Neue Site - empfehlenswert! Ein Ableger der Karl-Leisner-Jugend: aktueller, kürzer, frischer und moderner: www.gut-katholisch.de.
KARL-LEISNER-JUGEND |
Die Frage nach den wiederverheirateten Geschiedenen
|
Jemand der (wie ich jetzt) über die leidvolle Situation bestimmter Menschen schreibt und sich dabei Gedanken darüber macht, was "gut" und "böse", "erlaubt" oder "verboten" unter diesen Umständen bedeuten, steht ganz klar unter dem Verdacht, bloß unbarmherzige theologische Prinzipien zu verteidigen. Mir wird dieser Vorwurf immer wieder gemacht - egal, um welche moralische Frage es sich handelt. Die kirchliche Verkündigung steht leider unter dem Generalverdacht, nur ihre Traditionen verteidigen zu wollen. Und das gehe eben oft genug auf Kosten der Menschen, für die die Kirche doch eigentlich da sei.
Leider gibt es tatsächlich Theologen, die bestreiten, dass die Kirche für die Menschen da sei - es gehe (so deren Argument) doch vielmehr darum, die Lehre Christi zu verkünden und den Anspruch Jesu, uns die Wahrheit zu offenbaren. Und das klingt ja auch nicht dumm.
Ich halte allerdings diese Gegenüberstellung für fatal. Die Kirche hat als einzigen Auftrag, den Menschen ein "Leben in Fülle" zu ermöglichen. Das, was unseren christlichen Glauben ausmacht, ist das Glück, dass wir auf dem Weg zu einem "erfüllten Leben" nicht alle möglichen Wege ausprobieren müssen (und währenddessen immer wieder auf falsche Versprechungen selbsternannter Moralapostel hereinfallen), sondern dass der Weg zum Glück gut markiert ist. Weil Jesus von sich sagt: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!", legt die Kirche wert darauf, Seinem Beispiel und Seiner Lehre zu folgen - weil das der Weg zum Lebensglück ist. Die Kirche darf also nicht eine Moral verkünden, die Dich ins Unglück führt. Sie ist aber auch nicht so frei, Wege als "moralisch unbedenklich" zu bezeichnen, nur weil es viele gerne so hätten. Wenn sowohl das Beispiel oder die Predigt Jesu als auch die eigene Erkenntnis vor diesem Weg warnen, darf die Kirche nicht schweigen.
Ich will keinem Theologen, Bischof, Kardinal oder Priester vorwerfen, das Problem der Wiederheirat nach einer Scheidung bewusst zu vernebeln. Aber viele Argumente ergeben sich aus einer falschen Begründung, Darstellung oder Reduzierung des eigentlichen Problems. Der Kern, um den es hier geht, ist nämlich...
Oft heißt es, in der katholischen Kirche seien die Geschiedenen nicht mehr zu den Sakramenten zugelassen. Das ist nicht korrekt: Um von den Sakramenten ausgeschlossen zu werden, muss jemand öffentlich und auf Dauer in "sündigen Verhältnissen" leben (besser wäre die Formulierung: "in objektiv der kirchlichen Moral widerstreitenden Verhältnissen" - aber lassen wir mal das Theologendeutsch). Eine einzelne sündige Tat - und mag sie noch so schwer sein - trennt niemals auf Dauer von Gott, der Kirche und den Sakramenten; jede Sünde kann vergeben werden. Das gilt auch für die Trennung in der Ehe, die Zerrüttung einer Beziehung und die Scheidung einer ehelichen Gemeinschaft. Wer aber eine zweite Ehe eingeht, begibt sich in einen Zustand, der - wie gesagt - öffentlich und auf Dauer angelegt ist. Dieser Zustand - die zweite Ehe - ist das Problem.
Das soll allerdings nicht bedeuten, dass die Scheidung (unabhängig von einer Wiederheirat) kein Problem sei. Es ist immer ein Unglück, wenn Menschen einander nicht mehr ertragen können und sich aus dem Weg gehen - aber es kann unter Umständen nötig sein. Als Beispiel wird oft auf die vom Mann geschlagene Frau verwiesen: Selbstverständlich ist es ihr gutes Recht - ja, sogar ihre Pflicht - sich zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Das gilt natürlich auch für physische und psychische Gewalt dem Mann oder den Kindern gegenüber. Aber auch, wenn eine Trennung notwendig sein sollte: Sie bleibt ein Übel und sollte nur dann erwogen werden, wenn das Fortbestehen der ehelichen Gemeinschaft auch objektiv das größere Übel wäre.
Aus diesem Problem (der zweiten Ehe nach einer ersten, vor Gott geschlossenen Ehe) ergibt sich eine doppelte Konsequenz - und um die geht es nun. Interessanterweise in umgekehrter Reihenfolge:
"Kein Mensch hat das Recht, einen anderen im Namen Gottes von der Gemeinschaft mit Gott auszuschließen! Kein Mensch hat das Recht, dem Menschen eine Vergebung zu verweigern, die Gott schenken würde!" Dem stimme ich voll und ganz zu. Niemals würde Gott einen Menschen von sich weisen!
Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Nicht nur Gott könnte, auch der Mensch kann sich abwenden. Und im Gegensatz zu Gott tut der Mensch es auch. Leider. Manchmal ganz und gar, manchmal nur indirekt, manchmal wissentlich und willentlich.
Dass wir einen Menschen, der sich von Gott entfernt, auf die Konsequenzen hinweisen sollten, ist einleuchtend. Weniger offensichtlich ist, dass wir einen solchen Menschen davon abhalten sollten, sich selbst zu betrügen; indem er zum Beispiel eine Beziehung zu Gott weiter simuliert, die eigentlich schon von ihm selbst gekündigt wurde.
Es gibt solche selbstgewählten Illusionen - auch wenn sie uns skurril erscheinen. Da kündigt jemand einen Mietvertrag und zieht dennoch nicht aus; ein anderer zahlt seine Stromrechnung nicht und erwartet dennoch, dass der Strom weiter geliefert wird. Mancher beleidigt seinen Chef und klagt darüber, dass er dadurch Nachteile erfährt.
