Die Herdmann-Kinder waren die schlimmsten Kinder aller Zeiten. Sie logen und klauten, rauchten Zigarren (sogar die Mädchen) und
erzählten schmutzige Witze...
Ralf, Eugenia, Leopold, Klaus, Olli und Hedwig - sechs magere, dünnhaarige Kinder, die sich nur dadurch voneinander unterschieden,
dass sie verschieden groß waren und an verschiedenen Stellen blaue Flecke aufwiesen, die sie sich gegenseitig beigebracht
hatten.
Sie wohnten über einer Garage im Westend. Die Garage wurde nicht mehr benutzt, nur die Herdmanns benutzten sie dazu, die
Tür, so schnell sie konnten, auf und zu zu donnern, wobei sie versuchten, sich gegenseitig einzuquetschen. Das war das, was sie
unter Spielen verstanden. Wo andere Leute Rasen in ihrem Vorgarten hatten, lagen bei den Herdmanns Felsbrocken, und wo andere Leute
Hortensienbüsche pflanzten, züchteten die Herdmanns Tollkirschen.
Es gab auch ein Schild im Hof mit der Aufschrift: Vorsicht, bissige Katze!" Kinder, die neu in der Gegend waren, lachten nur
so lange über das Schild, bis sie die Katze zu Gesicht bekamen. Ich habe noch nie ein Tier gesehen, das so bösartig aussah.
Die Katze hatte ein kurzes Bein, einen gebrochenen Schwanz und nur ein Auge. Sie war der Grund, warum der Briefträger sich
weigerte, den Herdmanns Post zu bringen...
Anfang Dezember wurde, wie jedes Jahr, mit den Kindern der Sonntagsschule (Kindergottesdienst in den USA) das Krippenspiel für
den Weihnachtsgottesdienst vorbereitet. Zum ersten Mal waren die Herdmanns dabei, weil der kleine Charlie ihnen erzählt hatte, da
gäbe es Süßigkeiten umsonst. Charlies Mutter war die Leiterin, sie übte das Spiel mit den Kindern ein. Und
Charlies große Schwester erzählt, was dabei alles passierte:
Zuerst wurden die Rollen verteilt. Zum Entsetzen aller meldete sich Eugenia
Herdamnn als Maria - und niemand wagte zu widersprechen, denn für diesen
Fall hatte Eugenia heimlich, aber unmissverständlich schreckliche Strafen
angedroht. Ich will die Maria sein", sagte Eugenia, und dann schaute
sie über ihre Schulter nach hinten.
Und Ralf möchte der Josef sein."
Jawoll", sagte Ralf.
Mutter starrte sie nur an. Es war wie in einem Kriminalfilm, wo die nette, kleine, alte, grauhaarige Dame einen doppelläufigen
Revolver aus dem Handtäschchen zieht, zum Bankbeamten sagt: Rück den Zaster raus, aber dalli!" und man dasitzt und
es einfach nicht glauben kann. Mutter konnte das hier nicht glauben...
Auch für die Weisen aus dem Morgenland meldete sich niemand außer Leopold, Klaus und Olli Herdmann. Da stand also meine
Mutter und hatte ein Krippenspiel am Hals mit lauter Herdmanns in den Hauptrollen. Eine Herdmann und eine Hauptrolle waren noch
übrig geblieben, und es bedurfte keiner besonderen Klugheit, sich auszurechnen, dass Hedwig den Verkündigungsengel spielen
würde... Normalerweise machte die erste Probe nicht mehr und nicht weniger Spaß als eine dreistündige Fahrt im Schulbus
und war mit eben soviel Lärm und Gedränge verbunden. Diese Probe lief anders. Alle waren ruhig und setzten sich gleich hin,
weil sie Angst hatten, es könnte ihnen sonst vielleicht entgehen, was die Herdmanns Schreckliches anstellen würden.
