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Grundkurs des Glaubens - Der Glaube in der Kritik

Im Religionsunterricht tauchen die großen Religionskritiker noch auf: Feuerbach, Marx und Freude (gelegentlich gefolgt von Nietzsche). Aber sie scheinen nicht mehr so recht in unsere Zeit zu passen; angeblich seien ja die Erkenntnisse der Naturwissenschaften allein schon Dolchstöße für die Religionen. Beide Annahmen sind jedoch voreilig. Die Naturwissenschaften sind (wie wir am zweiten Abend gesehen haben) wenig geeignet, den Glauben an Gott zu widerlegen. Und die klassischen Religionskritiker des 19. Jahrhunderts sind aktueller, als wir manchmal glauben. Deshalb ist es immer noch sinnvoll, sich mit ihnen zu beschäftigen - inklusive der stets drängenden Frage nach der Theodizee - der Frage nach Gott angesichts des Leids in der Welt.

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3. Abend zur Fundamentaltheologie: Der Glaube in der Kritik: Übersicht

I. Religionskritik
1. Feuerbach, Marx und Freud üben Kritik
a. Ludwig Feuerbach
b. Karl Marx
c. Siegmund Freud
2. Religionskritik in der Kritik
3. Nietzsche denkt die Kritik zu Ende

II. Die Theodizeefrage
1. Die Theodizeefrage in der Philosophie
a. Epikur
b. Augustinus
c. Leibniz
2. Fragen und Antworten
3. Eine christliche Antwort

I. Religionskritik

Neben dem ersten Schritt, der Gotteskritik, die die Möglichkeit, eine transzendente Wirklichkeit anzunehmen, zu erweisen und zu erfahren, grundsätzlich in Frage stellt, richtet sich die Religionskritik nicht mehr auf diese Frage. Die großen Religionskritiker betrachten die Frage nach der Existenz Gottes als längst beantwortet und hinterfragen lediglich, warum die Religion noch weiterhin existiert. Vor allem Feuerbach, Marx und Freud sehen hierin ein Hindernis zum Wohlergehen des Menschen, während Nietzsche richtig erkennt, dass die Abschaffung (»Tötung«) Gottes größeres Unheil bedeutet. Die Theodizee (in ihrer religionskritischen Variante) fragt schließlich, ob angesichts des Leids in der Welt der christliche Gott existiert.

1. Marx, Feuerbach und Freud üben Kritik

Zumindest im Religionsunterricht der Oberstufe gehören Feuerbach, Marx und Freud zu den Klassikern der Religionskritik. Aber auch darüber hinaus sind zumindest ihre Theorien bekannt und verbreitet. Die Frage muss also erlaubt sein: Haben diese drei »Musketiere» (zusammen mit »d’Artagnan» - dem Draufgänger Nietzsche) Gott den endgültigen Todesstoß versetzt? Nun, zunächst einmal in Kurzform, was die drei eigentlich gesagt haben:

a. Ludwig Feuerbach. — Ludwig Andreas Feuerbach (1804-1872) war ein deutscher Philosoph und Anthropologe und gilt als Begründer der neuzeitlichen Religionskritik.

Gott - eine Projektion des Menschen. — Unser Verhältnis zur Religion ist kein nur verneinendes. sondern ein kritisches; wir scheiden nur das Wahre vom Falschen - obgleich allerdings die von der Falschheit ausgeschiedene Wahrheit immer eine neue, von der alten wesentlich unterschiedene Wahrheit ist. Die Religion ist das erste Selbstbewusstsein des Menschen. Heilig sind die Religionen, eben weil sie die Überlieferungen des ersten Bewusstseins sind. Aber was der Religion das Erste ist, Gott, das ist, wie bewiesen, an sich, der Wahrheit nach das Zweite, denn er ist nur das sich gegenständliche Wesen des Menschen, und was ihr das Zweite ist, der Mensch, das muss daher als das Erste gesetzt und ausgesprochen werden. Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muss zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige, zuverlässige Macht. Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muss auch praktisch das höchste und das erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est - dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte. (Ludwig Feuerbach)

Mit anderen Worten: Der Mensch leidet daran, dass er nicht das ist, was er gerne wäre - deshalb erfindet er Gott. Gott ist eine Projektion menschlicher Sehnsüchte und Wünsche. Alles, was der Mensch in sich an Positivem entdeckt, schreibt er Gott zu - dem Menschen bleibt nur der negative Teil des Kuchens.

Feuerbach verlangt, um des Menschen willen, dass die Vorstellung von einem Gott abgeschafft wird. Erst dann, wenn wir nicht mehr einem fiktiven Gott dienen, können wir den Menschen in den Blick nehmen. Solange der Gottesglaube fortbesteht, wird der Mensch vernachlässigt; denn wirkliche Nächstenliebe ist nur dann möglich, wenn sie um des Menschen willen geschieht - und nicht, weil Gott es verlangt.

b. Karl Marx. — Karl Marx (1818-1883), der Begründer des Kommunismus, war nicht primär Religionskritiker. Trotzdem hat Marx einige neue Perspektiven zur Begründung des Atheismus entdeckt, indem er auf gesellschaftliche Ursachen bei der Entstehung und Entwicklung der Religion hin wies.