Wir müssen allerdings vorsichtig sein: Der Mensch sieht nur das, was außen ist; allein Gott sieht in das Herz. Deshalb kann es nicht die Aufgabe aller Christen sein, inkonsequent erscheinende Gottesdienstbesucher am Empfang der Kommunion zu hindern; aber dem Pfarrer, Pastor oder Seelsorger muss es schon gestattet sein, diese darauf anzusprechen, wenn es so aussieht, als lasse sich ihr (moralisches) Verhalten nicht mit dem Glauben vereinbaren (am besten natürlich außerhalb des Gottesdienstes). Oder zumindest grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass eine Sünde, die nicht gebeichtet wird, am Kommunionempfang hindert.
Deshalb die umgekehrte Reihenfolge. Alle reden vom Ausschluss der wiederverheiratet Geschiedenen von der Kommunion und der -unbarmherzigen- nicht-Zulassung durch die Kirche. Dabei kann die Kirche niemanden zur Kommunion zulassen, der eine schwere Sünde begangen hat, die er nicht bereuen (und beichten) will.
Vermutlich redet kaum einer über diesen Zusammenhang: "Die Verweigerung der Kommunion durch die Kirche aufgrund der Verweigerung der Reue durch den Beichtenden", weil die meisten Menschen als notwendige Vorbereitung auf den Kommunionempfang eher an das Waschen der Hände und das Reinigen der Fingernägel denken als an die Beichte. Tja - das Problem hatte schon Jesus mit den Pharisäern (Mt 23,25f).
Eine Lossprechung in der Beichte kann nur dann erfolgen, wenn die Sünde auch als solche erkannt wird und der Beichtende sie bekennt. Allerdings ist die innere Schwierigkeit nicht die Sünde der ersten Eheschließung ("Sorry, lieber Gott, ich hatte damals einfach den falschen Mann geheiratet! Verzeih mir...") - und auch nicht die Schuld am Scheitern der ersten Ehe ("Tut mir leid, lieber Gott, ich habe meine Frau nicht genug geliebt..."). Falls dort Schuld liegt und sie bekannt und bereut wird, ist diese selbstverständlich mit der Lossprechung vergeben.
Vielmehr geht es um die permanente Sünde, die in der zweiten Ehe besteht; in dieser Beziehung zu verharren ist ein öffentlicher Widerspruch, der - falls nicht bereut, korrigiert und gebeichtet - vom Kommunionempfang ausschließt...
Das ist in anderen Fällen doch sehr einleuchtend: Dass ich Drogenhändler geworden bin, kann mir in einer Beichte vergeben werden. Dass ich immer noch mit Drogen handle, kann mir aber doch erst dann vergeben werden, wenn ich damit aufhören will.
Dass ich meinen besten Freund über meine vergeigte Führerscheinprüfung angelogen habe, kann mir ebenso vergeben werden; dass ich aber immer noch ohne Führerschein Taxi fahre, wird erst dann wirklich bereut, wenn ich damit aufhöre (oder den Führerschein mache).
Wohlgemerkt: Hier wird niemand vor die Tür gesetzt (weder bildlich noch tatsächlich). Vermutlich wollen einige der wiederverheiratet Geschiedenen schon sehr gerne beichten und zur Kommunion gehen; sie empfinden den Hinweis auf den inneren Widerspruch durchaus als "Ausgrenzung" oder "Ausschluss". Aber der so empfundene und sogenannte "Ausschluss von Kommunionempfang und Beichte" ist ein Selbstausschluss, wenn auch nur ein indirekter.
Hier liegt der Kern der angeblichen "Unbarmherzigkeit" der Kirche, deshalb nochmal:
Wendet sich der Anspruch der Kirche nicht gegen sie selbst: Soll die Kirche nicht vergeben, wenn ein Sünder darum bittet? Darf die Kirche einen Neubeginn verweigern, wenn man doch das Vergangene bereut? Wenn doch die erste Ehe ein Fehler war, sollte man nicht vergeben, vergessen und verzeihen?
Doch die Kirche bleibt hier ihrem Auftrag treu: An der Vergebung der Sünden wird kein Abstrich gemacht, sie gilt unbedingt. Aber die Kirche hat eine leicht abweichende Meinung von dem, was denn vergeben werden soll: "Die erste Ehe? Wieso soll sie eine Sünde oder ein Fehler gewesen sein?" - Selbst, wenn der geschiedene (und vielleicht schuldlos verlassene) Ehepartner die erste Eheschließung bereut: Eine Sünde war sie allein aus diesem Grund noch nicht. Die Kirche kann deshalb auch nicht vergeben, was nicht von Übel ist.
Aber auch, wenn Du am Zerbrechen der ersten Ehe sogar überwiegend schuldig sein solltest: Mit dem Verzeihen und Vergeben dieser Schuld ist die Ehe nicht beendet - im Gegenteil, vielleicht hat sie jetzt erst recht eine Chance.
Wenn es im Zusammenhang mit einer Ehescheidung eine Sünde gibt, deren Vergebung schwierig ist, dann ist es die zweite Ehe - nicht die erste; auch nicht das Scheitern der ersten Ehe. Denn vergeben werden kann nur dem, der um Vergebung bittet. Jemandem, der vor Gott die zweite Ehe nicht als Schuld, sondern als gutes Recht ansieht - dem zu vergeben, wäre Anmaßung und ganz sicher nicht Gottes Art.
Ein Neuanfang ist dabei immer auf die erste Ehe bezogen. Ein solcher ist tatsächlich immer und jederzeit möglich - nichts würde die Kirche mehr unterstützen. Leider ist das gelegentlich nicht möglich - zum Beispiel, wenn der erste Ehepartner sich von Dir abgewendet hat. Darin liegt die Größe der Tragödie begründet. Sollte die Kirche angesichts der unschuldig Verlassenen nicht barmherziger sein?
Seelsorgern, die eine zweite Ehe ablehnen, wird oft "Unbarmherzigkeit" vorgeworfen. Hinter diesem Vorwurf steckt auch die (schon erwähnte) Vermutung, es gehe den Seelsorgern mehr um die theologische Korrektheit als um das Heil der Menschen. Zudem klingt in diesem Vorwurf der Gedanke an, Papst, Bischöfe oder Priester könnten eine zweite Ehe zulassen, wenn sie es doch nur wollten. Da sie einfach nicht wollen, sind sie unbarmherzig.
Noch wichtiger an diesem Vorwurf der mangelnden Barmherzigkeit ist jedoch der Gedanke, dass sich die Barmherzigkeit auf die Änderung einer Moral richten soll.
