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KARL-LEISNER-JUGEND |
Bibel und Tradition - eine Klärung
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Martin Luther hat sich sehr darüber geärgert, dass die katholische Kirche einen Glauben vertrat, der seiner Meinung nach nicht im Einklang mit der Bibel stand. Nun hätte er natürlich sagen können: "Ich verkünde Euch nicht mehr das Evangelium nach dem Verständnis des römisch-katholischen Glaubens, sondern ich verkünde die Heilige Schrift nach dem martin-lutherischen Glauben." Aber - das können wir gut nachvollziehen - das war ganz und gar nicht in seinem Sinne. Alle Reformatoren (nicht nur in der Religion) versuchen ein verunreinigtes Gewässer nicht dadurch zu reinigen, indem sie den Schmutz durch etwas anderes ersetzen - sondern indem sie alles entfernen, was nicht hinein gehört. "Ad Fontes!" - Auf zu den Quellen! - Das heißt, das Wasser soll wieder so rein wie an der Quelle (also wie früher einmal) werden.
Das funktioniert mal gut und mal weniger gut, je nachdem, ob der, der etwas reformieren will, die richtigen Bestandteile entfernt. Das ist nämlich gar nicht so einfach zu erkennen und - oft haben sich die Dinge so miteinander verwoben, dass nicht mehr klar zu trennen ist, was ursprünglich und was verfälscht ist.
Vollends schwierig wird es allerdings, wenn jemand behauptet, dass das, was ein (in seinen Augen nur "sogenannter") Reformator entfernen will, erstens gar keine Verunreinigung sei - sondern zweitens ausgerechnet dieser Bestandteil das Wasser der Quelle vor Verunreinigung schützt.
Genau das ist der entscheidende Punkt zwischen katholischem und nicht-katholischem Verständnis von Tradition und dessen Verhältnis zur Bibel. Aber - fangen wir vorne an - "Ad Fontes!"
Zunächst müssen wir nämlich mit einem Missverständnis aufräumen. Denn wenn die katholische Theologie von DER Tradition spricht, dann meint sie eben nicht DIE vielen menschlichen Traditionen wie Martinsumzüge, Adventsfeiern, Ostereiersuchen oder Weihrauchfass-Schwenken. Dazu findest Du auf dieser Site bereits eine etwas ausführlichere Darstellung.
Nein, mit DER Tradition ist die Weitergabe der Offenbarung gemeint, die Jesus Christus uns gegeben hat (daher auch der Name: Tradition stammt von tradere, lat.: weitergeben, überliefern).
Deshalb spricht der Theologe, wenn er die Weitergabe der einen Offenbarung Jesu meint, immer von DER Tradition (im Singular) - und so soll es auch in dieser Katechese sein. Die anderen, menschlichen Traditionen sind immer dann gemeint, wenn von DEN Traditionen (im Plural) die Rede ist.
Ähnliches gilt, wenn von DEM Evangelium die Rede ist: Damit ist die Botschaft Jesu gemeint, seine Predigt und Verkündigung. Wenn von DEN Evangelien die Rede ist, sind damit die vier Texte gemeint, die von den vier Evangelisten geschrieben wurden und den Kern des Neuen Testamentes bilden. So meint es auch Paulus, wenn er von DEM Evangelium spricht.
So zum Beispiel im Römerbrief (1,1): "Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium Gottes zu verkündigen." - und an ungefähr 80 weiteren Stellen im Neuen Testament.
DIE theologische Tradition meint also nichts anderes als DAS Evangelium Jesu Christi, also die Gesamtheit dessen, was uns Jesus anvertraut hat und das nun überliefert wird.
Nun behauptet die katholische Kirche, dass dieses eine Evangelium größer ist und mehr enthält, als aufgeschrieben und in der Bibel gefasst wurde.
So schreibt der Evangelist Johannes am Ende seines Evangeliums: "Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wenn man alles aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste." (Joh 21, 25)
Dass die eigentliche Botschaft größer ist als das niedergeschriebene Wort, wird sogar im Alten Testament praktisch umgesetzt:
Neh 8, 5-8: "Esra öffnete das Buch vor aller Augen; denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle. Dann pries Esra den Herrn, den großen Gott; darauf antworteten alle mit erhobenen Händen: Amen, amen! Sie verneigten sich, warfen sich vor dem Herrn nieder, mit dem Gesicht zur Erde.
Die Leviten Jeschua, Bani, Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan und Pelaja erklärten dem Volk das Gesetz; die Leute blieben auf ihrem Platz.
Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, so dass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten.
Das Wort Gottes wird also erklärt - notwendigerweise, um es zu verstehen - und das geschieht nicht etwa nur durch andere biblische Autoren wie z.B. die anerkannten Propheten, sondern durch uns so fremde Leute wie Jeschua, Bani, Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan und Pelaja. Tradition als Verstehenshorizont des geschriebenen Wortes ist also nicht unbiblisch, sondern von der Bibel selbst als vorbildlich erwähnt.
Wer also den christlichen Glauben auf das Fundament der niedergeschriebenen Bibel verkürzt und damit einen großen Teil des ursprünglichen Evangeliums streicht, verkündet somit auch ein anderes Evangelium als das, was uns Jesus und die Apostel - Paulus eingeschlossen - verkündet haben.