Opium des Volks. — Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.
Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die ,Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven’. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts; die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.
Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. (Karl Marx)

Mit anderen Worten: Marx hält die Religion für ein Rauschmittel, zu dem der Mensch greift, weil er die Wirklichkeit nicht mehr ertragen kann. Das hat natürlich fatale Folgen: Anstatt die Wirklichkeit zu verändern, verfällt der Mensch in Lethargie und wartet einfach auf die Erlösung und das Jenseits. Gerade dadurch wird die Wirklichkeit aber immer grausamer.

Auch Marx fordert daher die Abschaffung der Religion - um des Menschen willen. Der Mensch wird erst dann die Umwälzung der Gesellschaft in seine Hände nehmen, wenn er vom Rausch der Religion befreit ist.

c. Sigmund Freud. — Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud (1856-1939), hat bei seinen Patienten in Wien auch Religion und Gottesglauben gefunden. Er hat die Religion in seinen Schriften als krankhafte Neurose und Illusion gedeutet. Seine Religionskritik weist einige Parallelen zu Feuerbach auf.

Religion ist eine Illusion. — In vergangenen Zeiten haben die religiösen Vorstellungen trotz ihres unbestreitbaren Mangels an Beglaubigung den allerstärksten Einfluss auf die Menschheit geübt. Das ist ein neues psychologisches Problem. Man muss fragen, worin besteht die innere Kraft dieser Lehren, welchem Umstand verdanken sie ihre von der vernünftigen Anerkennung unabhängige Wirk­samkeit?
Ich meine, wir haben die Antwort auf beide Fragen genügend vorbereitet. Sie ergibt sich, wenn wir die psychische Genese der religiösen Vorstellungen ins Auge fassen. Diese, die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit - das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz - Schutz durch Liebe - erweckt, dem der Vater abgeholfen hat. Die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines - aber nun mächtigeren - Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen. Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wissbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nie ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden. (…)
Wenden wir uns nach dieser Orientierung wieder zu den religiösen Lehren, so dürfen wir wiederholend sagen: Sie sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar, niemand darf gezwungen werden, sie für wahr zu halten, sie zu glauben. Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich, so sehr im Widerspruch zu allem, was wir mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, dass man sie - mit entsprechender Berücksichtigung der psychologischen Unterschiede - den Wahnideen vergleichen kann. Über den Realitätswert der meisten von ihnen kann man nicht urteilen. Sowie sie unbeweisbar sind, sind sie auch unwiderlegbar. (Sigmund Freud)

Mit anderen Worten: Der Mensch sehnt sich nach einem unfehlbaren Vater - und erkennt am Ende seiner Kindheit, dass der eigene, menschliche Vater diese Sehnsucht nicht erfüllen kann. Also denkt er sich einen himmlischen, allmächtigen Vater - und glaubt an ihn.

Freud hält sich gar nicht mehr mit der Forderung auf, die Religion müsse abgeschafft werden, er geht davon aus, dass dies in unmittelbarer Zukunft ohnehin geschieht.

Mit Feuerbach, Marx und Freud haben wir sozusagen die drei Musketiere der Religionskritik kennengelernt, die alle einen ähnlichen Grundsatz verfolgen. Der vierte Musketier, Friedrich »d’Artagnan» Nietzsche, weicht davon ab - dazu gleich mehr.

Fazit

Feuerbach, Marx und Freud beschäftigen sich nicht mit der Frage, ob es einen Gott gibt - sondern nur mit der Frage, wie Religion entsteht. Die Frage nach Gott halten sie für (negativ) beantwortet. Dass Menschen dennoch immer noch glauben, müsse wohl psychische bzw. gesellschaftliche Ursachen haben.

2. Religionskritik in der Kritik

Grundsätzlich gilt, dass Feuerbach keine echte Widerlegung der Existenz Gottes versucht, sondern sich vor allem fragt, warum die Menschen (unter der Annahme, es gäbe keinen Gott) noch an Gott glauben. (Das gleiche gilt auch für Marx und Freud, die das sogar ausdrücklich betonen). Alle Religionen behaupten, sie würden deshalb an Gott glauben, weil es Ihn gebe und sie sich somit nur der Realität entsprechend verhalten. Ludwig Feuerbach antwortet nicht, wie es zu erwarten wäre, indem er sich der Frage annimmt, wie denn die Realität tatsächlich beschaffen ist, ob dort denn ein Gott zu finden ist oder ob es dort zumindest Hinweise auf die Existenz eines Gottes anzutreffen sind. Er nimmt sich der Behauptung der Religion »Wir glauben an Gott, weil es ihn gibt!» an und widerspricht: »Nein, Ihr glaubt an Gott, weil Ihr Eure Wünsche auf ein jenseitiges Wesen projiziert!»

Natürlich ist dieser Widerspruch kein wirkliches Argument gegen die Existenz Gottes; er erfolgt ja auch nicht auf der Ebene der Wirklichkeitsbeschreibung (»Schauen wir mal, ob wir in der Realität einen Gott finden…»), sondern auf der Ebene der Psychologie (»Wie kommt es, dass Ihr glaubt, dass es einen Gott gibt?»). Eine solche Verlagerung in die Psychologie ist nur dann berechtigt, wenn von vornherein klar ist, dass es sich bei dem Geglaubten um ein Hirngespinst handelt. So wird auch kein Arzt, dem von einem Patienten berichtet wird, in seinem Haus wimmele es von lachenden und beleidigenden weißen Mäusen, zunächst nachprüfen, ob diese Mäuse real vorhanden sind, sondern sofort fragen, woher es komme, dass der Patient so etwas (erwiesenermaßen Verrücktes) behauptet.