Dieser Gedanke ist nicht neu, denn bereits im Alten Testament wurde die Strenge des Ehegebotes abgemildert.
Doch das ist kein Weg der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit heißt, ein Herz auch für die Sünder, die Gefallenen und Gestrauchelten zu haben. Wenn ich den Menschen dagegen die Erlaubnis erteile, demnächst auch die Unwahrheit zu sagen, dann bin ich nicht barmherzig, sondern erkläre einfach alle Gefallenen, Gestrauchelten und Sünder zu aufrechten und vorbildhaften Bürgern.
Und das gilt - so unglaublich, wie das klingt - auch für die Opfer der Sünde anderer. Also für die Belogenen, die Bestohlenen und die vom Ehepartner Verlassenen. Einem verlassenen Ehepartner die erneute Eheschließung deshalb zu erlauben, weil er unschuldig ist, hieße die Sünde des Partners zum Grund für das eigene Brechen des Eheversprechens zu machen. Und damit auch dessen Sünde zu leugnen.
So steht jede Barmherzigkeit in Gefahr, zur Ungerechtigkeit zu werden, wenn sie eingeklagt oder organisiert wird. Denn ein grundsätzliches Entgegenkommen den Sündern diffamiert letztlich jeden, der mühsam und halbwegs erfolgreich die Sünde zu vermeiden sucht.
Einmal angenommen, eine Ehe wäre grundsätzlich nur für 50 Jahre verbindlich. Dann kann man schon mal hier und dort eine Ausnahme machen und eine Neuheirat auch nach 48 oder 45 Jahren zulassen - und in extremen Fällen auch schon ab 25 Ehejahren. Hier wäre eine graduelle Großzügigkeit deshalb möglich, weil die "Ehescheidung mit Erlaubnis zur Wiederheirat" grundsätzlich als möglich gedacht wird. Nur die Grenze dorthin wird flexibel gehandhabt.
Aber eine Ehe, die grundsätzlich unbegrenzt ist, kann nicht durch eine großzügige Barmherzigkeit "ein wenig weniger unbegrenzt" gehandhabt werden. Jede "vorsichtige Aufhebung" bzw. Einschränkung der Ehedauer wäre eine vollständige Absage an die Unauflöslichkeit.
Auch die Einschränkung "bis dass der Tod Euch scheidet" kann nicht flexibel gehandhabt werden: Ein "bisschen tot" oder "ein mehr oder weniger tot" gibt es nicht. Es wäre doch sehr seltsam, Opas Ehe aufzulösen und ihm eine Neuheirat zuzugestehen, weil Oma schon "quasi tot" ist.
Zum Argument, das Versprechen "bis der Tod uns scheidet" beziehe sich auf den Tod der Liebe (und nicht auf den Tod des Ehepartners), habe ich in den FAQ (folgt demnächst) etwas geantwortet.
So wird bei der Forderung nach der Möglichkeit der Ehescheidung und der Neuheirat oft übersehen, dass es Menschen gibt, die unter größten persönlichen Opfern um den Erhalt ihrer Ehe kämpfen oder - zum Beispiel nach dem Schlaganfall eines Ehepartners - die Ehe ungefragt über Jahre weiter leben. Ihnen zuzugestehen, dass ihr Opfer zwar bemerkenswert und sicher sehr ehrenwert ist, aber moralisch nicht nötig, ist sicherlich wenig barmherzig.
Ich unterstelle allen Kritikern an der kirchlichen Ehemoral, dass sie genauso wie ich nach vorne schauen und nach einer lebbaren Lösung für das drängende Problem der Zweit-Ehen suchen. Wir unterscheiden uns nicht in der Frage, wem wir Priorität zuordnen: Es ist der Mensch, der im Mittelpunkt unserer Sorge steht.
Wir unterscheiden uns allerdings schon in der Beantwortung der Frage, welche Wege wirklich helfen und welche Wege Sackgassen sind - oder Wege, die auf Kosten anderer zum Ziel führen.
Daraus resultieren natürlich auch unterschiedliche Einschätzungen über die Wege, die aus den Beziehungskrisen herausführen. Ich sehe zur Zeit nur zwei grundsätzliche Lösungsansätze; es mag aber sein, dass sich noch weitere Wege auftun werden, die zwischen "Annullierung" und "zurückgestufter zweiter Beziehung" liegen. (Ich habe aber keine Ahnung, was das sein könnte).
Die kirchliche Ehe kennt (falls sie sakramental ist) keine Scheidung - wohl aber eine Annullierung. Während eine Ehe im staatlichen Recht geschieden wird, weil sich z.B. die eheliche Beziehung auseinandergelebt hat, spielt der Ist-Zustand der Ehe für die Annullierung gar keine Rolle. Eine Annullierung schaut nur auf den Zeitpunkt der Eheschließung und fragt, ob es damals schon Umstände gegeben hat, die eine Ehe gar nicht erst haben zustande kommen lassen.
So kann es sein, dass einer der Ehepartner gar nicht heiraten wollte - oder zumindest nicht die christliche Ehe wollte; weil er z.B. falsche Vorstellungen vom Partner, vom Eheleben oder einer möglichen Scheidung hatte; oder psychisch gar nicht in der Lage war, eine Ehe wirklich zu leben... und so fort. Eine Annullierung stellt fest, das eine Ehe gar nicht existiert hat. Eine Scheidung (die es so nur beim Staat gibt), löst eine real-existierende Ehe auf.
Es ist klar, dass eine großzügigere Annullierungsgrundlage kein Allheilmittel ist. Denn wenn größere Ansprüche an das gültige Zustandekommen einer Ehe gestellt werden, dann werden eben viel mehr Ehen als ungültig angesehen - selbst die, die glücklich gelebt und später noch gereift sind.
Aber es wäre durchaus viel gewonnen, wenn die kirchlichen Ehe-Annullierungsverfahren gestrafft und vereinfacht wird; die langen Wartezeiten sind genauso ärgerlich wie unnötig. Auch sollten Ehepartner, die sich außerstande sehen, eine gescheiterte Ehe noch zu retten, besser über die Annullierungsverfahren informiert werden. Manchmal sind selbst Pfarrer und Pastoralreferenten über diese Verfahren nur sehr unzureichend im Bilde.