So sagt Paulus - dreifach betont - im Galaterbrief (Kapitel 1, Vers 7-9: "Doch es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel. Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündigt, als ihr angenommen habt, der sei verflucht."
Zumindest sieht es so die katholische Kirche. Klar, dass das nicht unwidersprochen bleibt.
Gerade mit den harten Worten des Galaterbriefes "...der sei verflucht!" kommt leider in die Diskussion zwischen dem katholischen Glauben und den abweichenden evangelischen Ansichten eine Schärfe hinein, die meistens in der gegenseitigen Verurteilung (um nicht "Verwünschung" zu sagen) gipfelt und keine Argumente mehr zulässt.
Deswegen halten wir zunächst fest: Der Vorwurf der Veränderung des Evangeliums ist gegenseitig; die katholische Kirche sieht in der Beschränkung der Offenbarung auf die Bibel eine sinnverfälschende Reduzierung, die Protestanten (und andere Gruppen) sehen in der Erweiterung der Offenbarung über das Niedergeschriebene hinaus eine sinnverfälschende Verwässerung.
Wir kommen also nicht weiter, wenn wir uns einfach nur gegenseitig beschuldigen. Vielmehr müssen wir in einer Diskussion die richtigen Fragen stellen - nämlich nach der Berechtigung des evangelischen oder katholischen Begriffs des Evangeliums und der Tradition.
Unsinnig und wenig hilfreich ist es zum Beispiel, wenn wir Katholiken von evangelisch-evangelikaler Seite nach der biblischen Begründung einer katholischen Glaubensansicht gefragt werden: Für einige katholische Glaubensansichten gibt es keine stichhaltige, zwingende biblische Begründung - was uns Katholiken allerdings auch nicht sonderlich stört.
Allerdings - und das wäre dann wirklich ein Argument - darf der katholische Glaube auch nicht gegen ausdrückliche Glaubensaussagen der Bibel verstoßen.
An dieser Stelle möchte ich allerdings nicht darüber diskutieren, ob bestimmte katholischen Dogmen (beispielsweise zu Maria) nur eine Fortführung biblischer Aussagen sind (wie die katholische Kirche glaubt) oder eine Verdrehung biblischer Aussagen (wie die Kritiker manchmal unterstellen). Solche Fragen habe ich dann in den jeweiligen Katechesen - zu Maria, zum Priesteramt oder zur Eucharistie - zu beantworten versucht.
Lassen wir nun die vielen heißen Eisen, die zwischen der katholischen und evangelischen Glaubenssicht liegen (zum Beispiel der Heiligenverehrung, der Reliquienverehrung und dem Papstamt), beiseite und fragen nach der Berechtigung des engeren oder weiteren Begriffs von "Evangelium". Denn dass Protestanten einer Weitergabe des göttlichen Wortes durch die Menschen sehr ablehnend gegenüber stehen - die Katholiken damit aber weniger Probleme haben - ist nicht nur einfach eine andere Ansicht, sondern hat seinen Grund.
Wie in der Katechese "Evangelisch-Katholisch: Der Unterschied" bereits ausgeführt, ist das die entscheidende und alles unterscheidende Grundannahme: Dass Gott sich (in der Weitergabe des Glaubens) nicht an menschliches Tun bindet - zumindest nicht unwiderruflich. Aus dieser Vorentscheidung, die letztlich aus dem negativen Menschenbild der Reformation herrührt, wird klar, das die Menschen nicht auf Dauer zum Träger der Offenbarung werden können - dazu sind sie einfach nicht in der Lage - dazu sind sie zu schlecht.
Dagegen schreibt Paulus: (2 Kor 4, 6-7): "Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi. Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt."
Wenn - wie Paulus es nennt - das "Tragen des Schatzes in zerbrechlichen Gefäßen" auf Dauer nicht gut gehen kann, muss also - möglichst schnell nach der Übergabe der Offenbarung durch Jesus an die Menschen - alles niedergeschrieben werden. Das Niedergeschriebene wird dann endgültig verbindlich.
Nun verweist die katholische Kirche allerdings zu recht darauf, dass es bis zur Schriftwerdung des Neuen Testamentes doch eine mehr oder weniger längere Tradition der mündlichen Weitergabe gegeben hat - und die Bibel somit Frucht der Tradition ist - einer menschlichen Tradition, die so geistgewirkt ist, dass in dieser Zeit das unverfälschte Evangelium bewahrt geblieben ist.
Die Antwort der Protestanten auf diesen Hinweis gibt zu bedenken, dass Gott zwar für diese Zeit (zwischen Jesu Himmelfahrt und der Niederschrift der Evangelien) die Offenbarung vor Verfälschung bewahrt hat, aber nicht darüber hinaus - wie es die katholische Kirche glaubt.
Die Gegenfrage der katholischen Kirche liegt auf der Hand:. "Wenn Gott für eine gewisse Zeit den Menschen durch seinen Geist dazu befähigen kann, die Offenbarung unverfälscht zu bewahren - warum dann nicht auch für eine unbestimmte Zeit? Warum sollte es Gott, der doch allmächtig ist, unmöglich sein, den Menschen (zum Beispiel in Form einer Kirche mit einem Lehramt) dazu zu befähigen?"
Aber schließen wir den sich hier noch weiter entspinnenden Dialog. Denn es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir Katholiken sagen, dass die Bibel eine Frucht der Tradition ist.
