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Grundkurs des Glaubens - Glauben als Antwort auf die Offenbarung

Bislang haben wir vornehmlich über die Frage der Philosophie bzw. der Fundamentaltheologie gesprochen, die nach der Existenz Gottes fragt. Vor allem bei den Gottesbeweisen ist zu bedenken, dass damit noch nicht die Frage nach Gott im christlichen Sinne beantwortet ist. Höchstens in der Theodizee-Frage spielt das So-Sein Gottes eine Rolle. Die Antwort, zu der beispielsweise Thomas von Aquin mit seinen »Wegen der Gotteserkenntnis« kommt, ist philosophisch gut fundiert. Sie führt aber allerhöchstens zu einem »unbewegten Beweger«, einer »unverursachten Ursache«, einem »vollkommenen Maßstab« oder einem »innewohnenden Ziel«.

Thomas gibt selbst zu, dass das nur die Frage nach der Existenz einer Wesenheit ist, die wir »Gott« nennen - und diese ziemlich blutleer und hohl bleibt. Die Frage, wie diese Wesenheit beschaffen ist, ist eine neue Frage. Thomas sieht das selbst und hat eben nur einen ersten Schritt getan. Nun wollen wir den zweiten Schritt tun und nach dem fragen, was wir von Gott wissen können. Diese Frage wiederum können wir nur beantworten, indem wir zunächst klären, wie wir überhaupt zu Erkenntnissen über Gott kommen können.

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1. Abend zur Theologie: Glauben als Antwort auf die Offenbarung

I. Glauben in seiner religiösen Ausprägung
1. Vom Glauben zur Religion (Naturreligionen)
a. Der Glaube - Grund der Religion
b. Die Gemeinschaft - Träger der Religion
c. Die Institution - Ordnung in der Religion
2. Von der Offenbarung zur Religion (Offenbarungsreligionen)
a. Persönliche Glaubensentscheidung und Offenbarung
b. Persönliche Glaubensentscheidung und die Gemeinschaft der Kirche
c. Persönliche Glaubensentscheidung und die Institution der Kirche
d. Unterscheidung, nicht Trennung der Ebenen
3. Glauben als Antwort auf eine Offenbarung
a. Natürliche Offenbarung
b. Übernatürliche Offenbarung
c. Das katholische Offenbarungsverständnis

II. Fünf Thesen zur historischen Dimension des Glaubens

III. Offenbarung, Bibel und Tradition
1. Der Unterschied zwischen Tradition und Traditionen
2. Die Bibel
a. Die Kanonbildung des Alten Testamentes
b. Die Kanonbildung des Neuen Testamentes
c. Die Bibel ist kein Lehrbuch
3. Das Verhältnis von Tradition und Schrift
a. Die Tradition als hermeneutischer Schlüssel zur Bibel
b. Sola scriptura
c. Der Geist und die Kirche

I. Glauben in seiner religiösen Ausprägung

Wenn wir die Möglichkeit einer Offenbarung vorläufig außer Acht lassen, dann könnte sich aus einer persönlichen Glaubensüberzegung ungefähr wie folgt eine Religion entwickeln:

1. Vom Glauben zur Religion (Naturreligionen)

a. Der Glaube: Grund der Religion. — Der Glaube ist eine persönliche Entscheidung - eine Entscheidung, die mir durch keine andere Person, Institution oder Einrichtung abgenommen werden kann. Im Glauben mache ich mein Leben fest; das Objekt meines Glaubens bildet die Grundlage für mein Verhalten, meine Entscheidungen und meine Lebensziele.

Das Objekt meines Glaubens kann Gott sein oder ein anderes höheres Wesen (»Satanismus«); es kann sich um eine Philosophie handeln (»Nihilismus«, »Materialismus«); mein Glaube kann sich auch auf eine politische Theorie beziehen (»Sozialismus«, »Nationalsozialismus«); ich kann an eine Idee glauben (»Das Gute im Menschen«; »Ich glaube an die Liebe«; »Ich glaube an die Einheit der Menschen«); ebenso kann sich mein Glaube auf eine Popgruppe, einen Fußballverein oder Königshäuser richten - oder auf materielle Dinge (»Die Macht des Geldes«; ich bin glücklich, wenn ich »diese tolle Yacht« besitze).

Sobald ich meinen Glauben äußere, kann man schon von Religion sprechen: Ich zeige meinen Glauben, ich wähle aus verschiedenen Optionen die aus, die meinem Glauben entsprechen. Jemand, der für ein Spiel des eigenen Vereins sogar seine Familie vernachlässigt, sagt man nach, er »habe seinen Verein zu seiner Religion gemacht». Äußerung müssen also nicht nur verbal sein, sie können auch in Zeichen und Handlungen bestehen.

b. Die Gemeinschaft: Träger der Religion. — Nun sucht der, der von seinem Glauben überzeugt ist, sehr oft Gleichgesinnte. Viele Glaubensüberzeugungen sind sogar davon abhängig, eine Gemeinschaft zu finden - so lebt der Fan der Popkultur von Gemeinschaftserlebnissen, und der politische Mensch braucht Mitarbeiter bei der Umsetzung seiner Politik. Sobald sich eine Gruppe zusammengefunden hat, die ihren Glauben gemeinsam abspricht und definiert, hat der persönliche Glaube eine neue Stufe erreicht: Im gemeinschaftlich gelebten Glauben findet sich nicht nur ein Ausdrucksmedium, sondern auch ein Korrektiv. Durch eine Gemeinschaft wird auch mein persönlicher Glaube in neue Bahnen gelenkt. Eine Gemeinschaft kann meinen persönlichen Glauben nicht nur korrigieren und erweitern, stabilisieren und über Krisen hinweg helfen; sie kann ihn auch belasten oder in Frage stellen. Nicht zuletzt kann eine Gemeinschaft auch für Nichtglaubende attraktiv sein, so dass vielleicht der persönliche Glaube erst im Nachhinein reift.

c. Die Institution: Ordnung in der Religion. — Jede Gemeinschaft braucht eine Ordnung. Sogar kleinste Gruppen haben ihre eigene Dynamik durch Leiter und Vordenker, Mitläufer und Bedächtige. Eine größere Gruppe braucht eine Verwaltung, eine Entscheidungs-Instanz, einen Vorstand oder Präsidenten usw. Dadurch werden Glaubensstreitigkeiten genauso beigelegt wie Fragen der Ordnung, der Teilnahme an Veranstaltungen, der Anforderungen an die eigenen Mitglieder. Die Institution kann demokratisch legitimiert sein oder hat sich selbst ernannt.