Der Vorwurf, solche Verfahren seien nur etwas für reiche katholische Adelsfamilien, ist dagegen unberechtigt: Das Verfahren steht allen Katholiken offen und es fallen grundsätzlich nie mehr Kosten an als 100,- Euro für die erste Instanz und 50,- Euro für die zweite. Und selbst diese Beträge werden in Notlagen auch von den Pfarrgemeinden übernommen.
Bereits Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus haben dem zentralen Ehegericht im Vatikan - der "Rota Romana" - aufgetragen, das Annullierungsverfahren und dessen Voraussetzung zu überprüfen und sich immer auch als Seelsorger zu verstehen. Dabei sollten sie selbstverständlich den Schutz der Verheirateten und ihrer Ehen genauso vor Augen haben wie die Not derer, die nach einer ersten, vielleicht ungültigen Ehe eine zweite eingehen wollen.
Beide Päpste haben vorgeschlagen, ob nicht der mangelnde Glaube eines Ehepartners als Annullierungsgrund geprüft werden könne. Ein nichtgläubiger Ehepartner könne wahrscheinlich nicht verstehen und vielleicht auch nicht ermessen, was Kinderwunsch und Unauflöslichkeit wirklich mit der Gültigkeit einer Ehe zu tun haben. Allerdings gilt auf der anderen Seite, dass auch weiterhin die kirchliche Heirat zwischen christlichen und atheistischen Partnern möglich sein soll. Ein Entgegenkommen für die eine Seite bedeutet immer auch die Gefahr einer zunehmenden Ungerechtigkeit auf der anderen Seite.
Es gab im Mittelalter eine "klandestine Ehe" - eine Ehe, die nicht öffentlich oder sogar heimlich geschlossen wurde und manchmal auch auf Dauer geheim bleiben sollte ("klandestin" heißt "unbeobachtet, im Verborgenen befindlich, geheim gehalten"). Eine "klandestine Eheannullierung" hat es jedoch nie gegeben. Ich habe mir den Begriff ausgedacht.
Wir haben nämlich noch kein eigenes Wort für ein Phänomen, dass es heute häufiger gibt: Die subjektive Überzeugung, dass eine geschlossene Ehe ungültig war - aber die Unfähigkeit, diese Überzeugung objektiv zu beweisen.
Ein Eheannullierungsverfahren erwartet aber einen solchen Beweis; auch hier gilt der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten", nur dass der "Beklagte" hier die Ehe ("das Eheband") ist. Die Ehe wird im Zweifelsfall für gültig gehalten, ihre Ungültigkeit muss erwiesen werden (alles andere wäre auch unvernünftig).
Nun gibt es aber zunehmend Fälle, in denen die Ungültigkeit einer Ehe nicht (oder nicht hinreichend) durch Zeugenaussagen aufgezeigt werden kann, obwohl sie subjektiv als sicher angesehen wird.
Entweder weil Zeugen verstorben sind, oder weil den an einer Annullierung desinteressierten Zeugen der Aufwand einer Aussage zu groß ist, oder weil Namen nicht mehr bekannt, Freundschaften nicht mehr existent oder Erinnerungen nicht mehr präsent sind.
Diese Fälle sind nicht gleichzusetzen mit der angeblich autonomen Gewissensentscheidung über die Legitimität einer ersten oder zweiten Ehe: Die Kriterien einer Annullierung sind ja objektiv bekannt und werden akzeptiert. Der Sachverhalt wird nach diesen objektiven Kriterien bewertet. Nur sind die mangelnden Voraussetzungen für eine gültige Ehe manchmal nicht dokumentierbar.
Der Begriff "Josefsehe" klingt nicht gut... Gar nicht gut: »Maria und Josef waren heilig, und Heiligkeit ist so ziemlich das Gegenteil von lebensfroh. Außerdem war Maria ihr Leben lang Jungfrau - der arme Josef!« - Und, was in unserem Fall hinzukommt: Das, was wir heute unter dem Begriff "Josefsehe" verstehen, ist ja gar keine wirkliche Ehe. Und genau deshalb ist sie so interessant; zumindest für unsere Frage.
Aber halten wir erst einmal fest, was eine Josefsehe ist: Die Josefsehe ist tatsächlich keine wirkliche Ehe im vollumfänglichen Sinne. Sie umfasst alles - vom gemeinsamen Leben und füreinander Dasein, der Sorge für evtl. vorhandene Kinder, dem miteinander Leiden bishin zur gegenseitigen Hingabe -; sie ist Lebens- und Liebesgemeinschaft. Aber sie vollzieht nicht den ehelichen Akt. Insofern ist sie als Ehe unvollkommen; gleichzeitig kann sie aber in anderer Hinsicht sehr viel intensiver oder reichhaltiger sein als andere, vollgültige Ehen.
Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, warum es in einer Ehe nicht zum Geschlechtsverkehr kommen kann - von physischer Unfähigkeit bishin zur spirituellen Rücksichtnahme. Eine solche Ehe defizitär oder unvollkommen zu nennen, ist keine Verurteilung: Jede Ehe ist immer in irgendeiner Hinsicht mit Mängel behaftet, wir Menschen sind nun einmal nicht vollkommen. Aber damit darf kein Urteil über die Qualität der Ehe selbst gesprochen werden: Denn eine Ehe, die in einer Hinsicht einen Mangel hat, kann in einer anderen Hinsicht vorbildlich sein.
Mir wäre es lieber, wenn wir den Begriff der "Josefsehe" meiden und stattdessen von einer "Rückstufung der Beziehung" sprechen. Das kann vielleicht für den, der nach einer ersten Ehe bereits in einer zweiten (oder dritten oder...) Ehebeziehung lebt, ein gangbarer Weg sein, der Gültigkeit der ersten Ehe Anerkennung zu schenken und gleichzeitig die Realität der zweiten Beziehung zu respektieren.
Die "Rückstufung einer Beziehung" ist dabei nicht "weltfremd" oder "künstlich", sondern geschieht in allen Beziehungen immer wieder. Sehr oft erkennt man nämlich erst im Nachhinein, dass eine Beziehung (oder deren sexueller Ausdruck) zu weit gegangen ist; ob nun im vorehelichen oder außerehelichen Bereich. Das schmerzt immer und ist nicht leicht; dafür die richtigen Worte zu finden bzw. sie angemessen aufzunehmen, ist eine Charakterstärke, die wir im Laufe unseres Lebens erst gewinnen müssen. Einer guten Freundin zu sagen, dass sie eben nur eine gute Freundin ist und nicht mehr - aber auch nicht weniger -, ist vielleicht sogar das Reifezeugnis für eine echte Beziehungsfähigkeit.