Sie kamen zehn Minuten zu spät und schlenderten in den Raum wie eine Bande Geächteter, die vorhat, einen Saloon
leerzuschießen. Als Leopold an Charlie vorbeikam, drehte er ihm das Ohr um, und eine Erstklässlerin schrie auf, als Hedwig
an ihr vorbeiging. Aber Mutter hatte gesagt, sie werde alles durchgehen lassen, solange kein Blut floss. Und da weder die
Erstklässlerin noch Charlie bluteten, geschah nichts. Mutter sagte: Hier kommt Familie Herdmann. Wir freuen uns, euch alle
hier zu sehen." (Das war sicher die dickste Lüge, die je in einer Kirche laut ausgesprochen wurde.)
Eugenia lächelte - das Herdmänner-Lächeln, wie wir es nannten, dreckig und gemein -, und dann saßen sie da, fast
wie Kriminelle in unseren Augen, und sie sollten nun das Edelste und Schönste darstellen, das es gab. Kein Wunder, dass alle
aufgeregt waren.
Mutter fing an, die Kinder in Hirten und Engel und Herbergsgäste einzuteilen, und schon gab es die ersten Schwierigkeiten.
Wer waren denn die Hirten?" wollte Leopold Herdmann wissen. Wo kamen die her?"
Olli Herdmann wusste nicht einmal, was Hirten sind.
Was ist eigentlich eine Herberge?" fragte Klaus.
So was ähnliches wie ein Hotel", erklärte ihm jemand. Wo Leute übernachten können."
Was für Leute?" fragte Klaus. Jesus?"
Nicht zu fassen!" murmelte Alice Wendlaken...
Die Sache war eben die, dass die Herdmanns nicht das geringste von der Weihnachtsgeschichte wussten...
Und Mutter sagte, es sei wohl das beste, zuerst einmal die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorzulesen. Das waren langweilige
Aussichten, denn die meisten von uns kannten die ganze Geschichte vorwärts und rückwärts. Sonst wurde uns immer nur
gesagt, wer wir waren und wo wir zu stehen hatte. ... Da machte sich auch Josef auf, dass er sich schätzen ließe, mit
Maria, seinem vertrauten Weibe, die gesegneten Leibes war..."
Schwanger", rief Ralf Herdmann.
Das verursachte ziemliche Unruhe. Die größeren Kinder begannen zu kichern, und die kleineren wollten wissen, was denn so
komisch war. Mutter musste mit einem Zeigestock auf den Boden klopfen. Genug, Ralf!" sagte sie und las weiter vor...
Was ist das?" fragten die Herdmanns immer, wenn sie einen Ausdruck nicht verstanden. Als Mutter vorlas, dass kein Platz in
der Herberge war, fiel Eugenia die Kinnlade herunter, und sie sprang auf.
Verdammt!" sagte sie. Nicht mal für Jesus?"...
Na ja, also..." erklärte Mutter. Niemand wusste, das das Baby Jesus sein würde."
Sie haben gesagt, Maria wusste es", sagte Ralf. Warum hat sie es denen nicht gesagt?"
Ich hätt´s ihnen gesagt", rief Eugenia dazwischen. Mann, denen hätt´ ich´s vielleicht
gesagt!" Was war denn mit Josef los, warum hat der´s nicht gesagt? Dass sie schwanger war und das alles."
Wie hieß es, wo sie das Baby reingelegt haben?" fragte Leopold.
Diese Krippe... Ist das so ´ne Art Bett? Warum hatten die denn
kein Bett im Stall?"
Das ist es ja gerade", sagte Mutter. Sie hatten eben kein Bett im Stall. Also mussten Maria und Josef das nehmen, was
sie dort vorfanden. Was würdest du denn tun, wenn du ein kleines Baby hättest und kein Bett, um es hineinzulegen?"
Wir haben Hedwig in eine Schreibtischschublade gelegt", erklärte Eugenia
Siehst du", sagte Mutter und zuckte ein bisschen zusammen. Ihr habt kein Bett für Hedwig gehabt und habt deswegen
auch etwas anderes nehmen müssen."