Die drei Schritte vom Glauben zur Religion und zur Institution werden normalerweise nacheinander vollzogen. Jeder weitere Schritt ist von den vorangegangenen abhängig. Die drei Schritte sind wie drei Schichten, die auf einander aufbauen. Fehlt der Boden, so wird die obere Ebene inhaltsleer und hängt in der Luft. Ein Glaubender kann jedoch jederzeit der Gemeinschaft aufkündigen und seinem Glauben trotzdem (oder vielleicht nur so) treu bleiben.:

Fazit

Eine rein natürliche Entstehung von Religion vollzieht sich nur innerhalb der Welt. So sehen viele Kritiker auch die Entstehung der christlichen Religion und der Kirche.

2. Von der Offenbarung zur Religion (Offenbarungsreligionen)

a. Persönliche Glaubensentscheidung und Offenbarung. — Die Theorie von der Unabhängigkeit der drei Glaubens-Schritte (»persönlicher Glaube - Gemeinschaft der Glaubenden - Institution der Kirche«) setzt voraus, dass der Glaubende zunächst mit sich selbst und seiner Auseinandersetzung mit seiner Lebenswirklichkeit einen Glauben findet - unabhängig von einer Gemeinschaft und einer Institution. Sobald es jedoch eine übernatürliche Offenbarung gibt, sind diese drei Ebenen nicht mehr von einander zu lösen: Der Offenbarer gibt seine Glaubensinhalte an eine Gemeinschaft weiter, meist nicht nur durch Worte und Schriften, auch durch Lebenspraxis und Glaubenshaltung. Wer nicht zuerst (noch vor seinem Glauben) einen Zugang zu dieser Gemeinschaft findet und von der Institution zugelassen wird, erhält wenig Gelegenheit, die Offenbarung kennenzulernen. Dies gilt insbesondere für das katholischen Offenbarungsverständnis. Denn die Offenbarung wird durch die Gemeinschaft überhaupt erst zugänglich (die Offenbarung ist nicht nur in der Bibel erhalten, sondern im Leben der Kirche!) und durch die Institution bewahrt und vor Irrtümern geschützt.

b. Persönliche Glaubensentscheidung und die Gemeinschaft der Kirche. — Eine persönliche Glaubensentscheidung heißt, dem Offenbartem zuzustimmen. Nun spricht die katholische Kirche aber davon, dass Jesus nicht nur Glaubenswahrheiten geoffenbart hat, sondern dass es sich vor allem um eine Selbstoffenbarung Gottes handelt; d.h. Gott hat in Jesus Christus gezeigt, wie und wer er selbst ist - und was der Mensch sein kann: Ein Kind Gottes. Eine Zustimmung zur Offenbarung ist also eine Zustimmung zur Person Gottes, so wie sie sich in Jesus Christus gezeigt hat; und eine Einübung in die Lebenspraxis der Kinder Gottes. Wir können aber über diese Offenbarung nichts wissen, gäbe es nicht die Gemeinschaft der Kirche, die in ihrem Leben bezeugt, wer dieser Gott ist. Wir können nicht die Lebenspraxis der Kinder Gottes kennen lernen, ohne das Vorbild der Gemeinschaft. Genau das hat Jesus gewollt: »Wer Euch hört, der hört mich; wer mich hört, der hört den, der mich gesandt hat« (Lk 10, 16) - also Gott. Die Gemeinschaft der Beauftragten ist der Träger der Offenbarung. Gäbe es keine Kirche und keine Gemeinschaft der Glaubenden, wäre eine Glaubensentscheidung für Christus nicht mehr möglich.

c. Persönliche Glaubensentscheidung und die Institution der Kirche. — Eine persönliche Glaubensentscheidung zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist zugleich zuinnerst mit der Kirche verwoben, welche auch aber keineswegs nur Institution ist. Denn die Institution ist nicht nur Finanzverwaltung und Organisatorin, sondern auch Bewahrer und Verteidiger der Offenbarung. So ist z. B. die Festlegung, welche Schriften der Bibel zugezählt werden sollen, eine Entscheidung der Institution gewesen - aufgrund der Praxis der Glaubensgemeinschaft. Eine Ablehnung der Institution würde die Kenntlichmachung der Offenbarung rückgängig machen - die Botschaft Jesu wäre nicht mehr erkennbar. Eine Glaubensentscheidung für Christus wäre nicht mehr möglich. Die Institution ist nicht erst nachträglich entstanden, sondern von Jesus gewollt: »Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.« (Mt 18, 18). Er hat eine Hierarchie eingesetzt (Erschaffung der Apostel).

d. Unterscheidung, nicht Trennung der Ebenen. — Auch, wenn die persönliche Glaubensentscheidung nicht zu trennen ist von der Anerkennung der Gemeinschaft und der Institution, fällt sie doch nicht mit ihnen ineins; es kann immer Ungleichzeitigkeiten in der Entscheidung für die drei Ebenen geben: Ich kann der Gemeinschaft treu sein und meinen Glauben verlieren, ich kann die Institution ablehnen und doch meinen Glauben in der Gemeinschaft praktizieren; ich kann im Konflikt mit der Institution stehen und doch Glauben und Gemeinschaft hochhalten. Eine solche begriffliche Unterscheidung bedeutet aber nicht, dass diese Ebenen in der Realität von einander gänzlich zu trennen wären.