...so wie "Spiderman" am Ende des ersten Teils der Sam-Rami-Verfilmung.
Es ist natürlich etwas sehr viel Schwierigeres, eine solche Rückstufung in einer Beziehung dem Partner vorzuschlagen (oder sich gemeinsam vorzunehmen), wenn die Beziehung den Anschein einer guten und echten Ehe hatte. Das wirkt nicht wie eine "Neujustierung auf einem angemessenen Niveau", sondern sieht klar nach einer "Reduzierung" aus. Seien wir ehrlich: subjektiv ist sie das. - Aber sie kann auch ein Gewinn sein; so wie andere ehe-ähnliche Beziehungen, die auf die Sexualität verzichten müssen, in einer anderen Hinsicht gewinnen können.
Klar: Vielleicht siehst nur Du diese Möglichkeit als denkbar an, aber Dein Partner nicht. Vielleicht bist Du Dir sogar sicher, dass er das nicht mitmachen wird und Eure Beziehung bei einer "Rückstufung" nicht nur reduziert, sondern zerbrechen wird. Das kann durchaus sein. Die Möglichkeit der Rückstufung ist vielleicht nicht für alle eine wirkliche Lösung - zumindest keine glatte Lösung.
Aber vielleicht ist die Rückstufung für Euch beide ja ein möglicher Weg. Dann denk aber bitte daran, dass es nicht nur darum geht, einfach auf Sex zu verzichten - weder aus Prinzip noch aus Gehorsam oder Gesetzesfrömmigkeit. Es geht um Deinen ersten Ehepartner und darum, für ihn eine Tür offen zu halten. Und zwar sichtbar.
Mag sein, dass Dein erster und aktueller Ehepartner davon niemals etwas mitbekommen wird (wobei: Weiß man's?). Aber Zeichen, die Du setzt, bewirken auch in Dir etwas. Und gute Zeichen bewirken in Dir Gutes.
Und noch mehr: Nicht unterschätzen solltest Du auch die Wirkung, die Du mit diesem Zeichen auf alle anderen Menschen ausübst: Auf die Verliebten, die sich Deine Treue zum Vorbild nehmen; auf die Verheirateten, die durch Dich hoffen, auch selbst die Treue so leben und erfahren zu dürfen; auf die in eine Krise geratenen Eheleute, die sehen, was es heißt, sich von einem Ehepartner abzuwenden, der sein Eheversprechen ernstnimmt; auf die Nicht-Christen, die Nicht-Glaubenden; die ebenfalls Verlassenen und Gescheiterten; die, die ihren Partner vorsätzlich und rücksichtslos verlassen haben - usw.
Ein solches Zeichen ist mehr als nur Enthaltsamkeit. Es kann bedeuten, dass Du mit Deinem zweiten Partner nicht in einer Wohnung lebst - weil dieser Platz reserviert bleiben soll. Oder dass Ihr zumindest auf den gemeinsamen Urlaub verzichtet; oder dass Ihr nicht standesamtlich heiratet und keinen gemeinsamen Namen führt; oder dass Ihr Euch auch in der Öffentlichkeit wie Freunde und nicht wie Ehepartner verhaltet... Das sind nur Vorschläge: Nicht alles ist möglich, wenn man schon seit längerem in der zweiten Beziehung lebt. Und nicht alles, was möglich ist, ist wünschenswert. Aber bedenkt bei allem, was ihr tut: Ihr seid ein Zeichen für andere. Immer.
Vielleicht ist es nicht möglich, die zurückgestufte Beziehung in allen Bereichen nach außen sichtbar zu machen - für andere Menschen, die nur das Äußere sehen, wird es weiterhin wie eine Ehe aussehen. In solchen Fällen kann eine Wiederzulassung zur Kommunion für Ärgernis sorgen. Wenn nach außen hin die "Zurückstufung" nicht sichtbar gemacht werden kann, so gilt das, was Erzbischof Jean Jérôme Hamer, der Sekretär der Glaubenskongregation, bereits 1971 schreibt:
"Diesen Ehepaaren kann unter zwei Voraussetzungen erlaubt werden, die Sakramente zu empfangen: dass sie bemüht sind, den Anforderungen christlicher Moralprinzipien gemäß zu leben und dass sie die Sakramente in Gotteshäusern empfangen, in denen sie niemand kennt, sodass sie keinerlei Ärgernis hervorrufen."
Ja, das ist schwer. Vielleicht ist die zurückgestufte Beziehung sogar eine noch größere Herausforderung, als die "zweite Ehe" aufzugeben. Über die zahlreichen Fähigkeiten, die Du dabei herausbilden musst, will ich hier nicht reden - Selbstbeherrschung und Kreativität sind nur zwei davon. Ich bin mit einigen Paaren darüber schon seit Jahren im Gespräch; und wir lernen immer noch dazu.
Letztlich ist es Deine Entscheidung (natürlich in Abstimmung mit Deinem Partner und evtl. Deiner Familie). Ich schreibe Dir nichts vor. Aber ich möchte auch keinen Etikettenschwindel betreiben:
Weg eins: Eine (zweite) Ehe zu leben, die keine ist, belastet: Dein Verhältnis zu Gott, zur Kirche und Dich selbst - und auch diejenigen, die auf ein unbedingtes Versprechen Deinerseits bauen.
Weg zwei: Eine (zweite) Ehe aufzugeben, obwohl sie glücklich ist und Wunden geheilt hat, ist ebenfalls eine schwere Last. Sie zu tragen, kann neue Wunden reißen.
Weg drei: Eine (zweite) Ehe zurückzustufen auf eine "freundschaftliche Lebenspartnerschaft" ist wiederum eine Last - aus einer unbeschwerten sexuellen Beziehung wird nun ein ständiger Kampf mit den eigenen Leidenschaften. Aber es kann sich lohnen - ja, es kann sogar eine Bereicherung der zweiten Partnerschaft sein.
In einer eheähnlichen Partnerschaft auf Sex zu verzichten, kann eine Bereicherung sein?! Ich kann mir vorstellen, dass Du den Kopf schüttelst... und vielleicht denkst, dass für einen schwärmerischen Prediger alles "irgendwie" eine Bereicherung sein kann.