Noch viel grundsätzlicher als die Frage, ob es eine geistgewirkte Tradition vor der Niederschrift der Evangelien und der anderen neutestamentlichen Bücher gab, ist die Frage, wie denn die Bibel zusammengestellt wurde. Dieser Prozess der Bibelentstehung nennt sich "Kanonbildung".
Tatsächlich ist die Bestimmung, welche Schriften zum Alten und zum Neuen Testament hinzugehören, ein wunderbar katholisches Geschehen: Nämlich ein Zusammenspiel von Kirchenvolk und Kirchenleitung.
Denn die zur Zeit Jesu von den Juden benutzten Schriften wurden nach der Himmelfahrt Jesu von den frühen Christen in den Gemeinden weiter verlesen und diskutiert - obwohl die nicht-christlichen Juden auf der Synode von Jamnia (100 n. Chr.) die ursprünglich nicht in hebräischer Sprache verfassten Bücher des Alten Testamentes als nicht zum Alten Testament dazugehörig verwarfen (natürlich benutzen die Juden nicht den Begriff "Altes Testament", sondern "Tanach").
Nach längeren Diskussion auch zwischen Bischöfen und Theologen wurde dann auf den Bischofssynoden von Rom (382), Hippo (393) und Karthago (397, 419) der Brauch der gesamten Christenheit, auch die neueren Bücher des Alten Testamentes zu verlesen, bestätigt.
Lange Zeit war diese Festlegung des Alten Testamentes von allen Christen akzeptiert; erst mit der Reformation wurde der Umfang der Bibel neu diskutiert. Deshalb legt das Konzil von Trient (1548) endgültig fest, was bis dahin einfach nur Konsens in der Christenheit war - und bis heute als katholische Version des AT gilt.
Das meine ich mit typisch katholisch: Das Volk legt den Grund - und die Hierarchie schützt diesen durch Festlegung.
Auch das Neue Testament wurde lange diskutiert; erst der 39. Osterbrief des Bischofs Athanasius von Mailand (397) drückte den schließlich gefundenen Konsens aus und bildet somit den Abschluss der neutestamentlichen Kanonbildung.
Bis dahin war zwar immer unstrittig, dass zum NT die vier Evangelien, die Paulusbriefe, die Pastoralbriefe und der erste Johannesbrief gehörten, aber angezweifelt (und dann doch aufgenommen) wurden der Hebräerbrief (im Osten nie angezweifelt, aber im Westen), der Brief des Jakobus, der 1. und 2. Brief des Petrus (der erste wurde nur selten angezweifelt, der zweite dagegen oft), der 2. und 3. Brief des Johannes, der Brief des Judas und die Offenbarung des Johannes (im Westen nie angezweifelt, aber im Osten).
Außerdem gab es einige Bücher, die zwischenzeitlich als zum NT dazugehörig betrachtet wurden, schließlich aber nicht aufgenommen wurden: der 1. und 2. Clemensbrief, die Didache, der Barnabasbrief, der Hirte des Hermas, das Hebräerevangelium und die Offenbarung des Petrus.
Manche sprechen davon, dass diese und andere "apokryphen" (das heißt "verborgene") Schriften geheim gehalten würden. Deshalb sei Dir an dieser Stelle verraten, dass es diese Schriften überall zu kaufen gibt. Am genialsten ist die Ausgabe von Klaus Berger und Christiane Nord: "Das Neue Testament und die frühchristlichen Schriften" - dort findest Du sie ALLE.
Hier kommen evangelische Christen, aber noch mehr Zeugen Jehovas oder andere, außerhalb der Christen positionierte Sekten in Erklärungsnöte. Nicht unbedingt deshalb, weil sie oft ungefragt die Festlegungen der katholischen Kirche übernehmen - das tun sie nämlich gar nicht, sondern folgen oft der reduzierten Bibel des Martin Luthers. Die Erklärungsschwierigkeiten kommen viel mehr daher, dass es innerhalb der Bibel keine Liste der biblischen Schriften gibt - es also eine Autorität außerhalb der Bibel geben muss, die die Anzahl der biblischen Bücher bestimmt. Aber selbst, wenn sich die verschiedenen Gruppen auf klare und einleuchtende Kriterien einigen - es handelt sich auch dann um rein menschliche und schließlich fehlbare Argumente... wer in dieser Hinsicht Recht zu haben glaubt, kann sich leider nicht auf die Bibel selbst berufen.
Auch dann nicht - wie es einige christliche Gruppen versuchen - wenn sie die Festlegung der Bücher der Bibel dadurch zu begründen versuchen, indem sie die Bücher daraufhin überprüfen, ob sie sich gegenseitig zitieren. (So zum Beispiel bei der Frage, ob die griechisch verfassten Bücher des Alten Testamtes im Neuen Testament erwähnt werden).
Erstens zitieren die biblischen Bücher auch Schriften, die eindeutig nicht zur Bibel gehören. Wichtiger aber ist, dass diese Argumentation eben wiederum eine rein menschliche Methode ist und sich - bei aller Plausibilität - nicht auf irgend ein gesichertes göttliches Wort berufen kann.
Wir stehen also - als biblischer Fundamentalist - vor dem Dilemma, dass wir die Bibel zwar für das unfehlbare göttliche Wort halten - aber die Frage, was denn überhaupt zur Bibel gehört, mit rein menschlichen Argumenten herleiten müssen.