Besonders hilfreich ist die Unterscheidung der (Religions-) Kritik: Dementsprechend gibt es eine Kritik an der Institution (Kritik an der Amtskirche, Kirchenkritik), eine Kritik an der Gemeinschaft der Glaubenden (Kritik an den Christen/Katholiken, Kirchenkritik) oder eine Kritik an der persönlichen Glaubensentscheidung (Gotteskritik).

Fazit

Eine Religion, die auf einer Offenbarung beruht, folgt anderen Gesetzen und Abläufen. Offenbarung meint damit mehr als nur das »Erwachen von Religiosität im Menschen«: Offenbarung setzt ein Wirken Gottes in diese Welt voraus.

3. Glauben als Antwort auf die Offenbarung

Die drei großen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) werden gelegentlich auch die Buch-Religionen oder Offenbarungs-Religionen genannt. Dem liegt zugrunde, dass diese drei Religionen sich auf eine übernatürliche Offenbarung berufen, die in Schriftform niedergelegt ist: Beim Judentum die Thora und die Propheten (nicht ganz identisch mit dem »Alten Testament»), beim Christentum die Bibel mit den zwei großen Teilen, beim Islam die alttestamentlichen Überlieferungen zusammen mit dem Koran. Diese drei Religionen »Offenbarungsreligionen« zu nennen, darf nicht so verstanden werden, als würde den anderen Religionen eine Offenbarung abgesprochen werden. Auch dort führt eine Offenbarung Gottes zur einer dementsprechenden Verehrung. Diese Offenbarung wird allgemein »natürliche Offenbarung« genannt.

a. Natürliche Offenbarung. — In der Natur finden sich genügend Hinweise, die zu einer religiösen Vorstellung und einem religiösen Verhalten führen: Das Staunen über die Schönheit der Natur - besonders über besondere Naturdenkmäler (»Heilige Berge«, »Heiliger Fluss«) oder beeindruckende pflanzliche Formationen (»Donar-Eiche«, »Wald der Geister«); das Entdecken eines moralischen Empfindens führt zur Annahme eines Gerichtes (Ahnengericht; Karma; Waage); Liebe verlangt nach Dauer über den Tod hinaus (Leben nach dem Tod, Wiedergeburt, Ahnenkult); das Bewusstwerden eigener innerer Freiheit postuliert ein höheres, freies Wesen.

Natürliche Religionen haben als Erkenntnisgrundlage die Welt und den Menschen. Damit sind sie unabhängig von geschichtlichen Rahmenbedingung oder Ereignissen ableitbar: Das Wesen des Menschen erschließt sich jedem zu jeder Zeit. Getragen von der Grundüberzeugung, dass das, was ist, nicht ohne Grund ist, wie es ist, folgt aus der Erkenntnis die Religion.

b. Übernatürliche Offenbarung. — Dem gegenüber basieren die Offenbarungsreligionen auf einer übernatürlichen Offenbarung; damit wird ein bestimmtes geschichtliches Ereignis (die Rede des Propheten, die Wunder Jesu, die Taten des Mohammed) zum Schlüsselereignis - die, die nicht dabei gewesen sind, erzählen anderen oder schreiben nieder, was sie erlebt haben. Die Basis für den Glauben ist nicht mehr einem jedem Menschen zu jeder Zeit an jedem Ort unmittelbar zugänglich - sie muss verkündet und weitergetragen werden.

Die Bezeichnung »übernatürlich« sagt noch nichts über die Art und Weise der Offenbarung aus (sie kann auf sehr natürliche Weise, z.B. in Träumen erfolgen), sondern zunächst nur etwas über die Quelle der Offenbarung - die ist nämlich Gott selbst; nicht mehr vermittelt durch die Beobachtung der Natur durch den menschlichen Geist, sondern direkt dem menschlichen Geist geschenkt.

c. Das katholische Offenbarungsverständnis. — Wie schon beim (protestantischen) Fundamentalismus erwähnt, zeichnen sich dessen Anhänger (zudem die Zeugen Jehovas und die Mormonen - wie auch weite Teile des Islams) durch die Überzeugung aus, die jeweilige Heilige Schrift sei verbalinspiriert, stammt also Wort für Wort von Gott persönlich. Eventuelle Widersprüche zu den Geschichtswissenschaften, den Naturwissenschaften oder der Archäologie werden mit der Fehlbarkeit der menschlichen Erkenntnis und der Unfehlbarkeit des göttlichen Wortes beiseite geschoben.

Plausibel wird diese Position mit dem Verweis auf die moderne Bibelexegese, die jedes übernatürliche Ereignis durch Entmythologisierung als Fabel entlarven will. Was dann noch bliebe - so die fundamentalistische Sichtweise - sei schlicht die Auflösung des Wortes Gottes. Mit anderen Worte: Entweder wir nehmen die Bibel wörtlich - oder wir betrachten sie als Märchenbuch.

Bereits John Henry Newman erkannte im katholischen Offenbarungsverständnis mehr als nur einen Mittelweg: Die Einordnung der Bibel in die lebendig gehaltene Offenbarung des kirchlichen Lebens entgeht nicht nur den beiden extremen Positionen zwischen Verbalinspiration und Beliebigkeit, es löst sich vielmehr von der Offenbarung als einen in Lehrsätze gefassten Glauben und betont seine Lebendigkeit. Allein die Kirche ist somit authentischer Interpret der Heiligen Schrift.

Insbesondere in Bezug auf das Alte Testament ist dieses Offenbarungsverständnis revolutionär: Bestandteil der Offenbarung sind nicht die geschichtlichen Ereignisse, von den im AT berichtet wird, sondern deren Deutung durch das Volk Gottes. Aus der Möglichkeit zum Beispiel, dass der Bundesschluss am Sinai in seiner überlieferten Form vielleicht nicht stattgefunden hat, dürfen wir nicht schließen, dass der Bund zwischen Gott und dem Volk Israel nicht existent ist - im Gegenteil. Das AT ist für uns in seiner Theologie und geschichtlichen Interpretation Offenbarung Gottes - selbst, wenn zahlreiche Fakten nicht historisch sein sollten (was nicht nur vermutet werden sollte, sondern zu erweisen wäre!).