Aber ich habe die konkrete Erfahrung gemacht, dass manchmal ein "bester Freund" oder eine "beste Freundin" der eigenen Seele näher sein kann als der Ehepartner - vielleicht auch gerade, weil er/sie kein Sexpartner ist. Überhaupt spielt die gelebte Sexualität mit der zunehmenden Reife einer Beziehung oft eine immer geringere Rolle. Das mag ein seltsamer oder gar verstaubter Blickwinkel sein. Aber vielleicht hilft Dir einfach die Erfahrung anderer, dass eine Beziehung ohne Sex nicht unbedingt eine schlechtere Beziehung sein muss.
"Und - wenn Du in einer "zurückgestuften Beziehung" den Reizen Deines Freundes (Deiner Freundin) unterliegst und es dann doch wieder zum Geschlechtsverkehr gekommen ist - dann kannst Du es ja beichten."
Wieder so eine Aussage, bei der ich wetten möchte, dass sie bei vielen Lesern ein lautes Lachen gepaart mit einem kleinen Wutanfall auslöst. Ist das nicht scheinheilig? Um der seelischen Reinheit willen Dinge beichten, die man gar nicht bereut? Oder aus religiösen Gründen etwas zu bereuen, dass man doch eigentlich genießt?! Heuchelei! Pharisäer! Grauenhaft!
Naja - vielleicht reagierst Du gar nicht so. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mit diesem Vorschlag fast nur auf Hohn und Spott stoße. Schön, wenn das bei Dir nicht der Fall ist!
Dabei sind mehrere Dinge zu bedenken:
(1) Viele erwarten die Freigabe der zweiten Ehe als ein gutes Recht des in der ersten Ehe Gescheiterten; sie empfinden den Vorschlag, das (nach christlich-kirchlichem Verständnis) Sündige in der zweiten Ehe zu beichten, als Zumutung und Arroganz. Leider kann ich aber an diesen Vorgaben nichts ändern: Die erste Ehe mag gescheitert sein, aber sie besteht noch. Die zweite Ehe ist selbst dann nicht in Ordnung, wenn sie wunderbar erscheint.
(2) Du sollst ja nicht den Sex mit einem Menschen bereuen, weil er (der Sex) schlecht gewesen ist. Vermutlich genießt Du es - die Sexualität und die sexuellen Freuden sind ja schließlich von Gott gewollt und geschaffen. Dennoch kann etwas, das sich wunderbar anfühlt, nicht in Ordnung sein.
Auch ein Wellness-Urlaub ist wunderbar, selbst wenn er mit gestohlenem Geld bezahlt wird. Du solltest - falls Du der Dieb bist - nicht den Urlaub bereuen (der war wirklich schön!), sondern den Umstand, ihn auf Kosten anderer zu genießen.
So sollte auch jemand, der fremdgeht und damit seinen Ehepartner betrügt, nicht den Sex als solchen bereuen, sondern die Tatsache, dass die an sich gottgewollten Freuden der Sexualität entgegen dem Treueversprechen und Vertrauen des Ehepartners genossen werden.
Jede Sünde, die Du begehst, hat immer etwas, das Du genießt - sonst würdest Du ja nicht sündigen. Das gilt auch für eine Freundschaft mit einem wunderbaren Menschen, der Dir zur Seite steht, während Du Dich von Deinem eigentlichen Ehepartner entfremdet hast: Wenn diese Freundschaft zum Sex führt, musst Du weder die Freundschaft noch den Sex bereuen.
(3) Und ja, Du kannst auch etwas bereuen und beichten, von dem Du Dir sicher sein kannst, dass Du auf Dauer wieder schwach wirst. Auch das ist bei allen unseren Sünden so: Ich beichte, dass ich gelogen habe - und ich weiß, dass ich es auf Dauer nicht schaffen werde, bei der Wahrheit zu bleiben. Aber das ist nicht entscheidend, wichtig ist, dass Du Dir wünschst, es zu schaffen. - So ist es schon entscheidend, ob Du wirklich verstehst und zustimmst, eine "zurückgestufte Beziehung zu leben". Auch dann, wenn Du Dich nach den Berührungen und sexuellen Zuwendungen sehnst - und auch dann, wenn Du davon ausgehst, dass die Attraktivität Deines Freundes/Freundin auf Dauer stärker ist als Dein Wille.
Letztlich müssen wir uns immer Sünden abgewöhnen und uns dem Guten nach und nach immer mehr öffnen. Das gilt noch viel mehr für einen so tiefen Einschnitt wie eine "zurückgestufte Beziehung".
Aber - und das ist ganz wichtig: Gott will, dass Du weiterhin in Beziehungen lebst! Unterscheide deshalb immer zwischen den Handlungen, die der Ehe vorbehalten sind, und der vertrauensvollen Beziehung selbst. Gott will keinen Abbruch von Beziehung, sondern die Vertiefung und Einordnung in ein größeres Ganzes!
Die Hindernisse dazu legt Dir nicht die Kirche in den Weg - sie ergeben sich leider aus den Schwächen der Menschen. Vielleicht akzeptiert Dein Partner Deinen Entschluss nicht; vielleicht musst Du die Beziehung ganz aufgeben, weil eine Rückstufung für Dich oder den Partner offenbar nur Schmerzen bereitet. Das wäre bitter und sicherlich nur eine Notlösung. Besser wäre es, wenn Du mit den Menschen, denen Du vertraust und die schon so viel für Dich getan haben, in einer weiterhin guten Beziehung bleibst!
Wer sich nur aus der Boulevard-Presse über die katholische Kirche informiert, der könnte den Eindruck haben, die kirchliche Verkündigung hätte kein anderes Thema als die Sexualität. Ein Blick dagegen in den Katechismus der Kirche, eine Dogmensammlung, oder schließlich in die Bibel selbst lässt den gegenteiligen Eindruck entstehen: Wer dort etwas über die Sexualität lesen will, der muss richtiggehend suchen. In der Bibel wird man sogar schneller fündig als im Katechismus.
Woran liegt diese unterschiedliche Wahrnehmung? Die Schuld allein den Medien zuzuschieben, wäre voreilig; denn die Nachrichten-Redaktionen wählen auch nur die Themen aus, die sich gut verkaufen lassen. Die Aussagen der Kirche stoßen offensichtlich auf großes Interesse und Entsetzen gleichermaßen - und zugleich will die Kirche von ihren Aussagen nicht lassen.