So ähnlich dachten auch die Zeitgenossen Feuerbachs, Marx’ und Freuds: Da der Glaube an einen lebendigen, wunderwirkenden Gott erwiesenermaßen verrückt ist, stellt sich die Frage nicht, ob er vielleicht doch existiert. Es gilt lediglich zu erklären, warum diese Krankheit - der christliche Glaube - noch immer existiert und so schwer auszurotten ist. Freuds, Feuerbachs und Marx’ Kritik ist eine Kritik post iudicatum: Zuerst wird der Schluss gefasst, dass es Gott nicht gibt, und danach wird versucht, eine Erklärung für die (penetrante sich behauptende) Existenz der Religion zu finden. Diese Religionskritiken sind also nicht Widerlegung der Existenz Gottes, sondern eine psychologische Begründungen für einen Glauben an Gott unter der (unbewiesenen Voraussetzung), dass Gott nicht existiere.

Allerdings dürfen wir auch mit den Kritikern des Glaubens an Gott nicht zu hart sein:

Die Argumentation auf der Ebene der Wirklichkeitsbeschreibung (»Finden wir in der Realität einen Gott oder zumindest Hinweise auf Ihn?») ist deutlich schwerer zu führen als auf der psychologischen Ebene (»Wie können wir erklären, dass Menschen an Gott glauben?»).

Ein logisch unangreifbarer Beweis, dass Gott nicht existiert, ist kaum zu führen; vielleicht sogar gar nicht: Der sogenannte »Nicht-Existenz-Beweis» ist naturwissenschaftlich nicht möglich; wohl auch nicht in Bezug auf Gott.

Was möglich wäre, ist eine kritische Beleuchtung der von den Gottesgläubigen angeführten Gründe für die Existenz Gottes.

Allerdings begründen viele gottesfürchtige Menschen ihren Glauben selbst psychologisch (»Der Glaube gibt mir Kraft, Zuversicht und Mut»; »Ich könnte ohne einen Glauben an ein ewiges Leben nicht durchhalten»; »Hätte ich meinen Glauben nicht gehabt, so wäre ich sicherlich innerlich zerbrochen»). All diese von überzeugt glaubenden Menschen angeführten Gründe sind nicht wirklich Argumente für die Existenz Gottes - sondern nur psychologische Gründe für die Annahme des Glaubens.

Letztlich müssen wir, die wir von der Existenz Gottes überzeugt sind, argumentativ in Vorleistung gehen und darlegen, warum wir davon überzeugt sind, dass Gott in Wirklichkeit existiert. Feuerbach, Marx & Co. dürfen dann, wenn sie mögen, unsere Argumente beleuchten, zerpflücken und widerlegen. Falls ihnen das gelänge, hätten sie zwar immer noch keinen Beweis geliefert, dass Gott wirklich nicht existiert - aber doch zumindest alles auf der argumentativen Ebene getan, um bei ihrer Wirklichkeitsauffassung (nämlich einer Wirklichkeit ohne Gott) zu bleiben und - immerhin - eine echte Pattsituation erreicht.

Natürlich glauben Feuerbach, Marx, Freud und ihre heutigen Nachfolger, dass es solche Argumente (»Hinweise auf die Existenz Gottes») nicht gibt und machen sich weder die Mühe, sie in Ruhe anzuhören, geschweige denn zu bewerten. Das ist ihr eigentliches Manko.

Fazit

Neben dem Fehlen von Argumenten gegen die Existenz Gottes finden sich bei Feuerbach, Marx und Freud zudem viele Fehlurteile bezüglich der Entstehung von Religiosität und dem Wesen von Glauben.

3. Nietzsche denkt die Kritik zu Ende

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900) gehört zu den großen Kritikern des Christentums im 19. Jahrhundert. Das Wort vom »Tod Gottes« findet sich in seinen Schriften häufig, am eindrucksvollsten in dem Werk »Die fröhliche Wissenschaft« (1881/82):

Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!» - Da dort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen, ausgewandert? - so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?» rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich. Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was täten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - Auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« (…) Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Ruhe gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?« (Friedrich Nietzsche)

Mit anderen Worten: Nietzsche glaubt keineswegs an die Verheißung der anderen drei Religionskritiker, mit der Abschaffung Gottes beginne ein moralisch gereinigtes und leichteres Leben; im Gegenteil: Die Abschaffung Gottes ist (wie ein Mord) eine Schuld, die der Mensch zu tragen hat und an der er letztlich zugrunde gehen wird. Denn nun hat er niemanden, auf den er die Verantwortung schieben kann; kein Halt, keine Sonne, keine Hoffnung. Der einzige Ausweg ist, den Schritt zum Übermenschen zu tun, jede Moral hinter sich zu lassen und sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Das Zarathustra-Wort meint das Gleiche: »Gott ist tot, ich will nun, dass der Übermensch lebe.« Jenseits der Kata­strophe des Gottes-Todes soll nun der höhere Mensch der Sinn des Lebens sein.