Ein Beispiel: Eine Frau erzählt, dass sie ihren Mann liebt, seit er sie damals vor 10 Jahren auf dem Schützenfest in Halverde vor einem wütenden Mob von rauflustigen Hessen gerettet hat. Nun stellt der Mann fest, dass es gar nicht vor 10 Jahren gewesen sein kann, sondern eher vor 12 Jahren; außerdem war es nicht auf dem Schützenfest, sondern auf der Kirmes; zudem nicht in Halverde, sondern im Nachbarort Schale; es war auch kein wütender Mob von Hessen, sondern Bayern - und außerdem kein Mob, sondern nur zwei Leute. Über all das hinaus hat er sie nicht gerettet, sondern ist aus Versehen ausgerutscht und hat den einen von ihnen ebenfalls zu Fall gebracht - und so weiter. Dennoch hat die Frau recht: Sie liebt ihren Mann und das aufgrund eines Ereignisses, das sich leider nicht mehr wirklich rekonstruieren lässt. - Aber kommt es darauf wirklich an?

Eine solche Einordnung muss allerdings zwei wesentliche Einschränkungen berücksichtigen: Zum einen ist unbedingt daran festzuhalten dass wir zwar nicht immer das historische Ereignis, dass einer biblischen Erzählung zugrunde liegt, fassen können - aber dass wir deshalb eine historische Verankerung nicht grundsätzlich aufgeben dürfen!

Mag sein, dass die im obigen Beispiel genannte Frau fast alle Details der ersten Begegnung mit ihrem Mann durcheinander wirft. Hätte es aber nie eine erste Begegnung gegeben, wäre ja die aktuelle Beziehung auch nie zustande gekommen. — Nur, weil wir z.B. nicht genau wissen, ob es ein Dornbusch war, aus dem Gott zu Mose gesprochen hat, so ist doch klar, dass es eine göttliche Initialzündung im Exodusgeschehen gegeben haben muss.

Zum zweiten gilt, dass diese Haltung zur Historizität der Ereignisse im AT nicht im gleichen Maße auf das NT übertragen werden darf, da dessen Historizität sehr viel ausgeprägter ist (dazu mehr unter »Christologie«). Aber grundsätzlich gilt: Glauben ist eine Interpretation der Wirklichkeit; in dieser Interpretation wird Offenbarung als solche erkannt.

Folgende Beispiele von Wahrnehmung und Interpretationsebenen sollen das illustrieren:

Ebene z.B.: Verliebtheit z.B.: Der Exodus z.B.: Auferstehung
Wahrnehmung Ihre Mundwinkel heben sich Das Meer trocknet aus Das Grab Jesu ist leer
1. Interpretation Sie lächelt Wirkung des Mose Jesus lebt
2. Interpretation Sie freut sich Wirkung Gottes Jesus ist auferstanden
Semantische Ebene »Sie mag mich« »Gott rettet sein Volk« »Der Tod ist besiegt«
Personalisierung Wir gehören zueinander Gott ist der Gott Israels Jesus ist das Leben
Ontologische Ebene Ich bin liebenswert Gott ist gut Jesus ist Gott
Moralischer Anruf (konkret) Ich soll sie nicht belügen Ich soll Gott gehorchen Ich soll den Tod nicht fürchten
Moralischer Anruf (verallgemeinert) Ich soll sie ehren Ich soll Gott vertrauen Ich soll ein neues Leben führen

Offenbarung geschieht zwar schon in der ersten Ebene; aber erst ab der ersten (im NT) oder zweiten Interpretation (eher im AT) kann von Formulierung von Offenbarungswahrheit die Rede sein.

Fazit

Das katholische Offenbarungsverständnis setzt zwar historische Ereignisse voraus, die Offenbarungswahrheiten liegen aber in den Interpretationen, die diese in den Augen der biblischen Autoren (der Evangelisten und Apostel) erfuhren.

II. Fünf Thesen zur historischen Dimension des Glaubens

Der folgende Text (Kapitel II) ist ein Zitat aus: Hugo Staudinger, »Die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien«, Zürich 1995, S. 12-14

In welchem Verhältnis stehen nun Historische Ereignisse zu den Aussagen des Glaubens? In einem Arbeitskreis des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen wurden zu diesem Fragenkomplex fünf Thesen erarbeitet:

1. Gott wirkt in der Geschichte und tritt in die Geschichte ein, er geht jedoch nicht in der Geschichte auf. Daher sind die Heilsereignisse keine Ereignisse, die mit historischen Methoden bewiesen werden können. Sie haben in diesem Sinne einen metahistorischen Charakter.

2. Da Gott jedoch tatsächlich in der Geschichte wirkt und in die Geschichte eintritt, schließt das Metahistorische je­weils eine historische Komponente in sich ein. Diese histo­rische Komponente ist unverzichtbar: die Heilstat der Erlö­sung schließt die historische Kreuzigung unaufhebbar ein. Die Einsetzung der Eucharistie setzt das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern voraus.

3. Angesichts dieses Zusammenhanges ist jeder, der an die metahistorische Wirklichkeit der Heilsereignisse glaubt, genötigt, bestimmte historische Fakten vorauszusetzen. In diesem Sinne können auch diese Fakten selbst als Gegen­stand des Glaubens betrachtet werden und bilden daher ei­nen Bestandteil der gemeinsamen Glaubensbekenntnisse der Kirchen.

4. Die historische Komponente der metahistorischen Wirk­lichkeit lässt sich auch mit den Mitteln historischer Wis­senschaft erforschen. So ist es - unbeschadet der Beweis­führung im einzelnen - grundsätzlich möglich, die Frage, ob Jesus Kranke geheilt hat, ob er mit seinen Jüngern das Abendmahl hielt, ob er gekreuzigt wurde und dergleichen mehr mit Hilfe historischer Methoden zu erforschen. Auch bei einem positiven Ergebnis dieser Forschung kann jedoch dabei stets nur die historische Komponente, dagegen nicht die metahistorische Wirklichkeit - also etwa die Erlösung oder die heilsmäßige Überwindung des Todes - gefasst wer­den.