Dabei wäre es doch ein leichtes, die Sexualmoral zu ändern und zu modernisieren (in der evangelischen Kirche geht's doch auch) oder - vielleicht noch besser - einfach beiseite zu lassen. "Warum mischt sich die Kirche in mein Sexleben ein?!" ist ein häufiger Protest, der durch eine einfache Streichung der entsprechenden Inhalte aus der Lehre der Kirche zu entkräften wäre.
Nun kann die Kirche die Moral nicht einfach nach ihrem Gutdünken ändern (darauf haben wir in zahlreichen Katechesen ausführlich hingewiesen); genauso wenig kann eine Gesellschaft moralische Grundsätze nach eigenem Belieben aufstellen.
Es ist klar: Die Kirche kann nicht einfach den Hexen oder Andersgläubigen das Lebensrecht absprechen - genausowenig wie ein Staat Juden oder Homosexuelle vergasen darf. Die Menschenrechte sind allen Staaten, Kulturen und Religionen vorgegeben.
Aber - so meinen manche - die Sexualmoral gelte eben nicht für alle Staaten, Kulturen und Religionen. Dieser Bereich der Moral sei subjektiv, zeitbedingt und relativ und habe sich eben oft gewandelt; was früher verboten war, ist heute üblich. Die Kirche habe diese Entwicklung nicht mitgemacht, vermutlich aus Unaufmerksamkeit für die wirklichen Belange des Menschen. Das wäre schlimm; noch schlimmer erscheint unseren Zeitgenossen allerdings der wahre Grund für das Festhalten an der überlieferten Moral auch in sexuellen Fragen: Wir Katholiken glauben, die Sexualmoral beschreibt (wie das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit) tatsächlich ein überzeitliches Menschenrecht.
Das allein scheint vielen Zeitgenossen schon bizarr. Sexualität? Das ist doch eine Triebbefriedigung wie das Essen oder Trinken! An einer Sexualmoral festhalten, die sich seit der Antike nicht mehr gewandelt hat, ist so ähnlich, wie an der Ernährungslehre der alten Ägypter festzuhalten und dafür lieber Mangelernährungen und Krankheiten in Kauf zu nehmen. Ja, noch schlimmer: Die Kirche schließt sogar Menschen aus ihren Reihen aus, die eine abweichende Ansicht zur Sexualität haben! Das ist ja genauso idiotisch wie Vegetarier den Zutritt zur Metzgerei zu verwehren!
Einfach absurd, diese Kirche.
Wie soll ich aus dieser Analyse herauskommen? Wir kann die Kirche überhaupt aus dieser Situation entkommen? - Nun, ich behaupte nicht, den alleinigen Ausweg zu kennen. Es gibt vermutlich vieles, das die Kirche ändern sollte - in ihrer Sprache, in ihrem Denken und in ihrer Verkündigung. Aber eben nicht in ihrer Moral; auch nicht in ihrer Sexualmoral. Erneuern kann sie allerdings, wie sie diese erklärt.
Lange Zeit hatte die Kirche eine Begründung ihrer Normen nicht nötig - sie galten lange genauso unhinterfragt, wie die moralische Feststellung, dass man seine Mutter nicht schlagen darf. Irgendwann hat die Kirche (also: ihre Mitglieder, vom einfachen Christen bishin zu den Priestern und Bischöfen) verlernt, zu begründen, was sie zur Sexualität zu sagen hat. Schließlich hat sie begonnen, über dieses Thema zu schweigen; aus Sprachlosigkeit wurde letztendlich Hilflosigkeit.
"The way back" besteht also darin, die Einsichten wieder auszugraben, die zur christlichen Sexualmoral geführt haben; die Gründe wieder zu sehen; angemessene Worte zu finden und schließlich voller Überzeugung und Warmherzigkeit vom unverzichtbaren Wert der Sexualität zu reden.
Sexualität ist nämlich nicht auf den Sexualtrieb zu reduzieren. Sexualität ist eine Sprache der Liebe; die Umsetzung von tiefer seelischer Zuneigung in einen körperlichen Ausdruck. Gott hat so einen Weg auch gewählt, als er Mensch wurde - der irdische Leib und die Seele Jesu geben uns die Möglichkeit, der himmlischen Liebe Gottes zu begegnen. Sexualität ist eben nicht nur (wie z.B. Essen und Trinken) ein Trieb der Selbsterhaltung, der durch Kultur etwas aufgewertet wird. Aus dem Trieb (der uns Menschen mit dem Tier verbindet) wurde durch die Freiheit des Menschen (die uns vom Tier unterscheidet) unsere Gottebenbildlichkeit. Mann und Frau sind Ebenbild Gottes: Sie lassen die Liebe (ihre größte geistige Freiheit) in einem körperlichen Ausdruck Wirklichkeit werden.
Wir könnten auch darauf verweisen, dass Jesus viele Gebote des Alten Testamentes gebrochen und unnütze Traditionen der Menschen aufgehoben, aber mehr als ausdrücklich gerade die Unauflöslichkeit der Ehe wieder ins Bewusstsein gerufen hat. Die Idee, die Ehemoral (und damit verbunden auch die Sexualmoral in dem Sinne, in dem sie heute angegriffen wird) sei nicht zeitbedingt, sondern "göttlichen Rechts", hat sich die Kirche also nicht selbst ausgedacht; diese Erkenntnis wurde ihr von Jesus eröffnet.
Wir könnten darauf verweisen - aber ich gebe zu, in der Diskussion mit Menschen, die sich schon um einiges von Glauben und Kirche entfernt haben, bewirkt das Argument nicht viel, wenn Jesus für sie kein Maßstab ist. Für die Kirche ist er das natürlich, und daher die Ehemoral auch unaufgebbare Pflicht, die vom Herrn persönlich bekräftigt wurde.