Es sei denn, wir folgen der Auffassung der katholischen Kirche und erkennen in der Tradition der Kirche, die die Bibel formte und hervorbrachte, ein göttlich inspiriertes Geschehen.
Nun scheint das Prinzip - "der katholische Glaube ergibt sich nicht aus der Bibel, muss sich aber an ihr messen" ein recht freizügiges. Öffnet das nicht einer theologischen Beliebigkeit Tor und Tür? Kann man nicht alles irgendwie durch die Bibel belegen und beweisen?
Nun - die Frage ist, ob wir eine Alternative haben. Können wir denn die Bibel als Lehrbuch nehmen und nur das lehren, was in ihr enthalten ist?
Die Antwort darauf ist: Nein; das geht nicht. Vor allem, weil die Bibel kein Lehrbuch sein will - oder besser: Weil sie kein Lehrbuch ist.
John Henry Kardinal Newman schreibt:
"Das geschriebene Wort könne niemals dazu bestimmt gewesen sein, die Leser mit der Glaubenslehre erst bekannt zu machen, sondern nur, für die bereits gekannte Lehre den Beweis zu liefern. Der mündliche Unterricht müsse immer vorausgesetzt werden." (John Henry Kardinal Newman, "Die Geschichte meiner religiösen Suche", Saarlouis 1912, S. 35)
"Noch ein anderes Prinzip, das mehr als alles bisher Gesagte zum Katholizismus in unmittelbarer Beziehung steht, vermittelte mir Dr. Hawkins: die Lehre von der Tradition... Er stellte eine Behauptung auf, die jedem, der die heilige Schrift auf ihre Anlage hin geprüft hat, sofort einleuchten musste: der heilige Text sei nie dazu bestimmt gewesen, in einer Lehre zu unterrichten, er solle sie nur beglaubigen, und wir müssten uns, um die Lehre kennen zu lernen, an die Formulare der Kirche, den Katechismus und das Credo halten. Er meinte, der Forscher müsse die Lehren des Christentums, die er sich aus diesen Formularen angeeignet habe, aus der Schrift beweisen." (John Henry Newman, Ausgewählte Werke, Band 1: Apologia pro vita sua (Geschichte meiner religiösen Überzeugungen), Mainz 1922, S. 25.
Die Frage aber bleibt: Wird der Glaube denn nicht beliebig, wenn die Bibel nicht die Grundlage, sondern nur die nachträgliche Korrektur des Glaubens ist?
Der Glaube wäre beliebig, wenn er auf rein menschliche Überlegungen basiert. Gerade deshalb ist die Tradition - also das gelebte und weitergegebene Evangelium - kein verfälschender Bestandteil unserer Religion, sondern unverzichtbare Grundlage.
Nehmen wir Newman beim Wort und überprüfen sein Verständnis von Tradition und Bibel, dann finden wir zum Beispiel folgende Stelle im Lukas-Evangelium:
Lk 1,1: "Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.
In zweierlei Hinsicht wird hier die katholische Sichtweise bestätigt: Zunächst macht Lukas deutlich, dass er aus einer bereits bestehenden Tradition schöpft - die Bibel setzt also eine lebendige und bereits geisterfüllte Weitergabe des Glaubens voraus.
Zum anderen aber heißt es: "So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest." - Es ist also bereits eine Unterweisung erfolgt - noch bevor es das Evangelium überhaupt gab (!) - und erst zur Bestätigung dieser Unterweisung macht Lukas sich auf, sein Evangelium zu schreiben.
Newman gib also nichts anderes wieder als das, was die Bibel von sich selbst behauptet: Sie dient zur Bestätigung des Glaubens. Geboren wird der Glaube aus der lebendigen Unterweisung der Kirche (siehe dazu auch die Predigt am Ende der Katechese).
"Die Bibel ist kein Lehrbuch; sie setzt Tradition voraus und ist Teil der Tradition; erst durch die Tradition wird sie klar abgegrenzt..." - Löst das nicht die Besonderheit und Vorrangstellung der Bibel vollkommen auf? Ist sie dann nicht genauso verbindlich wie die Briefe des Augustinus und der Heidelberger Katechismus?
Letztlich ist die Bibel von der literarischen Form her wirklich nichts Besonderes; was die Bibel zu etwas Besonderem macht, ist die Anerkennung durch die Kirche, die der Heiligen Schrift ein besonderes Wirken des Geistes zuerkennt. Mehr durch kirchlichen Beschluss als durch historisch-kritischer Analyse ist die Kirche zu dem Urteil gekommen, dass die übernatürliche Offenbarung Jesu Christi mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen ist.
Die Kirche hat die Bibel in den Rang einer "Ur-Kunde" erhoben und bezeichnet sie als "norma normans non normata" - was soviel bedeutet wie "Die Grundlage des Glaubens, an der sich alle anderen Glaubenstraditionen messen lassen."
Das ist wie eine Reihe von Momentaufnahmen einer Hochzeitsfeier - einem Fotoalbum sozusagen. Die Brautleute bestimmen gemeinsam, welche Bilder aufgenommen werden, damit wirklich alle Personen, die wichtig sind, alle Momente und alle Blickwinkel vorkommen. Irgendwann wird nun das Fotoalbum abgeschlossen und für gut befunden.