5. Eine unter methodologischen Gesichtspunkten schwierige Frage ist die der Auferstehung, da es sich bei ihr um eine Gegebenheit handelt, die der historischen Forschung nicht in direktem Zugriff fassbar ist, da es keine Zeugen für den Auferstehungsvorgang selbst gibt. Hier kann mit histori­schen Methoden jedoch festgestellt werden, ob das Grab tatsächlich leer gefunden wurde und ob glaubwürdige Menschen eindeutig bezeugten, dass ihnen Jesus Christus nach der Kreuzigung als Lebender erschienen ist.

Diese Thesen machen verständlich, dass die Heiligen Schriften nicht nur eine metahistorische Heilswirklichkeit verkünden, sondern zugleich von historischen Geschehnissen Zeugnis geben und dass sie keine Alternative zwischen einem »historischen Jesus« und einem »kerygmatischen Christus« kennen. Da es in der Tat einen vom historischen Jesus ablös­baren kerygmatischen Christus nicht gibt und da die histori­sche Komponente unverzichtbar zum metahistorischen Heilsgeschehen gehört, kann die historische Forschung grundsätzlich zur Widersacherin oder auch zur Stütze des Glaubens werden.

Zur Verdeutlichung kann folgendes Gedankenexperiment dienen: Wenn die Archäologie eines Tages eine unter den Kri­terien der historischen Wissenschaften zuverlässige und lüc­kenlose Aufstellung aller Juden entdeckte, die unter Pontius Pilatus in Jerusalem hingerichtet worden sind, und wenn in dieser Aufstellung Jesus fehlte, so wäre dieses Dokument nicht nur eine aufschlussreiche historische Entdeckung, son­dern zugleich ein Gegenargument gegen den Satz des Credo, dass Jesus um unseres Heiles willen unter Pontius Pilatus den Kreuzestod erlitten hat. Umgekehrt wäre das Auffinden einer derartigen Aufstellung, die auch den Namen Jesus von Naza­reth enthielte und womöglich zusätzlich einen Hinweis auf Festnahme und Begnadigung des Barabbas, eine weitere Stüt­ze für die Glaubwürdigkeit der Evangelien und damit indirekt auch eine Stütze für den Glauben. Diese Hinweise zeigen, wie wirklichkeitsfremd die von manchen Theologen geäußerte Behauptung ist, der Glaube sei »an der historischen Frage nicht interessiert« (Bultmann).
Fazit

Die Heilswirklichkeit selbst ist zwar historisch nicht fassbar; sie ist aber an historische Ereignisse gebunden, die prinzipiell feststellbar und historisch beschreibbar sind. Die Ereignisse lassen sich erweisen, die Heilswirklichkeit lässt sich nur glauben.

III. Offenbarung, Bibel und Tradition
1. Der Unterschied zwischen Tradition und Traditionen

Zunächst müssen wir mit einem Missverständnis aufräumen. Denn wenn die katholische Theologie von der Tradition spricht, dann meint sie eben nicht die vielen menschlichen Traditionen wie Martinsumzüge, Adventsfeiern, Ostereiersuchen oder Weihrauchfass-Schwenken. Nein, mit der Tradition ist die Weitergabe der Offenbarung gemeint, die Jesus Christus uns gegeben hat (daher auch der Name: Tradition stammt von tradere, lat.: weitergeben, überliefern). Deshalb spricht der Theologe, wenn er die Weitergabe der einen Offenbarung Jesu meint, immer von der Tradition (im Singular) - und so soll es auch in dieser Katechese sein. Die anderen, menschlichen Traditionen sind immer dann gemeint, wenn von den Traditionen (im Plural) die Rede ist. Ähnliches gilt, wenn von dem Evangelium die Rede ist: Damit ist die Botschaft Jesu gemeint, seine Predigt und Verkündigung. Wenn von den Evangelien die Rede ist, sind damit die vier Texte gemeint, die von den vier Evangelisten geschrieben wurden und den Kern des Neuen Testamentes bilden. So meint es auch Paulus, wenn er von dem Evangelium spricht. So zum Beispiel im Römerbrief (1,1): »Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium Gottes zu verkündigen.« - und an ungefähr 80 weiteren Stellen im Neuen Testament.

Die theologische Tradition meint also nichts anderes als das Evangelium Jesu Christi, also die Gesamtheit dessen, was uns Jesus anvertraut hat und das nun überliefert wird. Zur lebendigen Tradition der Kirche gehört alles, was sich in der Kirche und durch die Gläubigen vollzieht - konkret lassen sich folgende wesentlichen Bestandteile der Tradition nennen:

Die Gebete und Gebetsformen der Kirche, vor allem die offiziellen Riten; die Verlautbarungen der Kirche (die Beschlüsse der Konzilien, die Enzykliken der Päpste, der Katechismus der Kirche; Lehrentscheidungen der römischen Kongregationen und bedeutender Bischöfe; diözesane Katechismen); die Texte der Kirchenväter und bedeutender Theologen (vor allem Thomas von Aquin); Aufzeichnungen der großen Ordensgründer; Taten und Texte der Heiligen.
Ob sich zum Beispiel eine Enzyklika oder eine Predigt eines Heiligen zum »depositum fidei« (dem Glaubensgut der Kirche) zählen darf, entscheidet sich in der Aufnahme der Texte (der Rezeption) durch die Kirche - was gelegentlich erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten abgeschlossen ist.
Fazit

Mit »Tradition der Kirche« ist die Gesamtheit der kirchlichen Vollzüge gemeint, in der die Offenbarung Jesu weiterhin lebendig ist.

