. Bekannt ist das Spiel »stille Post«: Kinder flüstern sich einen Satz zu und geben das, was sie verstanden haben, flüsternd an einen Nächsten weiter. Aus einem einfachen und klaren Satz wird so schon nach wenigen Stationen ein ganz anderer.

Die Frage stellt sich also: Ist es überhaupt denkbar, dass ein so umfangreicher Text wie ein Evangelium, frühestens 20 Jahre nach dem Tod Jesu aufgeschrieben, noch den Anspruch auf Wahrheit erheben kann?

So einleuchtend, wie das Stille-Post-Prinzip ist, es kann nicht auf die Weitergabe von historischen Begebenheiten angewandt werden. Denn während das Stille-Post-Prinzip darauf setzt, dass immer nur ein einziges Kind weiß, was es gehört hat und was es weitergibt und es keine zusätzliche Kontrolle gibt, so ist die Weitergabe von Wissen über Ereignisse durch eine größere Gruppe sehr konstant: Denn das, was erzählt wird, wird schon während der Erzählung von der Gruppe korrigiert.

Bedenken wir vor allem, von welcher Kultur wir reden: Rabbiner waren dafür bekannt, dass sie das ganze Alte Testament auswendig kannten, jeder Jude wurde in der Tradition der Schriften erzogen (was dazu führte, dass die Juden in der damaligen Zeit das Volk mit der größten Alphabetisierungsquote war!) und im Zitieren von Gesetzen, Geboten und der Geschichte des Volkes Israel.

Außerdem ging es beim Weitererzählen der jesuanischen Worte um ein für alle Beteiligten höchst bedeutsames Gut, es wurde also - ganz im Gegenteil zum Stille-Post-Prinzip - sehr sorgfältig auswendig gelernt und weitergetragen. Wir kennen aus ganz anderen Zusammenhängen äußerst zuverlässige Traditionen über Jahrhunderte hinweg: So wurde zum Beispiel die Biografie von Alexander dem Großen erst 400 Jahre (!) nach seinem Tod geschrieben - und bis heute geht man von der historischen Glaubwürdigkeit der Biografie aus. Die märchenhaften Legenden um Alexander entstanden erst nach der schriftlichen Niederlegung seines Lebens.

b. Innere Widersprüche. — Die innere Glaubwürdigkeit wird geprüft, indem der Text in sich analysiert und untersucht wird - zum Beispiel auf Widersprüche, Ungereimtheiten, Übertreibungen oder Schwärmereien, logische Brüche in der Darstellung usw. Bei dieser Frage fallen dem Laien natürlich sofort zahlreiche Abweichungen zwischen den vier Evangelien auf.

So wurde nach Mt, Mk und Lk Jesus am Tag vor dem Passahfest gekreuzigt, bei Johannes aber in dem Augenblick, in dem die Passah-Lämmer im Tempel geopfert wurden.

Wiederum nach Mt, Mk und Lk hat Jesus drei Jahre gewirkt und war dementsprechend dreimal in Jerusalem; nach Johannes hat er nur ein Jahr gewirkt; sein ganzes Wirken ist ein Weg nach Jerusalem.

Bei Mt hat der Hauptmann persönlich Jesus um Hilfe gebeten - bei Lk waren es seine Bediensteten...

Simon Greenleaf, ein bedeutender Jurist und Autor eines Standardwerkes zum Thema Beweise, schreibt über die Evangelien: »Es gibt genügend Diskrepanzen, um zu zeigen, dass sich die Autoren nicht vorher abgesprochen haben. Und gleichzeitig finden sich solch wesentlichen Übereinstimmungen, die zeigen, dass alle unabhängige Autoren desselben großen Vorganges waren«. Und Hans Stier schreibt: »Selbst der Historiker ist dann besonders skeptisch, wenn ein außergewöhnliches Ereignis nur in Berichten geschildert wird, die frei von Widersprüchen sind«.