Ein solches Fotoalbum muss, wenn es den Kindern einmal vorgelegt und durchgeblättert wird, kommentiert werden: "Das ist Onkel Erwin, der ist immer so griesgrämig - und der da ist mein Lieblingsonkel - Da war ich total ergriffen - Bei der Rede habe ich gar nicht zugehört" - usw. Die Kommentare sind oft viel erhellender als die Bilder, die Bilder umgekehrt veranschaulichen das, was man grundsätzlich von Hochzeiten und deren Abläufen weiß - und konkretisiert, was die Eltern immer schon gelebt und erzählt haben.
Vor allem aber dient das Fotoalbum der Überprüfung der Erzählungen, die sich letztlich an den Fakten, die auf den Fotos festgehalten sind, messen lassen müssen. Auch, wenn das Leben der Eltern unendlich mehr erzählt und vieles sich auch gar nicht auf Fotos festhalten lassen kann - es kann nicht sein, dass die Berichte über den Hochzeitstag dem widersprechen, was auf den Bildern zu sehen ist.
Weil die lebendig weitergegebenen Erzählungen das einmal fixierte Hochzeitsalbum nicht verändern können - und die Tradition nicht die Bibel nachträglich korrigieren kann - deshalb sprechen wir von der "norma normans non normata".
Verlassen wir nun ein wenig das ökumenische Gespräch. Denn im Grunde geht es nicht um die Frage, ob man die Tradition der Kirche akzeptieren muss, um die Bibel zu bewahren. Sondern das Wesen der Tradition ist ein noch viel tiefgründigeres: Ohne sie könnten wir die Bibel gar nicht verstehen.
Falls das Prinzip "sola scriptura" meint, dass wir den Text nicht interpretieren sollen, sondern ihn so nehmen, wie er da steht, befinden wir uns in einem unlösbaren Widerspruch. Denn es gibt keinen einzigen Text, der nicht interpretationsbedürftig ist; aus dem einfachen Grund, weil jedes Lesen eines Textes eine Interpretation ist. Texte sind dazu geschrieben, interpretiert zu werden. Ein Text, der sich einer Interpretation verschließt, ist tot oder schlicht unverständlich.
Das Phänomen, dass Texte erklärungsbedürftig sind, haben schon die Juden festgestellt, als sie um die Tora immer neue Schriften gruppierten (den Talmud, bestehend aus Mishna (die die Pirke Avot enthält) und Gemara, die Halacha) und zunehmend verbindlich machten; aber das gilt auch für die trockenen und sachlichen Gesetzestexte unserer Zeit, zu denen immer wieder neue Kommentare geschrieben werden - und diese Kommentare dann wiederum durch die konkrete Rechtsprechung näher bestimmt oder korrigiert werden... und so weiter.
Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob eine bestimmte Textstelle nun bildlich (also symbolisch oder metaphorisch) zu verstehen ist. Sondern auch die Texte, die gar nicht metaphorisch gemeint sind, sondern wörtlich genommen werden wollen, müssen wir interpretieren.
Das machen wir beim Lesen eines Textes so automatisch, dass wir es oft gar nicht bemerken - und uns darüber wundern, warum Übersetzungscomputer so verquere Sätze ausspucken. Computern das Interpretieren von Sätzen und Texten beizubringen, ist nämlich (fast) unmöglich. Denn: interpretieren heißt verstehen.
Wenn wir zum Beispiel den Satz lesen: "Die Kinder standen vor dem Schaufenster mit dem bunten Spielzeug und drückten sich daran die Nasen platt." dann ist für uns sofort klar, dass die Kinder mit ihren Nasen nicht am Spielzeug klebten - sondern am Fenster. Wir wissen aber auch, warum sie das tun, dass es nicht schmerzhaft ist, sondern Ausdruck ihrer Sehnsucht und Faszination. Wir wissen, dass Menschen den Gegenständen, die sie lieben, gerne nahe sein möchten - und dass es so etwas wie Spielzeugläden, Kaufen, Geschenke und Besitzen gibt...
Wenn es zum Beispiel im Johannesevangelium heißt: "Ich und der Vater sind eins." (Joh 10, 30) - dann denken wir zunächst in unseren menschlichen Maßstäben an das, was Einheit meint. Aber wir fragen uns dann auch, warum die Juden nun Steine aufheben und Jesus wegen dieses Satzes steinigen wollen (10, 31) ... und schon sind wir mitten in einer Interpretation.
Und wenn es zu Beginn des Johannesevangeliums heißt: "Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott" (Joh 1,1), dann behaupten einige, es müsse "und das Wort war ein Gott" heißen und führen seitenlange Belege für dieses angeblich richtige Verständnis des griechischen und hebräischen Sprachgebrauches an. Aber das ist schon keine Frage mehr nach dem, was da steht - sondern nach dem, was wir verstehen. Das nennt man Interpretation.
Wenn Jesus nach seiner Auferstehung zu Thomas sagt: "Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!" (Joh 20, 27) so kann man daraus ableiten, dass Jesus berührt werden kann - und wollte. Aber zu Maria Magdalena sagt er "Berühre mich nicht!" (Joh 20, 17)... und wieder versuchen wir eine stimmige Interpretation.
Der Unterschied zwischen den Zeugen Jehovas (oder einer evangelischen Freikirche) und der katholischen Kirche besteht also nicht darin, dass die katholische Kirche den Text nicht wörtlich nimmt. Vielmehr interpretieren alle Leser der Bibel den Text - nur auf unterschiedlichem Hintergrund. Für die Zeugen Jehovas ist das Verstehenshintergrund, was die Wachtturm-Gesellschaft vorgibt; bei der freikirchlichen Gemeinde wird der Rahmen durch die Ältesten (Presbyter) der Gemeinde und bei der katholischen Kirche durch die Tradition vorgegeben.