Och, wir hatten schon eins", sagte Ralf. Aber Olli war noch drin und wollte nicht raus. Er mochte Hedwig nicht."
Er puffte Olli in die Seite.
Erinnerst du dich, dass du Hedwig nicht leiden konntest?"...
Wie dem auch sei", sagte Mutter, Maria und Josef nahmen die Krippe. Eine Krippe ist ein hölzerner Futtertrog
für Tiere."
Was waren denn die Bindeln?" wollte Klaus wissen.
Die was?" fragte Mutter.
Sie haben es doch vorgelesen: Sie wickelten ihn in Bindeln."
Windeln", seufzte Mutter. Früher hat man die Babys fest in große Tücher gewickelt, so dass sie nicht
herumstrampeln konnten. Die Babys fühlten sich dabei behaglich und geborgen."
Ich meinte, dass es die Babys eher verrückt gemacht hat. Bis dahin hatte ich auch nicht gewusst, was Windeln sind. Deshalb war ich
gar nicht besonders überrascht, das Eugenia sich darüber aufregte.
Sie meinen, sie banden es zusammen und steckten es in eine Futterkiste?" sagte sie. Wo blieb denn da die
Jugendfürsorge?"
Die Jugendfürsorge kümmerte sich immer um die Herdmanns. Ich wette, wenn die von der Jugendfürsorge jemals Hedwig
zusammengebunden in einer Schreibtischschublade gefunden hätten, so hätten sie bestimmt etwas dagegen unternommen!
Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen", fuhr Mutter fort, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie,
und..."
Batman!" schrie Hedwig, warf die Arme auseinander und ohrfeigte dabei das Kind neben ihr.
Wie bitte?" fragte Mutter. Mutter las nie Comic-Hefte.
Aus dem Dunkel der Nacht erschien Batman, der Rächer der Entrechteten..."
Ich weiß nicht, wovon du sprichst Hedwig", sagte Mutter. Das ist der Engel des Herrn, der zu den Hirten auf dem
Feld kommt."
Aus dem Nichts?" fragte Hedwig. Aus dem geheimnisvollen Dunkel der Nacht, ja?"
Na ja." Mutter sah etwas unglücklich aus. Gewissermaßen."
Hedwig setzte sich wieder hin und sah sehr zufrieden aus. So, als ob das endlich ein Teil der Weihnachtsgeschichte wäre, den sie
verstand.
Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande", las Mutter weiter, kamen die Weisen vom Morgenlande gen
Jerusalem und sprachen..."
Das bist du, Leopold", sagte Ralf. Und Klaus und Olli. Passt gefälligst auf!"
Was bedeutet Weisen?" wollte Olli wissen. Waren sie so etwas wie Lehrer?"
Nein, du Quatschkopf", sagte Klaus. Das ist so was ähnliches wie der Präsident der Vereinigten
Staaten."
Mutter sah ihn überrascht und beinahe beglückt an, so wie sie geschaut hatte, als Charlie endlich das Einmaleins mit
fünf auswendig konnte.
Du bist schon ganz nahe dran, Klaus", sagte sie. Tatsächlich waren es Könige."
Jetzt aber weiter", meuterte Eugenia. Wahrscheinlich werden die Könige dem Wirt gründlich die Meinung sagen
und das Kind aus dem Trog holen."
Sie fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und
schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe."
Was ist das für ein Zeug?" wollte Leopold wissen.
Kostbare Öle", sagte Mutter, und wohlriechende Harze."
Öl!" schrie Eugenia. Was für ein schäbiger König bringt denn Öl als Geschenk mit" Da
kriegt man ja bei der Feuerwehr bessere Geschenke..."