Fazit

Nietzsche glaubt nicht nur, dass Gott nicht existiert, sondern er wünscht sich die Nicht-Existenz Gottes - daher spricht er von der Tötung Gottes. Er glaubt zudem nicht, dass es sich dabei um eine gute Tat handelt. Deshalb kann nur eine vollständige Abschaffung der Moral diese Tat rechtfertigen: Der Mensch muss Gott werden.

II. Die Theodizeefrage

»Wie kann es einen Gott geben, wenn die Welt so offensichtlich ungerecht, leidvoll und sinnlos ist?» - Das ist, auf einen Satz reduziert, die Frage der Theodizee. Damit ist schon auf den ersten Blick deutlich, dass die Frage der Rechtfertigung Gottes (nichts anderes meint der Begriff Theodizee) zwar eine theologische Frage ist, aber von ungemein persönlicher Bedeutung.

Menschen, die unfassbares Leid erlebten, stehen vor dieser Frage nicht zuerst als philosophisch Interessierte, sondern als ins Herz Getroffene. Eine Antwort auf diese Frage darf das nicht ignorieren: Es geht nicht nur um eine rationale Auflösung eines Widerspruches zwischen dem guten Gott und den verstörenden Ereignissen dieser Welt. Es geht um viel mehr: um den Menschen als Ganzes, um den Glauben an einen Sinn in dieser Welt, um Hoffnung und Mut zum Leben und nicht zuletzt um die Frage, ob Liebe überhaupt lebbar ist.

Das Theodizeeproblem ist also kein universelles Rätsel: Es ist ein spezielles Problem der Religionen, die an einen personalen, guten und allmächtigen Gott glauben. Für Atheisten stellt sich die Frage nicht: Wenn kein Gott existiert, braucht man seine Güte und Allmacht auch nicht zu verteidigen. Ebenso wenig stellt sich das Theodizeeproblem im Hinduismus (und anderen polytheistischen Religionen und Naturreligionen): Dort wird das Leid in der Welt als eine Folge des Kampfes und Streites zwischen den verschiedenen Gottheiten gesehen (im Hinduismus zum Beispiel zwischen Brahma, Shiva, Vishnu und Kali). Auch der Buddhismus hat kein Problem mit der Theodizee, da es im Buddhismus wie auch im Atheismus keinen Gott gibt, der für das Leid verantwortlich ist. Die Frage nach dem Ursprung (der Welt, der Seele, des Leides und des ganzen »Settings») bleibt im Buddhismus unbeantwortet.

Das Defizit der mangelnden Erklärung für das So-sein der Welt im Buddhismus sieht der Buddhist selbst nicht: Für ihn ist die ganze Welt Teil der Illusion, die mich nur solange bedrängt, wie ich an ihr festhalte.

Für die monotheistischen Religionen ist die Frage allerdings brennender; dies gilt auch für den Islam, der aber diese Frage schlicht verbietet. Auch das Judentum hat seine Lösung gefunden, die im Leid die Konsequenz menschlichen Verhaltens sieht. Allerdings denkt die jüdische Theologie weniger in den Kategorien des Individuums, sondern denkt ausdrücklich die Möglichkeit, dass das ganze Volk Israel für die Sünden einzelner zu leiden hat. Gott straft zwar - aber nur im Sinne des gerechten Richters, der den Sünder (und sein Volk) spüren lässt, was dieser selbst verursacht und anderen zugefügt hat. Die Ursache des Leids ist somit für uns Menschen nicht immer identifizierbar, aber eindeutig bei den Menschen zu suchen, nicht bei Gott.

Das größte Problem stellt die Theodizeefrage für die Christen dar, die an einen vernünftigen und zugleich gütigen, allmächtigen, allwissenden und dem Menschen zugewandten, aktiven Schöpfergott glauben.

1. Die Theodizeefrage in der Philosophie

a. Bei Epikur. — Die erste Formulierung der Theodizeefrage findet sich klassisch schon bei Epikur ausgedrückt (341-270/1 v. Chr.):

Angenommen, die Götter sind allmächtig, dann können sie nicht gut sein, denn es gibt Leid in der Welt.

Angenommen, die Götter sind gut, dann können sie nicht allmächtig sein, denn es gibt das Leid in der Welt.

Angenommen, die Götter sind weder gut noch allmächtig, dann sind sie keine Götter.

Angenommen, die Götter sind sowohl gut als auch allmächtig - woher dann das Leid in der Welt?