Mit anderen Worten: Alle Leser der Bibel haben einen hermeneutischen Schlüssel (auf deutsch: "Verstehens-Schlüssel") zum Text der Bibel - bei der katholischen Kirche ist das die Tradition.
Paulus sagt: (2 Kor 3,6): "Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig." Mit diesem Geist aber ist nicht etwa nur der Sinn des Textes gemeint (so wie einige vom "Geist des Konzils" sprechen und damit die eigentliche Absicht der Konzilsväter bezeichnen), sondern nichts weniger als der Heilige Geist - Gott selbst.
Wenn ich einen Brief lesen möchte - und ihn so verstehen möchte, wie er geschrieben wurde - dann muss ich ihn in dem Geist lesen, in dem er verfasst wurde. Eine Interpretation kann eigentlich nur der bestätigen und bekräftigen, der selber der Schreiber ist - alle anderen sind auf ihre eigenen Vermutungen angewiesen.
So schreibt Petrus (2 Petr 1,20): "Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet."
Letztlich bedeutet dies, dass nur dann, wenn der Geist auch heute noch im Leser der Bibel wirkt, sie richtig verstanden werden kann. Die katholische Kirche bekennt sich dazu - und auch viele evangelische Gruppen, die davon sprechen, dass jeder, der die Bibel liest, den (Beistand des) Heiligen Geistes hat. Alle anderen Gruppen aber, die behaupten, sie würden entweder gar nicht interpretieren und die Bibel einfach nur so nehmen, wie sie dort steht, betrügen sich selbst.
Dabei ist klar, dass die Weitergabe des Glaubens geistbegleitet sein muss; rein menschlich gesehen lässt sich ein so umfassendes Glaubensgebäude wie die Christen über Jahrtausende weitergegeben haben, nicht bewahren.
Wir kennen die Veränderung des Weitererzählten aus dem Kinderspiel "Stille Post". Ein einzelnes Wort, von Kind zu Kind geflüstert weitergegeben, mutiert aufgrund von Hörfehlern, Sprechfehlern und Missverständnissen zu ganz anderen Wörtern, manchmal auch zu sinnlosen Lautfolgen.
Einverstanden: Das Spiel hat auch große Hürden: Es wird geflüstert, das Wort darf nicht wiederholt werden, es darf nicht nachgefragt werden und es ist kein Zusammenhang gegeben, in dem dieses Wort steht.
Aber selbst bei Methoden, die den Inhalt sichern sollen, gelingt es nicht einmal über zehn Stationen, den Umfang eines Gedankengangs zu bewahren; selbst dann nicht, wenn der Verstehenshorizont (zum Beispiel ein biologisches Thema unter Biologie-Studenten) geklärt ist. Noch schwieriger wird es, wenn ich einer Kette von Zuhörern ein ihnen völlig unbekanntes Thema zur Weitergabe auftrage.
Das Problem sind dabei nicht unbedingt Hörfehler oder "Drop-Outs", also ein zunehmender Informationsverlust. Das Problem bei der Weitergabe von Inhalten ist die Interpretation der Inhalte durch den Zuhörer, der bei der Weitergabe seine Sicht hinzufügt oder umformuliert.
Denn die Weitergabe von Inhalten unterscheidet sich von der bloßen Weitergabe einer Kopie.
Wer Kopien immer wieder kopiert - die Kopien immer wieder als Vorlagen für weiter Kopien einsetzt - erlebt einen zunehmenden Informationsverlust, bis schließlich ein Text oder eine Grafik nicht mehr aussagefähig ist.
Wer aber einem Lehrer zuhört und dessen Unterrichtsinhalt zunächst versteht, um ihn dann an bisher uninformierte Zuhörer weiterzugeben, die diesen Inhalt wiederum erst verstehen und dann weitergeben müssen, wird ein anderes Phänomen entdecken: Der Informationsgehalt wächst; Unverstandenes wird erklärt, seltsames geglättet, immer neue Beispiele gefunden - usw.
So oder so ist jedem Menschen klar, dass die Weitergabe der christlichen Botschaft geistgewirkt sein muss. Ohne den Garant der Wahrheit - den Beistand, den Gott verheißen hat - wäre Jesus entweder schon längst vergessen oder zum Superman mutiert.
Nun - es gibt Zeitgenossen, die genau das annehmen und glauben, dass vom historischen Jesus nichts Zuverlässiges mehr bekannt ist. Aber wie beim Stille-Post-Spiel lassen sich die Stationen der Weitergabe im Nachhinein vergleichen und rückwärts konstruieren. Der ursprüngliche Inhalt der christlichen Botschaft lässt sich so nicht rekonstruieren (das versucht zum Beispiel die historisch-kritische Methode); aber das braucht man auch nicht: Beim Rückwärts-Vergleichen stellt auch der kritischste Geist fest, dass es seltsamerweise keine erkennbaren Verschiebungen in der Glaubensgeschichte gibt.