Ich konnte die Herdmanns nicht verstehen. Man hätte denken können die Weihnachtsgeschichte käme direkt aus den
Polizeiakten des FBI, so gingen sie mit. Sie wünschten dem Herodes ein blutiges Ende, sorgten sich um Maria, die ihr Baby in einen
Futtertrog legen musste, und nannten die Heiligen Drei Könige eine Bande schmutziger Spione. Und als sie die erste Probe
verließen, diskutierten sie darüber, ob Josef die Herberge hätte anzünden oder ob er nun den Gastwirt über
die Grenze hätte jagen sollen...
Da keiner von den Herdmanns jemals zur Kirche oder zur Sonntagsschule gegangen
war und keiner die Bibel oder etwas ähnliches gelesen hatte, hatten sie
natürlich keine Ahnung, was man von ihnen erwartete. Eugenia, zum Beispiel,
wusste nicht, dass die Maria immer in einer bestimmten Weise dargestellt wurde:
Ruhig und mild und nicht ganz von dieser Welt. In der Art, wie Eugenia sie
spielte, hatte Maria eher Ähnlichkeiten mit Signora Santoro aus der Pizza-Stube.
Signora Santoro ist eine große, dicke Frau mit einem kleinen, mageren
Mann und neun Kindern. Sie schreit laut und temperamentvoll, umarmt ihre Kinder
und schleppt sie mit sich herum. So ungefähr war Eugenias Maria - laut
und herrisch.
Geh vom Baby weg!" schrie sie Ralf an, der den Josef spielte. Und sie ließ die Heiligen Drei Könige nicht zu nahe
kommen.
Die Heiligen Drei Könige wollen dem Christkind huldigen", erklärte Mutter zum zehnten Mal. Sie wollen ihm
nichts tun, Gott behüte!"
Aber die Könige wussten auch nicht, was sie eigentlich tun sollten, und keiner nahm es Eugenia übel, dass sie sie
wegschubste. Bei diesen drei Königen hatte man das Gefühl, dass sie auf schnellstem Weg zu Herodes zurückkehren
würden, um das Baby zu verraten, aus lauter Bosheit...
Vier Wochen dauerte die Probe. Dann kam der Heilige Abend mit dem Krippenspiel in der vollbesetzten Kirche.
... Wir sangen als Engelchor zwei Verse von Zu Bethlehem im Stalle", und dann sollten wir das Lied noch ein bisschen
weitersummen, während Maria und Josef durch die Seitentür hereinkamen. Nur, sie kamen nicht. Also summten wir und summten und
summten, was sehr langweilig und schwierig ist, und nach kurzer Zeit klang es nicht mehr wie ein Lied, sondern eher wie ein alter
Kühlschrank.
Ich wusste ja, dass so was passieren würde!", flüsterte
mir Alice Wendlake zu. Sie kommen überhaupt nicht. Wir werden weder
Maria noch Josef haben. Was sollen wir denn jetzt tun?"
Ich schätze, wir hätten weitergesummt, bis wir schwarz geworden
wären, aber es kam nicht so weit. Ralf und Eugenia traten auf, sie waren
nur erst nicht durch die Tür gekommen, weil sie sich gegenseitig aus
dem Weg schubsten. Eine Minute lang standen sie einfach da, als ob sie nicht
sicher seien, dass sie am richtigen Ort waren. Das lag vielleicht an den Kerzen
und den vielen Menschen in der Kirche. Sie sahen aus wie die Leute, die man
manchmal in der Tagesschau sieht: Flüchtlinge, die irgendwo an einem
fremden, kalten Ort wartend herumstehen, umgeben von Pappkartons und Säcken.
Plötzlich wurde mir klar, dass es der echten Heiligen Familie genauso
ergangen sein muss, einquartiert in einem Stall, von Leuten, denen es egal
war, was mit ihnen geschah. Sie konnten gar nicht besonders gepflegt und sauber
ausgesehen haben. Sicher hatten sie eher so ausgesehen wie diese Maria und
dieser Josef. (Eugenias Schleiher hing schief wie gewöhnlich, und Ralfs
Haar stand zu allen Seiten ab.) Eugenia hatte die Babypuppe bei sich, aber
sie wiegte sie nicht in den Armen, wie man es gewohnt war. Sie hatte sie über
die Schulter gelegt, und bevor sie sie in die Krippe legte, klopfte sie ihr
zweimal auf den Rücken.