Auch wenn Epikur kein Christ war, so hat er schon klar vor Augen: Gott ist nur wirklich Gott, wenn er auch allmächtig und gut ist. Genau diese Annahme scheint aber unvereinbar mit der offensichtlich leidvollen Welt. Dennoch halten wir Christen an der in Epikurs viertem Satz formulierten Möglichkeit fest, auch wenn sie einen Widerspruch in sich enthält: Gott ist und bleibt gut und zugleich allmächtig. Was er will, das vollbringt er auch; und er will nichts anderes als unser Heil. Somit brennt weiterhin die Frage des Epikurs: Wenn Gott aber sowohl gut, als auch allmächtig ist, wenn Gott also das Leid verhindern will und es auch kann: Woher kommt dann das Leid?

b. Augustinus unterscheidet zwei Übel. — Bevor wir uns den verschiedenen philosophischen bzw. theologischen Lösungsversuchen zur Theodizee zuwenden, ist die von Augustinus (354-430 n. Chr.) vorgenommene Unterscheidung der zwei »Übel» sicherlich hilfreich. Augustinus unterscheidet nämlich das »malum morale» vom »malum physicum». Das »malum morale» - das moralische Übel - entspringt allem moralischen Fehlverhalten der Menschen: zum Beispiel der Lüge, dem Mord, dem Terrorismus und jeder sonstigen Art der Kriminalität. Aber das Leid dieser Welt resultiert nicht allein aus der menschlichen Sünde. Offensichtlich sind Krankheiten (bei Kindern), Erdbeben und andere Naturkatastrophen, Unglücksfälle und schließlich der natürliche Tod eines jeden Menschen nicht (allein) durch moralisches Fehlverhalten anderer verursacht. Es gibt unverschuldetes Leid: das »malum physicum».

Das alles - so meint Leibniz, den wir weiter unten kennen lernen - rührt wiederum daher, dass die Welt nun einmal endlich ist. Eine endliche Welt bringe immer Leid mit sich; deshalb stellte sich Leibniz diese Eigenschaft der Schöpfung - ihre Endlichkeit - als eine weitere Dimension des Elends vor: das »malum metaphysicum».

Mit dieser Unterscheidung im Hinterkopf und der Annahme, dass der Mensch frei ist, ist es relativ klar, dass zumindest alles Leid, das durch moralisches Fehlverhalten des Menschen verursacht ist (»malum morale»), seinen Ursprung nicht unmittelbar in Gott hat, sondern vom Menschen kommt. Da der Mensch eine echte Freiheit besitzt, kann man zwar Gott für die Freiheit des Menschen als Ursache ausmachen, aber nicht für das, was der Mensch aus dieser Freiheit macht. »Freiheit» in diesem Sinne meint schließlich, dass der Mensch selbst Ursache für die aus ihm entspringenden Handlungen ist - und nicht nur ein willenloses Glied in einer Ursachenkette.

Dass Gott aber dem Menschen auch die Freiheit zum Bösen gewährt und der Mensch tatsächlich böse handelt, darf wiederum nicht Gott angelastet werden: denn Gott hat den Menschen als zur Liebe fähiges Wesen erschaffen; Liebe setzt aber Freiheit voraus. Der Mensch, um der Liebe willen mit Freiheit ausgestattet, ist deshalb auch der Lage, diese Freiheit zu missbrauchen und gegen Gott zu wenden - sonst wäre seine Freiheit nur eine Scheinfreiheit, eine Illusion.

Allerdings erklärt die Freiheit des Menschen nur das »malum morale», nicht das »malum physicum». Es mag sein, dass viele Naturkatastrophen vom Menschen mitverursacht werden (beispielsweise Überschwemmungen und Dürrekatastrophen gehören oft zu den vom Menschen selbst verschuldeten Katastrophen); oder es gibt Risiken, die vom Menschen leichtsinnig ignoriert werden (so wurde z.B. San Francisco auf einem hochgradig gefährdeten Erdbebengebiet gebaut; ebenso könnten die Aufrüstung mit Kriegswaffen, das Betreiben von Atomkraftwerken und die Ausübung gefährlicher Berufe oder Sportarten genannt werden); nicht zuletzt sind auch viele Krankheiten auf die Ignoranz oder Böswilligkeit der Menschen zurückzuführen (z.B. durch ungesunde Ernährung oder durch Ausbeutung und Arbeit in giftiger Umgebung).

Aber dennoch bleiben zahlreiche Katastrophen, Krankheiten, Epidemien und auch Unfälle, die nicht - auch nicht mittelbar - mit moralischem Versagen der Menschen zusammenhängen. Das »malum physicum» ist nicht in allen Fällen auf das »malum morale» zurückzuführen. Hat Gott, als er die Welt erschaffen hat, geschlampt? Ist die Schöpfung fehlerhaft, weil Gott nicht perfekt ist?

c. Leibniz’ »beste aller möglichen Welten». — Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716; nach ihm wurden tatsächlich die berühmten Butterkekse benannt) dehnte das Prinzip des ausbalancierten Zusammenspiels von menschlicher Freiheit und Liebe auf die ganze Schöpfung aus. Ihm zufolge hat Gott die »beste aller möglichen Welten» erschaffen. Vollkommen könne diese Welt nicht sein - nur Gott selbst sei vollkommen; eine weitere vollkommene Welt wäre nur eine Kopie Gottes gewesen. Da Gott aber etwas wirklich Neues schaffen wollte, musste diese Welt endlich und unvollkommen sein. Das, so Leibniz, sei schon das erste Übel: Das »malum metaphysicum».

Denn eine unvollkommene Welt sei notwendigerweise mit dem zweiten Übel - dem »malum physicum», dem Leiden - behaftet. Daraus wiederum folge das »malum morale», die Sünde des Menschen.