2. Die Bibel

Nun behauptet die katholische Kirche, dass dieses eine Evangelium größer ist und mehr enthält, als aufgeschrieben und in der Bibel gefasst wurde. So schreibt der Evangelist Johannes am Ende seines Evangeliums: »Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wenn man alles aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste.« (Joh 21, 25)

Wer also den christlichen Glauben auf das Fundament der niedergeschriebenen Bibel verkürzt und damit einen großen Teil des ursprünglichen Evangeliums streicht, verkündet somit auch ein anderes Evangelium als das, was uns Jesus und die Apostel - Paulus eingeschlossen - verkündet haben.

Zumindest sieht es so die katholische Kirche. Klar, dass das nicht unwidersprochen bleibt. Wie am 11. Abend (Soteriologie II) zum Thema »Evangelisch-Katholisch: Der Unterschied« weiter ausgeführt wird, ist die entscheidende und alles unterscheidende Grundannahme der protestantischen Kritik: Dass Gott sich (in der Weitergabe des Glaubens) nicht an menschliches Tun bindet - zumindest nicht unwiderruflich. Aus dieser Vorentscheidung, die letztlich aus dem negativen Menschenbild der Reformation herrührt, wird klar, das die Menschen nicht auf Dauer zum Träger der Offenbarung werden können - dazu sind sie einfach nicht in der Lage, dazu sind sie zu schlecht. Wenn - wie Paulus es nennt - das »Tragen des Schatzes in zerbrechlichen Gefäßen« auf Dauer nicht gut gehen kann, muss also - möglichst schnell nach der Übergabe der Offenbarung durch Jesus an die Menschen - alles niedergeschrieben werden. Das Niedergeschriebene wird dann endgültig verbindlich.

Nun verweist die katholische Kirche allerdings zu recht darauf, dass es bis zur Schriftwerdung des Neuen Testamentes doch eine mehr oder weniger längere Tradition der mündlichen Weitergabe gegeben hat - und die Bibel somit Frucht der Tradition ist - einer menschlichen Tradition, die so geistgewirkt ist, dass in dieser Zeit das unverfälschte Evangelium bewahrt geblieben ist.

Noch viel grundsätzlicher als die Frage, ob es eine geistgewirkte Tradition vor der Niederschrift der Evangelien und der anderen neutestamentlichen Bücher gab, ist die Frage, wie denn die Bibel zusammengestellt wurde. (Dieser Prozess der Bibelentstehung nennt sich »Kanonbildung«.) Tatsächlich ist die Bestimmung, welche Schriften zum Alten und zum Neuen Testament tatsächlich hinzugehören, ein wunderbar katholisches Geschehen: Nämlich ein Zusammenspiel von Kirchenvolk und Kirchenleitung.

a. Die Kanonbildung des Alten Testamentes. — Denn die zur Zeit Jesu von den Juden benutzten Schriften wurden nach der Himmelfahrt Jesu von den frühen Christen in den Gemeinden weiter verlesen und diskutiert - obwohl die nicht-christlichen Juden auf der Synode von Jamnia (100 n. Chr.) die ursprünglich nicht in hebräischer Sprache verfassten Bücher des Alten Testamentes als nicht zum Alten Testament dazugehörig verwarfen (natürlich benutzen die Juden nicht den Begriff »Altes Testament«, sondern »Tanach«).

Nach längeren Diskussion auch zwischen Bischöfen und Theologen wurde dann auf den Bischofssynoden von Rom (382), Hippo (393) und Karthago (397, 419) der Brauch der gesamten Christenheit, auch die neueren Bücher des Alten Testamentes zu verlesen, bestätigt.

Lange Zeit war diese Festlegung des Alten Testamentes von allen Christen akzeptiert; erst mit der Reformation wurde der Umfang der Bibel neu diskutiert. Deshalb legt das Konzil von Trient (1548) endgültig fest, was bis dahin einfach nur Konsens in der Christenheit war - und bis heute als katholische Version des AT gilt. (Das ist typisch katholisch: Das Volk legt den Grund - und die Hierarchie schützt diesen durch Festlegung.)

b. Die Kanonbildung des Neuen Testamentes. — Auch das Neue Testament wurde lange diskutiert; erst der 39. Osterbrief des Bischofs Athanasius von Mailand (397) drückte den schließlich gefundenen Konsens aus und bildet somit den Abschluss der neutestamentlichen Kanonbildung. Bis dahin war zwar immer unstrittig, dass zum NT die vier Evangelien, die Paulusbriefe, die Pastoralbriefe und der erste Johannesbrief gehörten, aber angezweifelt (und dann doch aufgenommen) wurden der Hebräerbrief (im Osten nie angezweifelt, aber im Westen), der Brief des Jakobus, der 1. und 2. Brief des Petrus (der erste wurde nur selten angezweifelt, der zweite dagegen oft), der 2. und 3. Brief des Johannes, der Brief des Judas und die Offenbarung des Johannes (im Westen nie angezweifelt, aber im Osten). Außerdem gab es einige Bücher, die zwischenzeitlich als zum NT dazugehörig betrachtet wurden, schließlich aber nicht aufgenommen wurden: der 1. und 2. Clemensbrief, die Didache, der Barnabasbrief, der Hirte des Hermas, das Hebräerevangelium und die Offenbarung des Petrus.

Ein biblischer Fundamentalist steht also vor dem Dilemma, dass er zwar die Bibel für das unfehlbare göttliche Wort hält - aber die Frage, was denn überhaupt zur Bibel gehört, nur mit rein menschlichen Argumenten hergeleitet werden kann. Es sei denn, er folgt der Auffassung der katholischen Kirche und erkennt in der Tradition der Kirche, die die Bibel formte und hervorbrachte, ein göttlich inspiriertes Geschehen.

c. Die Bibel ist kein Lehrbuch. — Nun scheint das Prinzip - »der katholische Glaube ergibt sich nicht aus der Bibel, muss sich aber an ihr messen« ein recht freizügiges. Öffnet das nicht einer theologischen Beliebigkeit Tor und Tür? Kann man nicht alles irgendwie durch die Bibel belegen und beweisen? Nun - die Frage ist, ob wir eine Alternative haben. Können wir denn die Bibel als Lehrbuch nehmen und nur das lehren, was in ihr enthalten ist? Die Antwort darauf ist: Nein; das geht nicht. Weil die Bibel kein Lehrbuch ist und auch nicht sein will.