Ich hörte Alice tief Luft holen. Sie puffte mich und flüsterte: Ich finde es nicht sehr schön, den kleinen Jesus
so zu klopfen, als ob er Bauchweh hätte." Sie knuffte mich noch einmal. Kannst du dir vorstellen, dass er Bauchweh
hatte?"
Ich sagte: Warum denn nicht." Und ich konnte es mir wirklich vorstellen.
Er konnte Bauchweh haben oder unruhig sein oder hungrig, genau wie jedes andere
Baby auch. Das war es ja gerade: Dass Jesus nicht auf einer Wolke heruntergekommen
war wie eine Märchenfigur, sondern dass er richtig geboren wurde und
als Mensch lebte.
Mittlerweile mussten wir singen Kommt ihr Hirten". Wir sangen sehr
laut, weil es mehr Hirten gab als irgendetwas anderes und sie so viel Lärm
machten mit ihren Hirtenstäben, mit denen sie herumfuhrwerkten wie mit
Hockeyschlägern. Als nächstes kam Hedwig hinter dem Engelchor hervor.
Sie schubste die anderen aus dem Weg oder trat ihnen auf die Füße.
Da Hedwig die einzige war, die in dem Krippenspiel etwas zu sagen hatte, nutzte
sie das auch aus. He! Euch ist ein Kind geboren!" schrie sie, und
es klang wirklich wie die beste Botschaft der Welt. Alle Hirten zitterten
und fürchteten sich - vor Hedwig natürlich, aber jedenfalls wirkte
es gut.
Dann kamen drei Lieder über Engel. Es dauerte sehr lange, bis die Engel auftraten, weil sie von den Erstklässlern gespielt
wurden, die aufgeregt waren, weinten, vergessen hatte, wo sie hingehen sollten, mit ihren Flügeln in der Tür hängen
blieben und all solche Sachen.
Danach hatten wir ein bisschen Ruhe, während die Jungs sangen Wir sind die Drei Könige..." und die Zuschauer sich
umdrehten, um den Auftritt der Heiligen Drei Könige durch den Mittelgang nicht zu verpassen.
Was haben die denn da?" flüsterte Alice.
Ich wusste es nicht. Aber was es auch war, es war jedenfalls schwer. Leopold ließ es fast fallen. Dafür hatte er das
Gefäß mit Weihrauch nicht dabei, und Klaus und Olli hatten gar nichts in der Hand, obwohl sie Gold und Myrrhe mitbringen
sollten.
Ich wusste ja, dass sowas passieren würde", sagte Alice wieder. Ich wette, es ist was ganz Schlimmes."
Was denn zum Beispiel?"
Zum Beispiel ein Brandopfer. Du kennst doch die Herdmanns."
Gut, sie zündeten manchmal Sachen an. Aber das hier war nichts zum Anzünden:
Es war ein Schinken. Ich wusste sofort, wo er herkam. Mein Vater war im Kirchenwohltätigkeitsverein,
und der verschenkte zu Weihnachten Essenskörbe. Und dieser Schinken hier
stammt aus dem Herdmannschen Korb, es war sogar noch das Band daran mit der
Aufschrift Frohe Weihnachten"...
Während wir sagen Gold und Weihrauch bringen wir", sollten sich die Heiligen Drei Könige miteinander unterhalten
und dann jeder zu einer anderen Tür hinausgehen, damit klar würde, dass jeder einen anderen Weg nach Hause nahm. Aber die
Herdmanns hatten das entweder vergessen oder sie wollten nicht, jedenfalls unterhielten sie sich nicht und gingen auch nicht. Sie
saßen einfach da, und niemand konnte etwas dagegen unternehmen.