Die Sünde sei, so Leibniz weiter, jedoch eine notwendige Folge der Freiheit des Menschen. Um die Sünde vollkommen zu vermeiden, hätte Gott die Freiheit des Menschen tilgen müssen. Dennoch habe Gott in dieser Welt bereits das Leid auf ein Minimum verringert; ohne Gottes Güte sähe es noch sehr viel schlimmer in der Welt aus. Hätte Gott jedoch das Übel der Welt noch weiter reduziert, so wäre die Freiheit des Menschen so sehr eingeschränkt, dass er nicht mehr fähig zur Liebe gewesen wäre.

Mit anderen Worten: Gott habe diese Welt bestmöglich erschaffen. Alles Leid, das noch existiere, sei (lt. Leibniz) system-notwendig.

Dieser Gedanke - das sei nur so nebenbei bemerkt - spielt in der Matrix-Trilogie eine große Rolle. So erklärt der »Architekt», dass die Anomalie, die »Neo» darstellt, eine notwendige Folge der Freiheit im System sei. In einer zwar glücklich-perfekten Matrix-Welt, aber ohne Freiheit, hätten die Menschen nicht überlebt.

Fazit

Philosophisch lässt sich die Theodizeefrage zwar erhellen, aber nicht lösen.

2. Lösungsansätze zur Theodizee

Neben Leibniz gibt es zahlreiche weitere Lösungsversuche der Theodizeeproblematik, Versuche also, die Existenz des Leids zu rechtfertigen und an einem guten, allmächtigen und allwissenden Schöpfergott festzuhalten. Nicht alle sind fehlerhaft; aber ob sie ausreichen, die Existenz des Leids hinreichend und plausibel zu erklären, ist zweifelhaft.

(a) Gott verursacht das Leid nicht, sondern der Mensch. — Wie wir schon gesehen haben, ist die Freiheit des Menschen ein unverzichtbares Argument, ohne das wir den Widerspruch zwischen Gottes Güte und dem Leid der Welt nicht hinnehmen könnten. (Dass der Mensch frei ist, ist kein Kniff zur Rettung der Theodizee. Die Freiheit des Menschen ist eine Erkenntnis, die ganz unabhängig von der Theodizee gewonnen wurde und deshalb auch unabhängig gilt.). Vergessen wir jedoch nicht: Mit der Einbeziehung der Freiheit des Menschen in die Theodizee-Frage ist noch keine Erklärung für die notwendige Existenz des Leids vollzogen; in der Schöpfungsgeschichte war die Schlange bereits im Paradies anwesend, bevor der Mensch sündigte. Hätte Gott nicht ein Paradies ohne den Versucher erschaffen können?

(b) Ist das Böse nicht notwendig, um das Gute zu erkennen? — Auch dieser Einwand scheint nicht ganz aus der Luft gegriffen: Um sich einen Begriff von einer Sache machen zu können, müssen wir ihn abgrenzen und damit auch das Gegenteil vor Augen haben. Zur Begriffsbildung von »gut» brauchen wir also den Begriff von »böse». Allerdings: Selbst wenn für die Begriffsbildung die Kenntnis des Gegenteils notwendig wäre, gilt das nicht notwendig für die Sache als solche: Ein Kind, das immer nur in der Liebe der Mutter gelebt hat, hat davon vielleicht keinen Begriff - aber dennoch Kenntnis. Es mag sein, dass wir ein Gut höher einschätzen, wenn wir den Verlust erleben. Aber dennoch wissen wir, dass es gut ist, geliebt zu werden; dazu bedarf es nicht die Erfahrung von Hass. Vielleicht liegt es an unserer Sündhaftigkeit, dass wir im Glück undankbar sind. Aber daraus ein logisches Prinzip zu machen, ist wirklichkeitsfremd.

(c) Wird das Böse nicht dadurch aufgehoben, dass es schließlich doch Gutes hervorbringt? — Jenes, was wir als moralisches und physisches Übel kennen, kann durchaus positive Folgen nach sich ziehen. Wir alle kennen den Märtyrer, der im Leid Zeugnis ablegt; den Liebenden, der in der Bedrohung über sich hinauswächst und die Geliebte rettet; den Zyniker, der angesichts des Leids wahre Liebe lernt und den Helfer, der in der Not bedürftigen Menschen Hoffnung schenkt. Zu behaupten, dass diese Folgen das Übel so relativieren, dass es eigentlich gar kein Übel gewesen sei, geht an der Wirklichkeit vorbei. Zu behaupten, Gott schaffe das Übel, um positive Folgen zu provozieren, hieße den Grundsatz der »Heiligung der Mittel durch den Zweck» auf Gott anzuwenden. Noch erbärmlicher wäre ein Gottesbild, das behauptet, dass Gott etwas Gutes nur durch Böses bewirken könnte.