John Henry Kardinal Newman schreibt: »Das geschriebene Wort könne niemals dazu bestimmt gewesen sein, die Leser mit der Glaubenslehre erst bekannt zu machen, sondern nur, für die bereits gekannte Lehre den Beweis zu liefern. Der mündliche Unterricht müsse immer vorausgesetzt werden.« (John Henry Kardinal Newman, »Die Geschichte meiner religiösen Suche«, Saarlouis 1912, S. 35)

»Noch ein anderes Prinzip, das mehr als alles bisher Gesagte zum Katholizismus in unmittelbarer Beziehung steht, vermittelte mir Dr. Hawkins: die Lehre von der Tradition… Er stellte eine Behauptung auf, die jedem, der die heilige Schrift auf ihre Anlage hin geprüft hat, sofort einleuchten musste: der heilige Text sei nie dazu bestimmt gewesen, in einer Lehre zu unterrichten, er solle sie nur beglaubigen, und wir müssten uns, um die Lehre kennen zu lernen, an die Formulare der Kirche, den Katechismus und das Credo halten. Er meinte, der Forscher müsse die Lehren des Christentums, die er sich aus diesen Formularen angeeignet habe, aus der Schrift beweisen.« (John Henry Newman, Ausgewählte Werke, Band 1: Apologia pro vita sua (Geschichte meiner religiösen Überzeugungen), Mainz 1922, S. 25.
Fazit

Die Bibel ist Produkt der Tradition und der Kirche. Sie dient der Bestätigung des christlichen Glaubens, ist aber kein dogmatisches Lehrbuch.

3. Das Verhältnis von Tradition und Schrift

a. Die Tradition als hermeneutischer Schlüssel zur Bibel. — Die Frage aber bleibt: Wird der Glaube denn nicht beliebig, wenn die Bibel nicht die Grundlage, sondern nur die nachträgliche Korrektur des Glaubens ist? Der Glaube wäre beliebig, wenn er auf rein menschlichen Überlegungen basiert. Gerade deshalb ist die Tradition - also das gelebte und weitergegebene Evangelium - kein verfälschender Bestandteil unserer Religion, sondern unverzichtbare Grundlage. Letztlich ist die Bibel von der literarischen Form her wirklich nichts Besonderes; was die Bibel zu etwas Besonderem macht, ist die Anerkennung durch die Kirche, die der Heiligen Schrift ein besonderes Wirken des Geistes zuerkennt. Mehr durch kirchlichen Beschluss als durch historisch-kritische Analyse ist die Kirche zu dem Urteil gekommen, dass die übernatürliche Offenbarung Jesu Christi mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen ist. Die Kirche hat die Bibel in den Rang einer »Ur-Kunde« erhoben und bezeichnet sie als »norma normans non normata« - was soviel bedeutet wie »Die Grundlage des Glaubens, an der sich alle anderen Glaubenstraditionen messen lassen.«

Das ist wie eine Reihe von Momentaufnahmen einer Hochzeitsfeier - einem Fotoalbum sozusagen. Die Brautleute bestimmen gemeinsam, welche Bilder aufgenommen werden, damit wirklich alle Personen, die wichtig sind, alle Momente und alle Blickwinkel vorkommen. Irgendwann wird nun das Fotoalbum abgeschlossen und für gut befunden. Ein solches Fotoalbum muss, wenn es den Kindern einmal vorgelegt und durchgeblättert wird, kommentiert werden: »Das ist Onkel Erwin, der ist immer so griesgrämig - und der da ist mein Lieblingsonkel - Da war ich total ergriffen - Bei der Rede habe ich gar nicht zugehört« - usw. Die Kommentare sind oft viel erhellender als die Bilder, die Bilder umgekehrt veranschaulichen das, was man grundsätzlich von Hochzeiten und deren Abläufen weiß - und konkretisiert, was die Eltern immer schon gelebt und erzählt haben. Vor allem aber dient das Fotoalbum der Überprüfung der Erzählungen, die sich letztlich an den Fakten, die auf den Fotos festgehalten sind, messen lassen müssen. Auch, wenn das Leben der Eltern unendlich mehr erzählt und vieles sich auch gar nicht auf Fotos festhalten lassen kann - es kann nicht sein, dass die Berichte über den Hochzeitstag dem widersprechen, was auf den Bildern zu sehen ist. Weil die lebendig weitergegebenen Erzählungen das einmal fixierte Hochzeitsalbum nicht verändern können - und die Tradition nicht die Bibel nachträglich korrigieren kann - deshalb sprechen wir von der »norma normans non normata«.

b. Sola scriptura. — Falls das Prinzip »sola scriptura« meint, dass wir den Text nicht interpretieren sollen, sondern ihn so nehmen, wie er da steht, befinden wir uns in einem unlösbaren Widerspruch. Denn es gibt keinen einzigen Text, der nicht interpretationsbedürftig ist; aus dem einfachen Grund, weil jedes Lesen eines Textes eine Interpretation ist. Texte sind dazu geschrieben, interpretiert zu werden. Ein Text, der sich einer Interpretation verschließt, ist tot oder schlicht unverständlich.

Das Phänomen, dass Texte erklärungsbedürftig sind, haben schon die Juden festgestellt, als sie um die Tora immer neue Schriften gruppierten (den Talmud, bestehend aus Mishna [die die Pirke Avot enthält] und Gemara, die Halacha) und zunehmend verbindlich machten; aber das gilt auch für die trockenen und sachlichen Gesetzestexte unserer Zeit, zu denen immer wieder neue Kommentare geschrieben werden - und diese Kommentare dann wiederum durch die konkrete Rechtsprechung näher bestimmt oder korrigiert werden… und so weiter.

Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob eine bestimmte Textstelle nun bildlich (also symbolisch oder metaphorisch) zu verstehen ist. Sondern auch die Texte, die gar nicht metaphorisch gemeint sind, sondern wörtlich genommen werden wollen, müssen wir interpretieren. Das machen wir beim Lesen eines Textes so automatisch, dass wir es oft gar nicht bemerken - und uns darüber wundern, warum Übersetzungscomputer so verquere Sätze ausspucken. Computern das Interpretieren von Sätzen und Texten beizubringen, ist nämlich (fast) unmöglich. Denn: interpretieren heißt verstehen.

Wenn es zum Beispiel im Johannesevangelium heißt: »Ich und der Vater sind eins.« (Joh 10, 30) - dann denken wir zunächst in unseren menschlichen Maßstäben an das, was Einheit meint. Aber wir fragen uns dann auch, warum die Juden nun Steine aufheben und Jesus wegen dieses Satzes steinigen wollen (Joh 10, 31) … und schon sind wir mitten in einer Interpretation.
Und wenn es zu Beginn des Johannesevangeliums heißt: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott« (Joh 1,1), dann behaupten einige, es müsse »und das Wort war ein Gott« heißen und führen seitenlange Belege für dieses angeblich richtige Verständnis des griechischen und hebräischen Sprachgebrauches an. Aber das ist schon keine Frage mehr nach dem, was da steht - sondern nach dem, was wir verstehen. Das nennt man Interpretation.

Der Unterschied zwischen den Zeugen Jehovas (oder einer evangelischen Freikirche) und der katholischen Kirche besteht also nicht darin, dass die katholische Kirche die Bibel beliebig auslegt, während die Zeugen Jehovas sie wörtlich nehmen. Vielmehr interpretieren alle (!) Leser der Bibel den Text - nur vor unterschiedlichem Hintergrund. Für die Zeugen Jehovas ist das Verstehenshintergrund, was die Wachtturm-Gesellschaft vorgibt; bei der freikirchlichen Gemeinde wird der Rahmen durch die Ältesten (Presbyter) der Gemeinde und bei der katholischen Kirche durch die Tradition vorgegeben.

Mit anderen Worten: Alle Leser der Bibel haben einen hermeneutischen Schlüssel (auf deutsch: »Verstehens-Schlüssel«) zum Text der Bibel - bei der katholischen Kirche ist das die Tradition.

c. Der Geist und die Kirche. — Die katholische Kirche lehnt (in einer möglichen Abgrenzung zur evangelischen Position) nicht etwa die »Geistbegabung« des einzelnen Lesers der Bibel ab - sondern sie spricht von beidem: Der Geistbegabung sowohl des einzelnen Lesers als auch der Kirche als die eigentliche Leserin der Bibel. Dieses »sowohl als auch« (lat.: et - et) hat die Kirche zum Prinzip erhoben und setzt es dem reformatorischen »sola« (nur) entgegen. Denn die Tradition der Kirche - also die Weitergabe der Offenbarung - geschieht gerade durch das Wirken des Heiligen Geistes in den Menschen. Nicht nur der Papst ist vom Heiligen Geist erfüllt, nicht nur die Bischöfe während eines Konzils - sondern das ganze Volk Gottes, die ganze Kirche, jeder einzelne Christ und vor allem der, der in der Bibel liest. In jedem Christen, der in der Bibel liest, liest der Geist Gottes mit dem Menschen das, was Gott geschrieben hat. Der Sinn, der sich dem lesenden und betenden Menschen erschließt, wird ihm nicht durch die gedruckten Buchstaben eröffnet, sondern vom Geist Gottes, der einst diesen Texten den Sinn gab. Insofern ist die katholische Lehre durch und durch evangelisch - in jeder Hinsicht des Wortes.

Aber der Mensch, der die Bibel liest, wird nicht einfach seines eigenen menschlichen Geistes beraubt. Der Geist Gottes tritt nicht an die Stelle des menschlichen Geistes, sondern erhebt ihn, öffnet, weitet und erfüllt ihn. Das bedeutet, dass im Lesen des Wortes Gottes der Mensch einen tatsächlichen Hauch Gottes erfährt - aber ihn nicht sicher von seinem eigenen Geist unterscheiden kann. Dazu bedarf ein jeder Mensch einer Richtschnur, die ihm bei der Unterscheidung der Geister hilft - eben der Kirche.

Aber nicht nur das: Jeder, der einen Text liest, hat ein Vorverständnis, mit dem er an das Geschriebene herangeht: Um einen Brief eines Menschen richtig zu verstehen, ist es unverzichtbar, diesen Menschen zu kennen - zumindest sollte man ein möglichst zutreffendes Bild von diesem Menschen haben. Es ist also nicht nur so, dass der Einzelne, der die Bibel liest, die Kirche als nachträgliche Korrektur für seine Erkenntnisse benötigt - sondern erst durch das Lesen im Licht der Tradition erschließt sich die volle Bedeutung der Schrift. Der Einzelne, der die Bibel liest, und die Kirche als lebendige Tradition sind dabei keine Gegensätze; die Wahrheit ergibt sich also nicht durch einen Streit von zwei konkurrierenden Parteien. Die Wahrheit ergibt sich auch nicht dadurch, dass wir von allen Bibel-Lesern-Erkenntnissen ein arithmetisches Mittel bilden - oder den größten gemeinsamen Nenner - oder demokratisch abstimmen lassen.

Das Zusammenspiel ist vielmehr wie ein lebendiger Organismus, bei dem verschiedene Menschen verschiedene Aufgaben auf verschiedenen hierarchischen Ebenen ausführen. Keine Ebene ist dabei Gott näher oder hat mehr oder weniger Anteil am Heiligen Geist; vielmehr ist auch die höchste Autorität nur dann Autorität, wenn sie es vermag, auf das Wirken des Geistes selbst im einfachsten Menschen zu horchen.

Fazit

Die lebendige Tradition der Kirche ist der Rahmen, in dem die Bibel richtig verstanden werden kann. Nur in der kirchlichen Tradition wirkt der Geist, in dem die Schrift verfasst wurde.