Moral soll dieses hohe Gut schützen. Moral heißt nicht, alles bis ins Kleinste zu regeln; die Kirche will also niemandem bis ins Schlafzimmer hinein vorschreiben, was genau er zu tun hat. Aber - und daran halten wir unvermindert fest - wenn unsere Beziehungsfähigkeit etwas mit dem ewigen Heil zu tun hat (und Sexualität ist nichts anderes als ausgedrückte Beziehung), dann gibt es schon einiges, dass Du nicht darfst. Wenn "Beziehungsfähigkeit" sogar mit "Heiligkeit" umschrieben werden kann, dann ist es unsere Pflicht vor dem zu warnen, was Deine Beziehungsfähigkeit ruinieren kann - oder die Beziehungsfähigkeit derjenigen, die Du verletzt. Wenn wir den ermutigen sollen, der seine irdische Zeit nutzt, um in seiner Beziehungsfähigkeit zu wachsen und zu reifen, dann müssen wir auch den warnen, der seine Beziehungsfähigkeit aufs Spiel setzt. Somit ist die Frage nach Ehe, Familie, Sexualität und Liebe immer auch eine Frage der Moral: Nirgendwo ist der Mensch so verletzlich wie da, wo sein Leib zum Ausdruck von Liebesbeziehungen bestimmt ist. Kaum eine Sünde trifft den Menschen so sehr ins Mark wie sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, Ehebruch, sexualisierte Gewalt, Zwangsprostitution und Menschenhandel.
Eine Theologie des Leibes ist nötig, denn die Welt, in der wir leben, zeichnet sich im Gegensatz zur katholischen Theologie nicht durch größere Leibfreundlichkeit aus, sondern durch zunehmende Geringschätzung des Leiblichen. Unsere Zeit ist auf eine hintergründige Weise viel leibfeindlicher, als es frühere Zeiten gewesen sind. Eine neue Wertschätzung des Leibes und eine Aufwertung der Sexualität - auch in der Verkündigung! - ist notwendig. Reden wir wieder von der Liebesbeziehung von Mann und Frau, durch die sie ein Bild unserer Gottesbeziehung ist!
(Siehe dazu die Katechese zur Sexualität, zur Ehe und zum 6. Gebot).
Ich werde oft darauf angesprochen, dass es doch seltsam ist, dass gerade in dieser Frage nicht nur die Ansichten von Bischöfen und Kirchenvolk auseinandergehen (das kommt vor, viel häufiger, als man denken mag!), sondern dass sogar die Bischöfe unter sich sehr unterschiedlicher Meinung sind - und sogar Kardinäle sich gegenseitig korrigieren. Dabei sind sich fast alle Kardinäle, Bischöfe, Priester und Theologen einig: An der Würde und dem Schutz der Ehe soll nicht gerüttelt werden. Was für moralische Konsequenzen aus dem "Schutz der Ehe" folgen, wird dann überraschend kontrovers diskutiert.
Woher kommt das?
Nun - wir sind alle Kinder unserer Zeit. Es gibt offensichtliche Zeiterscheinungen, die wir bemerken, die wir nicht wirklich wollen und deshalb auch klar ablehnen können. Aber manche Entwicklungen sind so hintergründig, dass wir sie kaum wahrnehmen - und uns deshalb nur schwer davon frei machen können.
Für die Frage nach der Ehemoral (also nicht nur für die Frage nach Scheidung und Wiederheirat, sondern auch für die Definition von Ehebruch, die Bewertung von außerehelichem Geschlechtsverkehr und homosexuellen Beziehungen) ist in der katholischen Theologie immer wieder ein Gedanke entscheidend: Der Geschlechtsverkehr soll ehegründend sein; deshalb wird er auch in kirchlichen Texten immer der „eheliche Akt“ genannt.
Einmal angenommen, wir würden das nicht mehr so sehen. Nehmen wir einmal an, der Geschlechtsverkehr sei schon etwas ganz besonderes, aber eben nicht unlösbar mit dem Eingehen einer Ehe verknüpft; angenommen, der einvernehmlicher Sex von ‚consenting adults’ (freien und erwachsenen Menschen) sei nichts anderes als die freie Betätigung zweier Menschen, die einander körperlich genießen wollen, mit mehr oder minder großer Liebe zueinander: dann würde sich die ganze katholische Sexualmoral in Wohlgefallen auflösen. Der strategische Vorteil liegt auf der Hand: Es gäbe keinen Konflikt mehr zwischen Welt und Kirche; keinen Konflikt mehr zwischen Christ-sein und Zeitgenosse-sein - zumindest nicht in dieser Frage.
Es geht hier nicht um eine Strategie, Attraktivität der Kirche zu vergrößern; es geht um eine Sachfrage: Ist eine körperliche Handlung (der Geschlechtsverkehr) von so enormer Bedeutung, dass davon die Beziehungen des Menschen lebenslang beeinflusst werden? Und zwar in rechtlicher, theologischer, spiritueller und gesellschaftlicher Hinsicht? Oder, nochmal: Ist der eheliche Akt ehegründend?
Natürlich kommt nicht bei jedem Geschlechtsverkehr tatsächlich eine Ehe zustande. Aber wenn der "eheliche Akt" ehegründend ist, dann ist der Sex außerhalb der Ehe oder ohne Ehewillen ein Mangel - oder gar eine Lüge. Nicht gut. Gar nicht gut.
Der Vorschlag, dem Geschlechtsverkehr nicht mehr die ehegründende Wirkung zuzumessen, sondern die Ehe nur noch als Vertrag anzusehen, der eben durch den Ehewillen geschlossen wird, mag modern sein - er ist aber nicht katholisch, ja nicht einmal natürlich. Weil (aufgepasst, jetzt kommt eine Überraschung) er leibfeindlich ist. Denn eine Ehe, die nur noch durch einen Willensakt geschlossen wird, aber keine leibliche Entsprechung mehr hat, entleert die Sexualität und macht die Ehe zu einer leiblosen Einrichtung.
Das war die Überraschung: Die Kirche, der doch immer Leibfeindlichkeit vorgeworfen wird, ist so, wie sie ist, weil sie eben nicht die unbemerkte, wahre Leibfeindlichkeit der Welt übernehmen kann und will!
Es mag seltsam klingen, dass die Kirche an einer Bedeutung der Sexualität festhält, von der die Zeitgenossen glauben, dass sie dadurch zahlreicher Freuden beraubt werden. Aber damit müssen wir wohl leben. Wer aber erkennt, dass die Kirche nichts anderes möchte, als die Einheit von geistigem Entschluss ("Nur du, und du für immer!") und seinem körperlichem Ausdruck zu schützen, der wird uns verstehen. Selbst, wenn er nicht gläubig und auch nicht katholisch ist.