(d) Das Böse ist nur das »sogenannte Böse». — Von Konrad Lorenz (1903-1989), einem Biologen und Verhaltensforscher, stammt der Begriff vom »sogenannten Bösen». Demzufolge sind die Begriffe von gut und böse nur kulturbedingte, fiktive Kategorien des Menschen und haben nichts mit der Realität zu tun. Die Evolution sei zum Beispiel auf den Tod von unangepasstem, minderwertigen Lebensformen angewiesen - der Tod sei also nicht etwas Böses oder Gutes, sondern einfach nur ein wertneutrales, faktisches Ereignis. - Nun, es mag sein, dass die Kategorien von gut und böse in der Natur nicht vorkommen; natürlich ist es der Mensch, der diese Wertung vornimmt. Aber den Maßstab, den er dabei anlegt, macht er sich nicht selbst, sondern der ist ihm vorgegeben; und auch die Möglichkeit, diesen Maßstab NICHT anzulegen, ist dem Menschen verweigert.

Der Mensch ist ein moralisches Wesen, das sich zur Wirklichkeit verhält: entweder positiv, zustimmend, oder negativ, ablehnend; selbst wenn er versucht, sich neutral zu verhalten, kann dieses Verhalten wiederum gut oder böse sein. Es ist auch einem Konrad Lorenz nicht möglich, die Misshandlung eines Kindes nur als ein »Ereignis» zu sehen und sich einer Wertung zu enthalten - selbst wenn er es versucht, wird er wiederum sein Verhalten gegenüber einem misshandeltem Kind vor seinem Gewissen rechtfertigen müssen.

(e) Gottes Handeln steht jenseits aller Moral. — Der Verweis auf die Größe Gottes, die uns unbedeutenden Menschen weder einen Blick in den Plan Gottes gestattet noch überhaupt ein Urteil über Gottes Handeln zugesteht, ist weiter verbreitet und älter, als viele auf den ersten Blick glauben - und bedarf einer feinen, aber wesentlichen Unterscheidung.

Schon Hiob (das Buch Hiob im Alten Testament entstand ca. im 6. Jahrhundert vor Christus) erhält auf sein Leiden die Antwort: Gott ist so groß, wer will ihn verklagen? - Der Islam dagegen sieht die Vernunft des Menschen angesichts der Unfassbarkeit Gottes nicht in der Lage, Maßstäbe von gut und böse auch auf Gott anzuwenden: »Wenn Gott lügt, dann hat er gute Gründe: Wer will ihn richten?» Diese beiden Antworten sind nicht die gleichen: Hiob ist weiterhin fest davon überzeugt, dass Gott gut ist und das göttliche Handeln nicht im Widerspruch zu seinem Wesen geraten kann. Für den Anhänger eines voluntaristischen Gottes (einem Gott, der alles kann und tut, was er will - unabhängig davon, ob es böse, sinnlos oder unmoralisch ist) sind die moralischen Maßstäbe einfach nicht auf Gott anwendbar.

(f) Gott straft uns. — Eine ebenfalls weit verbreitete Ansicht - wenn auch oft unterschwellig - ist der Gedanke, dass das Leid eine Strafe sei, die zwar Gott ausführt, die aber vom Menschen verschuldet wurde. Dieser Tun-Ergehens-Zusammenhang - schon im Judentum grundgelegt - ist tief in unserem Denken verwurzelt. Der Gedanke des strafenden Gottes kann modifiziert werden. Im Judentum trifft die Strafe auch Unschuldige - wenn sie zum gleichen Volk gehören wie die Täter. Viele religiöse Erweckungsbewegungen, Freikirchen und charismatische Gruppen sehen im Leid eine Strafe für die Verfehlungen der säkularisierten westlichen Welt, die sich von den Geboten Gottes abwendet.

Diese Haltung zu äußern, ist in unserer modernen Welt verpönt; sie heimlich weiter zu pflegen, aber zudem auch sehr verfänglich. Falls der gerechte Gott aus gerechtem Grund straft, wäre dann ein helfendes Eingreifen zugunsten der Betroffenen oder ein Mildern der Not nicht erneut eine Ungerechtigkeit? Nicht ganz zu Unrecht gibt Josef Bordat außerdem zu bedenken, dass »der Übergang zwischen der passiven Feststellung, der hämischen Kommentierung und der aktiven Hervorrufung von Übeln – als eine Art selbsterfüllte Prophezeiung – dabei im Übrigen fließend ist».

(g) »Privatio boni«. — Ein weiterer, sehr wichtiger Gedanke beschäftigt sich mit der Frage, was das »Übel» denn eigentlich ist. Gegen Konrad Lorenz halten wir fest, dass es keine persönliche Ansichtssache, keine Geschmacksfrage ist, ob etwas »böse» oder »gut» ist. Das scheint den Gedanken nahezulegen, es gebe real-existierendes Böse in der Welt; so als ob das Böse eine dunkle Macht sei, die ein eigenes Sein hat.

Die Vorstellung von der Existenz eines Anti-Gottes lehnen die klassischen Theologen rundweg ab. Es gibt keinen bösen Gegengott, der seinen Dreck in die gute Schöpfung gemischt hat. Vielmehr gibt es eigentlich nur Gutes; alles, was existiert, ist - »insofern es existiert» - gut. Böses ist nichts anderes als ein Mangel. Ein Mangel an Sein: Es fehlt etwas an dem, was existiert. Auch der Teufel ist ein an sich gut erschaffener Engel (so die christlich-jüdische Tradition); er ist nur insofern böse, wie er es an Willen und Erkenntnis, Gehorsam und Liebe fehlen lässt.