Sie verderben alles", flüsterte Alice.
Aber sie taten es ganz und gar nicht. Es war wirklich viel sinnvoller, dass sich die Heiligen Drei Könige hinsetzten und
ausruhten. Das sagte ich ihr. Sie haben einen weiten Weg hinter sich. Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie ankommen, den
Schinken abliefern und sofort wieder verschwinden."
Ich fand, das die Herdmanns nichts verdarben, sondern im Gegenteil das Krippenspiel um vieles verbessert hatten, indem sie einfach das
taten, was ihnen logisch erschien. Zum Beispiel, dass sie das Baby auf den Rücken klopften und einen Schinken für ein
besseres Geschenk hielten als eine ganze Menge parfümierter Öle. Gewöhnlich hatte ich, bis wir zu Stille Nacht,
heilige Nacht" kamen (das war immer das letzte Lied), so genug von der ganzen Sache, dass ich das Ende kaum abwarten konnte. Aber
diesmal war es anders. Ich wünschte fast, das Krippenspiel ginge weiter, nur um zu sehen, was die Herdmanns noch alles anders
machen würden.
Vielleicht würden die Heiligen Drei Könige Maria von der Geschichte mit Herodes erzählen, und sie würden ihnen
raten, dass sie zurückgehen und ihm das Blaue vom Himmel herunterlügen sollten. Oder Josef würde mit ihnen
zurückgehen und ein für allemal Schluss mit Herodes machen. Oder Josef und Maria würden den Heiligen Drei Königen
das Christkind mitgeben, weil sie dachten, dass niemand auf die Idee käme, es bei ihnen zu suchen.
Ich war so damit beschäftigt, mir immer neue Möglichkeiten auszudenken, wie man das Baby Jesus retten konnte, dass ich den
Anfang von Stille Nacht, heilige Nacht" verpasste. Aber es war weiter nicht schlimm, weil alle mitsangen, auch die
Zuschauer. Wir sangen alle Strophen, und als wir zur Stelle kamen Gottes Sohn, oh, wie lacht...", schaute ich zufällig
zu Eugenia hinüber. Fast hätte ich mein Gesangbuch auf einen kleinen Engel fallen lassen.
Jeder hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass die Herdmanns etwas absolut Unerwartetes tun würden. Und nun war es geschehen.
Eugenia Herdmann weinte.
Im Kerzenlicht glänzte ihr ganzes Gesicht vor Tränen, und sie machte nicht einmal den Versuch, sie wegzuwischen. Sie
saß nur da - die schlimme, schreckliche Eugenia - und weinte und weinte und weinte.
Es war wirklich das beste Krippenspiel, das jemals bei uns aufgeführt wurde. Das sagte hinterher jeder, aber niemand schien zu
wissen, warum es so war. Nach dem Spiel standen die Leute auf dem Vorplatz der Kirche und unterhielten sich darüber, was dieses
Jahr anders gewesen sei. Jeder sagte, es sei etwas Besonderes dabei gewesen, aber keiner konnte es beschreiben...
Was aber mich betrifft, so wird Maria immer etwas von Eugenia Herdmann haben, ein bisschen unruhig und verwirrt, aber bereit, jeden zu
verprügeln, der ihrem Baby zu nahe treten will. Und die Heiligen Drei Könige werden für mich Leopold und seine
Brüder sein, mit einem Schinken in der Hand.
Als wir an diesem Abend aus der Kirche kamen, war es kalt und klar. Der Schnee
knirschte unter unseren Füßen, und die Sterne leuchteten hell,
sehr hell. Und ich dachte an den Verkündigungsengel, an Hedwig mit ihren
dünnen Beinen und ihren schmutzigen Stiefeln, die unter ihrem Kostüm
hervorschauten, an Hedwig, die uns allen zurief: He, euch ist ein Kind
geboren!"