Die Behauptung, die Evangelien stimmen in den wesentlichen Punkten überein und widersprächen sich nur ein Nebensächlichkeiten, setzt natürlich voraus, dass wir uns geeinigt haben, was wesentlich ist und was nebensächlich. Aber selbst, wenn wir uns darüber nicht einigen können: Die Unterschiede in der Darstellung sind niemals so groß, dass ein Historiker die Glaubwürdigkeit der vier Evangelien abstreiten würde.

c. Innere Kriterien der Glaubwürdigkeit der Evangelien. — Die Evangelien bieten uns kein vollständiges, geschlossenes Bild von Jesus Christus. Das war und ist auch gar nicht ihre Absicht. Die Evangelien sind letztlich ein Glaubenszeugnis über Jesus, den Sohn des lebendigen Gottes, aber eben ein sehr ernst zu nehmendes und glaubwürdiges Zeugnis. Die Evangelien sind Zeugnisse, nicht Erzeugnisse. Sie schildern Tatsachen, nicht Erfindungen. Tatsachen freilich, die oft genug über unseren (kleinen) Verstand und über unser Fassungsvermögen hinausgehen. Es gibt viele innere Kriterien, die uns zeigen können, dass wir der Botschaft der Evangelisten und Apostel wohl vertrauen können. Einige davon seien abschließend genannt:

Die Farbigkeit und der Reichtum in der Darstellung der Person Jesu: Jesus übertreibt: Bildwort vom Kamel und dem Nadelöhr; Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner (Mt 18,23-35); Jesus spottet (Herodes ein »Fuchs«, Lk 13,32) und schimpft gegen Pharisäer und Schriftgelehrte (Mt 23,1-19); er ist nicht nur sanftmütig, sondern vertreibt auch die Händler (vielleicht sogar auch Händlerinnen?) mit Gewalt aus dem Tempel; er hat Mitleid mit den Sündern, aber er sagt auch: »Geh hin und sündige von nun an nicht mehr« (Joh 8,11).

Der Realismus und die Selbstkritik der Jünger: Die Jünger werden nicht als unerschrockene, tapfere Schar, als Elite und edelmütige Stoßtruppe der glorreichen Botschaft Jesu geschildert, sondern sie werden vorgeführt als unverständig und ehrsüchtig (noch im Abendmahlssaal gibt es einen Rangstreit unter den Jüngern, Lk 22,24), als kleinmütig im Glauben und feige (Sturm auf dem See). Bei der Gefangennahme nehmen sie Reißaus; sogar Petrus, der »Fels« (Mt 16,18), verleugnet seinen Meister. Nach der Auferstehung Jesu haben sie Mühe, den Herrn überhaupt zu erkennen (Joh 21,4). Diese Fähigkeit zur Selbstkritik ist nicht nur ein Kriterium für die Glaubwürdigkeit, sondern auch ein Aufruf an die Kirche aller Zeiten, nicht überheblich und selbstzufrieden zu werden.

Die Schilderung der Lebensumstände und der sozialen Bezüge: Die neutestamentlichen Zeugnisse enthalten eine ganze Fülle von Informationen über den Glauben des Volkes, ihre Sorgen und Ängste, über Krankheiten, über Feste und Feiern, über Hierarchien und Konflikte, über ökonomische Probleme und vieles mehr. Etliches hat sich durch Ausgrabungen und außerbiblische Zeugnisse bestätigt. Die Evangelien sind nach wie vor eine Fundgrube nicht nur für den gläubigen Leser, sondern auch für den, der sich für die Zeit und die Welt, in der Jesus lebte, interessiert.

Fazit

Die historische Glaubwürdigkeit des Neuen Testamentes ist besser belegt als alle anderen Texte der Antike - sowohl in der Quantität (Zeitpunkt der Abfassung, Anzahl der Abschriften, Originalfragmente, Abweichung vom Urtext) als auch in der Qualität (innere Kriterien der Texte).

III. Äußere Belege

Die äußere Glaubwürdigkeit nun sucht nach Widersprüchen oder Entsprechungen mit ansonsten gesicherten Erkenntnissen der Archäologie, Geografie, der Naturkunde und den kulturellen Gepflogenheiten und Bräuchen; es wird untersucht, ob der Autor »Insider-Wissen« besaß oder von Dingen Kenntnis hatte, die erst Jahre (oder Jahrhunderte) später bekannt wurden.

Nun - hier ist die Beweislast so erdrückend, dass inzwischen allgemein angenommen wird, dass die Evangelisten (vor allem - sehr überraschend - der Autor des Johannesevangeliums!) entweder selbst Augenzeugen der Ereignisse waren oder in ihre Evangelien Augenzeugenberichte eingebaut haben.