Fazit

Auch wenn die Frage nach dem Leid in der Welt angesichts eines guten Gottes nicht logisch geklärt werden kann, ergeben sich aus der Beschäftigung mit dieser Frage wesentliche Erkenntnisse über Gott und den Menschen.

3. Christliche Antwort auf die Frage nach dem Leid: Gott bewahrt nicht vor dem Leid, sondern im Leid

Das Leid ist in der christlichen Theologie kein Fremdkörper; zumindest keine reine Irritation, die man nur entfernen müsste, um ein schönes Gesamtbild zu erhalten. Im Gegenteil: Während das Leid in den meisten Theologien, Religionen und Konfessionen allenfalls ein diskussionsreicher Nebenschauplatz ist, besteht der Kern der christlichen Botschaft im Kreuz. Jesus Christus - von dem wir glauben, dass er Gott ist - hat sich nicht gescheut, für uns und zu unserem Heil das Kreuz auf sich zu nehmen, verraten und verkauft zu werden. Er wurde für uns verspottet und gekreuzigt und ist unschuldig hingerichtet worden. Gott selbst entfernt nicht das Leid, sondern er trägt es.

Das Leid, so heißt es manchmal, sei nunmal die gerechte Strafe für unsere Sünden - und Jesus habe mit seinem Kreuz die Strafe getragen, die wir verdient haben. Je nachdem, wie man Strafe versteht, erscheint in unseren Vorstellungen sofort der Polizisten-Gott, der uns bei irgendwelchen Sünden erwischt hat und uns nun leiden lässt. Und der dabei mitleidig, aber streng »Strafe muss sein …» murmelt. Dagegen möchte ich unseren Glauben ausdrücklich verwahren! Denn es geht bei allem Leid (ob nun das von Jesus für uns getragene Leid oder das von Dir oder mir persönlich erlebte Leid) niemals um eine Strafvollzugsmaßnahme: »So, wie nunmal geschrieben steht, musst Du für Deine Sünde also dies und das erleiden … So ist nunmal das Gesetz!» - Vielmehr ist das Leid, das wir erleben, mehr als nur innere Konsequenz unserer Sünde: Seit dem Kreuzesgeschehen gilt Leid stets auch als Teil der Heilung.

Das Leid, das Jesus Christus für uns trägt, ist kein sinnloses Leid mehr, sondern Heilung und Erlösung. Die Sünde des Menschen hätte nicht sein müssen; aber der Weg zurück geht nur über das Kreuz. Dabei trägt Jesus das Leid, das wir selbst hätten tragen müssen. Er kann den »Weg zurück» nicht einfach mit einem Fingerschnipsen wegzaubern - dann würde er unsere Freiheit und unsere Vergangenheit nicht ernst nehmen. Aber er kann das Leid für uns tragen.

Dabei ist Leid, das geschieht, immer mehrdimensional: Es trifft nicht nur den Leidenden und das Opfer, sondern auch den Helfer, die Mitleidenden, die in einer Beziehung zu den Betroffenen Stehenden, und (soweit es sie gibt) die Täter, deren Freunde - und so weiter. Für alle vom Leid berührten - selbst für den, der vom Leid nur aus der Zeitung erfährt - kann der Schmerz ein Zeichen des »Rückweges» sein, die Kehrseite der Medaille, deren andere Seite »Heilung» oder »Erlösung» heißt. Ob das Leid aber der Schmerz der sich immer mehr in Sünde und Verzweiflung verstrickenden Menschen ist, oder aber bereits mit Hoffnung und Zuversicht gepaarte Heilung, hängt von uns ab. Denn Gott belässt uns die Freiheit, den Sinn, den er dem Leid verleihen kann, anzunehmen oder abzulehnen.

Gottes großartiges Werk erschöpft sich aber nicht im Mitleiden; das, was er an Leid trägt, nimmt er uns buchstäblich ab. Unser Leid wird tatsächlich erträglicher durch Gottes Wirken! Das Leid eines Menschen besteht ja immer aus zwei Komponenten: dem, was einem Menschen äußerlich angetan wird, und dem, was das innerlich im Menschen auslöst. Ob Gott wirkt, dürfen wir nicht nur auf die Frage nach der Existenz des äußerlichen Leids beschränken; sein bevorzugtes Wirkungsfeld ist nämlich die Seele des Menschen. So kann man durchaus feststellen, dass im Glauben und durch die Gnade gefestigte Menschen Schicksalsschläge besser verkraften und sich auch in großer Not eine Hoffnung bewahren. Und gnadenhaft kann es durchaus sein, dass auch Opfer von Gewalt und Folter von Gott im Inneren vor den schlimmsten Auswirkungen bewahrt bleiben.

Vor allem aber will uns Gottes Liebe vor Gedanken der Rache, dem Schrei nach Vergeltung, die Verweigerung von Vergebung und den Verlust von Glauben, Selbstachtung und Liebe bewahren. Gott verhindert das Leid nicht immer, aber er verhindert verblüffend oft die seelische Finsternis, die das Leid verursacht.

Fazit

Aus christlicher Sicht kann man die Theodizeefrage als »aufgehoben» bezeichnen. Gott nimmt das Leid selbst an und durchlebt es - und verwandelt es durch die Auferstehung in Heil.