Dazu gibt es eine Fülle von z. T. minderwertiger Literatur nach dem Motto »Und die Bibel hat doch Recht!« - aber das soll nicht darüber hinweg täuschen, dass es zahlreiche archäologische Entdeckungen gibt, die zunehmend die Berichte der Evangelien bestätigen. Viele der neuesten Erkenntnisse findest Du in dem bemerkenswerten Buch »Jesus von Nazareth« von Michael Hesemann.

Erst seit ungefähr 100 Jahren wird im Heiligen Land systematisch moderne Archäologie betrieben; so verwundert es nicht, wenn in den Jahrhunderten zuvor zahlreiche biblische Angaben einfach als »unbestätigt« galten. Für damalige Bibelinterpreten war es ein Leichtes, die Berichte der Evangelien als »historisch irrelevant« abzutun - das ist heute nicht mehr möglich. Interessanterweise findet der überwiegende Teil der Ausgrabung inzwischen unter jüdischer und nicht mehr unter christlicher Leitung statt - und dennoch finden sich weniger Bestätigungen für Ereignisse des Alten Testamentes, sondern eher für die Evangelien (obwohl jüdische Archäologen, wenn sie interessengeleitet suchen würden, sicherlich andere Ergebnisse bevorzugen würden).

So bestätigen sich die geografischen Gegebenheiten, die den Erzählungen in den Evangelien zugrunde liegen (Nazareth liegt an einem Abhang; damals wurden Höhlen bzw. Grotten als Ställe genutzt - so auch in Bethlehem); verblüffend ist auch die Untersuchung der Apostelgeschichte durch Heinz Warnecke (s. u.), in der er die nautischen und meteorologischen Umstände der dortigen Reiseschilderung mit den heutigen Gegebenheiten vergleicht.

Ebenso die profan-historischen Angaben - z. B. über die Volkszählung zur Zeit der Geburt Jesu, die eine zeitlang als unglaubwürdig angesehen wurde, bis in Ankara eine Tafel mit den »Taten des Augustus« - einer Kopie des römischen »Res gestae« - gefunden wurde, die in der Aufzählung der Taten auch Volkszählungen in den Jahren 28 v. Chr., 8 v. Chr. und 14 n. Chr.. erwähnt und die eine Volkszählung im Jahr 7. und 6. v Chr.. in Judäa wahrscheinlich macht (siehe Hesemann »Jesus von Nazareth«, S. 54-58); oder über die Hochzeit des Herodes mit der Frau seines Bruders (bezeugt bei Josephus Flavius) usw.

Weiterhin die Berücksichtigung von Besonderheiten der Flora und Fauna in Israel (so z. B. die Rolle des »Ammenfisches«, der gerne Gegenstände im Maul aufbewahrt und sich im April, zur Zeit der Erhebung der Tempelsteuer, in ufernahen Bereichen des Sees aufhielt).

Zudem stimmen die astronomischen Beobachtungen mit den Angaben in den Evangelien (Stern von Bethlehem) überein, sowohl in der Beobachtung der Planeten-Konjugation als auch einer Super-Nova Anfang März 5 v. Chr.

Darüber hinaus finden sich zahlreiche architektonische und bauliche Entsprechungen, die Ausgrabungen sowohl am Haus des Petrus in Kafarnaum, als auch in Kana, Jerusalem, Nazareth usw. zutage treten ließen bzw. heute noch sichtbar sind (so die Einpassung des Hauses von Loreto in die Felsrückwand in Nazareth; der Eckstein in der Jerusalemer Stadtmauer, die Entdeckung der Synagoge in Kafarnaum und der Bethesda-Teiche in Jerusalem inklusive der Säulenhallen und der unterirdischen Röhren, die ein »Aufwallen des Wassers« ermöglichten).

Schließlich wissen die Evangelisten über die kulturellen und religiösen Gepflogenheiten der Juden in einer solchen Präzision Bescheid, dass eine Abfassung erst in späterer Zeit unwahrscheinlich ist. Das gilt vor allem für Termine, Vorschriften und Riten, die an die Existenz des Tempels in Jerusalem gebunden waren und mit dessen Zerstörung 70 n. Chr. zunehmend in Vergessenheit gerieten; aber auch bzgl. der Hochzeitsbräuche, der Weinbergkultur, der bäuerlichen Traditionen und der Finanzsysteme.

Zudem gibt es noch einige weitere archäologische Funde, die als außergewöhnlich bezeichnet werden können:

zum Beispiel den Titulus (die Tafel, die am Kreuz Jesu angebracht war);

die Kreuzpartikel (es gibt Gerüchte, dass es so viele davon gäbe, dass daraus zusammengesetzt ein ganzer Wald von Kreuzen entstünde. Aber tatsächlich wurden alle angeblichen Kreuzpartikel vermessen und überprüft und würden zusammengesetzt gerade einmal die Hälfte des Querbalkens ergeben);

des weiteren ein Graffiti, das sich über die Verehrung, die die Christen einem Gekreuzigten entgegenbringen, lustig macht (»Alexamenos betet seinen Gott an«, zusammen mit der Darstellung eines gekreuzigten Esels);

die Entdeckung eines Ossariums mit einem Fußknochen, in dem noch ein Nagel steckte, der bei der Kreuzigung verwandt wurde;

der Fund einer Münze, die von Pontius Pilatus geprägt wurde und seinen Namenszug aufweist;

der Fund des sog. Pilatus-Steins in Caesarea Maritima 1961, der ebenfalls Pontius Pilatus erwähnt (als Bauherr eines Leuchtturms der Hafenstadt);

die Auffindung von steinernen Krügen in »Chirbet Kana« - zwar nur zwei, aber in der Größe mit dem biblischen Bericht übereinstimmend; zudem gib es Aussparungen für vier weitere Krüge - so wie in Joh 2, 1-9 berichtet;

die Untersuchungen im »Heiligen Haus von Nazareth«, das sich in Loreto (Italien) befindet und archäologisch und mineralogisch perfekt an die bezeichnete Stelle in Nazareth passt;

nicht ganz unumstritten, aber dennoch voller verblüffender Details ist das Grabtuch von Turin, das zwar viele Fragen aufwirft und dessen Echtheit immer noch diskutiert wird - umgekehrt aber auch viele Übereinstimmungen mit der Kreuzigungs-Wirklichkeit aufweist.

Neben den guten Werken von Michael Hesemann möchte ich vor allem das verblüffende Werk von Heinz Warnecke erwähnen (das, obwohl er selbst nicht studiert hat, als Promotion angenommen wurde), einem Hobby-Segler und gutem Kenner des Mittelmeeres, der beim Lesen der Apostelgeschichte (in der u. a. die Reisen des Apostels Paulus quer über das Mittelmeer erwähnt werden) deren verblüffende Übereinstimmung mit den tatsächlichen Gegebenheiten im Mittelmeer auffiel und daraufhin ein Buch verfasste: Heinz Warnecke - »Die tatsächliche Romfahrt des Apostels Paulus«, Stuttgart 1986 (Stuttgarter Bibelstudien Nr. 127).

Was beweist diese Auflistung von Übereinstimmungen? Nun, zunächst nicht viel. Für Historiker gibt es einen logisch-zwingenden Aufweis von Glaubwürdigkeit nicht. Aber wenn auf der einen Seite die Angaben eines Textes in jedweder Hinsicht die Glaubwürdigkeitskriterien der Geschichtswissenschaften erfüllen, es auf der anderen Seite aber keine archäologischen, geografischen und kulturellen Entdeckungen gibt, die Ereignissen oder Darstellungen der Evangelisten zuwiderlaufen, dann spricht auch der Historiker vom »Erweis« der Echtheit eines Textes.

Fazit

Vielleicht liegt es daran, dass oft von der historischen Glaubwürdigkeit »Der Bibel« insgesamt gesprochen wird - und dabei dann nicht zwischen dem Alten Testament und den Evangelien unterschieden wird. Da Jesus und Moses gleichermaßen biblische Personen sind, wird oft auch der Bericht über einen Kamm geschoren und als märchenhaft-legendär bezeichnet. Ein genauerer und vor allem wissenschaftlicherer Blick lässt aber weder an der Existenz Jesu einen Zweifel - noch an der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit der Evangelien. Das Gegenteil ist richtig: Über keine andere Person der Antike haben wir so viele und so zuverlässige Informationen wie über Jesus von Nazareth.