Gerade aber, weil die Weitergabe des Glaubens nicht nur im Abschreiben der Heiligen Schrift, sondern aus Zuhören-Verstehen-Begreifen-Umkehren-Umsetzen-Leben besteht, gibt es genügend Freiraum für den Geist Gottes, dort auf allen Ebenen der Kirche heiligend und erinnernd zu wirken.
Hat denn nun jeder Leser der Bibel automatisch den Heiligen Geist und damit die wahre und ultimative Interpretation? Die Antwort der katholischen Kirche ist verblüffend.
Viele Evangelikalen behaupten, dass NUR der einzelne Leser den Heiligen Geist hat und jede Institution prinzipiell von dieser Geistbegabung frei ist. Ein besonders krasses Beispiel bietet das Buch "Die Hütte" von William Paul Young, in der zwar jeder einzelne Leser der Bibel Gott begegnet, aber jede Religion als Institution prinzipiell Unrecht hat, selbst, wenn sie mal zufällig etwas Richtiges sagt (S. 229).
Die katholische Kirche lehnt (in einer möglichen Abgrenzung zur evangelischen Position) nicht etwa die "Geistbegabung" des einzelnen Lesers der Bibel ab - sondern sie spricht von beidem: Der Geistbegabung sowohl des einzelnen Lesers als auch der Kirche als die eigentliche Leserin der Bibel. Dieses "sowohl als auch" (lat.: et - et) hat die Kirche zum Prinzip erhoben und setzt es dem reformatorischen "sola" (nur) entgegen.
Denn die Tradition der Kirche - also die Weitergabe der Offenbarung - geschieht gerade durch das Wirken des Heiligen Geistes in den Menschen. Nicht nur der Papst ist vom Heiligen Geist erfüllt, nicht nur die Bischöfe während eines Konzils - sondern das ganze Volk Gottes, die ganze Kirche, jeder einzelne Christ und vor allem der, der in der Bibel liest.
In jedem Christen, der in der Bibel liest, liest der Geist Gottes mit dem Menschen das, was Gott geschrieben hat. Der Sinn, der sich dem lesenden und betenden Menschen erschließt, wird ihm nicht durch die gedruckten Buchstaben eröffnet, sondern vom Geist Gottes, der einst diesen Texten den Sinn gab. Insofern ist die katholische Lehre durch und durch evangelisch - in jeder Hinsicht des Wortes.
Aber der Mensch, der die Bibel liest, wird nicht einfach seines eigenen menschlichen Geistes beraubt. Der Geist Gottes tritt nicht an die Stelle des menschlichen Geistes, sondern erhebt ihn, öffnet und weitet ihn und erfüllt ihn. Das bedeutet, dass im Lesen des Wortes Gottes der Mensch einen tatsächlichen Hauch Gottes erfährt - aber ihn nicht sicher von seinem eigenen Geist unterscheiden kann. Dazu bedarf ein jeder Mensch einer Richtschnur, die ihm bei der Unterscheidung der Geister hilft - eben der Kirche.
Aber nicht nur das: Jeder, der einen Text liest, hat ein Vorverständnis, mit dem er an das Geschriebene herangeht.
Um einen Brief eines Menschen richtig zu verstehen, ist es Unverzichtbar, diesen Menschen zu kennen - zumindest sollte man ein möglichst zutreffendes Bild von diesem Menschen haben.
Ich erinnere mich an eine Pädagogik-Klausur in meiner Schulzeit, in der ich einen Brief an Martin Luther zu behandeln hatte - geschrieben von dessen Vater. Aus irgendeinem verqueren Schluss hatte ich geglaubt, es handelte sich um Martin Luther King - und kam folgerichtig zu vollkommen falschen Ergebnissen. (Die Lehrerin war gnädig und gab mir immerhin noch ein "ausreichend".)
Es ist also nicht nur so, dass der Einzelne, der die Bibel liest, die Kirche als nachträgliche Korrektur für seine Erkenntnisse benötigt - sondern erst durch das Lesen im Licht der Tradition erschließt sich die volle Bedeutung der Schrift.
Der Einzelne, der die Bibel liest, und die Kirche als lebendige Tradition sind dabei keine Gegensätze; die Wahrheit ergibt sich also nicht durch einen Streit von zwei konkurrierenden Parteien.
Die Wahrheit ergibt sich auch nicht dadurch, dass wir von allen Bibel-Lesern-Erkenntnissen ein arithmetisches Mittel bilden - oder den größten gemeinsamen Nenner - oder demokratisch abstimmen lassen.
Das Zusammenspiel ist vielmehr wie ein lebendiger Organismus, bei dem verschiedene Menschen verschiedene Aufgaben auf verschiedenen hierarchischen Ebenen ausführen. Keine Ebene ist dabei Gott näher oder hat mehr oder weniger Heiligen Geist; vielmehr ist auch die höchste Autorität nur dann Autorität, wenn sie es vermag, auf das Wirken des Geistes selbst im einfachsten Menschen zu horchen.
Paulus schreibt im 1. Brief an die Korinther (12, 14-30): "Auch der Leib besteht nicht nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern. Wenn der Fuß sagt: Ich bin keine Hand, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört er doch zum Leib. Und wenn das Ohr sagt: Ich bin kein Auge, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört es doch zum Leib. Wenn der ganze Leib nur Auge wäre, wo bliebe dann das Gehör? Wenn er nur Gehör wäre, wo bliebe dann der Geruchssinn? Nun aber hat Gott jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es seiner Absicht entsprach. Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib.
Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre, und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen.
Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm. Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm.
So hat Gott in der Kirche die einen als Apostel eingesetzt, die andern als Propheten, die dritten als Lehrer; ferner verlieh er die Kraft, Wunder zu tun, sodann die Gaben, Krankheiten zu heilen, zu helfen, zu leiten, endlich die verschiedenen Arten von Zungenrede. Sind etwa alle Apostel, alle Propheten, alle Lehrer? Haben alle die Kraft, Wunder zu tun? Besitzen alle die Gabe, Krankheiten zu heilen? Reden alle in Zungen? Können alle solches Reden auslegen?"
Die Tradition ist also nicht nur "Etwas", das weitergegeben wird, sondern die Tradition ist das Wesen der Kirche - die Kirche ist deshalb Kirche, weil in ihr das lebt, was uns Jesus geoffenbart hat: Er selbst. Deshalb bezeichnen wir die Kirche auch als Leib Christi - denn "Leib" bedeutet Zusammenwirken von Körper und Seele; in diesem Fall also von Mensch und Gott.
Die Tradition ist nichts anderes als der Heilige Geist, der in der Kirche wirkt. Zwar immer vermischt mit menschlichem Wirken (und manche wollen nur das Menschliche und Fehlerhafte sehen), aber immer auch gottgeführt und erfüllt.
Die Kirche gibt sich weiter - sie pflanzt sich in den Herzen fort und übergibt die Offenbarung - das Göttliche in zerbrechlichen Gefäßen - an die nächste und übernächste Generation weiter.
Das Evangelium will gelebt werden - nicht nur abgeschrieben. Überliefert wird nicht ein Bild, eine Zeichnung oder ein Gemälde einer Pflanze, sondern der lebendige Organismus selbst gibt sich weiter.
Deshalb gibt es im Glauben der Kirche Veränderungen, Entfaltungen und scheinbar Neues. Aber alles, was sich entfaltet, ist bereits vorher angelegt gewesen.
Aus einer Raupe wird ein Schmetterling, aus einem Samenkorn eine Orchidee, aus einem Embryo ein Mensch - und immer erkennen wir im Nachhinein, dass bereits der Embryo schon im umfassenden Sinne Mensch ist; die Orchidee nichts anderes als das entfaltete Samenkorn und der Schmetterling nur eine andere Erscheinungsform der Raupe ist.
Allerdings muss ein Organismus sich auch reinigen und erneuern, denn er ist immer der Gefahr von "Befall" von fremden Zusätzen oder sogar Parasiten ausgesetzt. "Ecclesia semper reformanda" sagt der Theologe: Die Kirche muss sich immer erneuern, um sie selbst zu bleiben. Gerade dafür ist aber der Dienst des Petrus unverzichtbar.
Um etwas besser zu verstehen, wie der Geist Gottes in der katholischen Kirche die Weitergabe des Evangeliums bewirkt, ist es vielleicht sinnvoll, zunächst mit einem Missverständnis aufzuräumen:
Der Papst ist nicht allein unfehlbar.
Zugegeben: Als das Unfehlbarkeitsdogma 1871 verkündet wurde, wurde vor allem deshalb Kritik laut, weil in der Formulierung des Dogmas die beiden Worte "ex sese" standen: Der Papst sei nicht deshalb unfehlbar, weil er bei einer Festlegung des Glaubens der Zustimmung der Kirche bedürfe - sondern er könne dies aus der ihm verliehenen Vollmacht heraus (das meint "ex sese" - "aus sich heraus".)
Aber damit ist nicht gemeint, dass die Kirche bei der päpstlichen Urteilsfindung kein Rolle spielt - im Gegenteil. Vielmehr ist der Papst nur ein Organ im Organismus der Kirche - und dabei auf das Zusammenwirken mit allen anderen Gliedern des Leibes angewiesen. Paulus schreibt ja: "Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich."
Die Grundlegende Unfehlbarkeit ist vielmehr der Kirche als Ganzes zugesagt - die Tradition - das Evangelium - lebt eben nicht nur in der Lehre der Kirche, auch nicht in nur einem bestimmten Amt - sondern in der Kirche in all ihren Dimensionen, Vollzügen und Gliedern.
1 Kor 12, 4-11: "Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt. Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem andern durch den gleichen Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, dem dritten im gleichen Geist Glaubenskraft, einem andern - immer in dem einen Geist - die Gabe, Krankheiten zu heilen, einem andern Wunderkräfte, einem andern prophetisches Reden, einem andern die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, wieder einem andern verschiedene Arten von Zungenrede, einem andern schließlich die Gabe, sie zu deuten. Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will."
Die Aufgabe des Papstes ist - normalerweise erst bei Streitigkeiten - im Hinschauen auf den Glauben der ganzen Kirche ein Urteil über eine zu klärende Glaubens- oder Moralfrage zu fällen. Das kann der Papst aus zwei Gründen: Einmal, weil er bei der Klärung der Frage den Beistand des Geistes besitzt, zum anderen aber, weil die Kirche im Ganzen den Beistand des Heiligen Geistes hat.
Joh 14,16f. "Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit..." Joh 14,26: "Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe." Joh 16,7: "Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden." Joh 16,13ff: " Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden."
So arbeitet auch ein Arzt: Der Leib kann zwar hier und da krank sein kann, aber im Hinblick auf den Leib als Ganzes erkennt er, was den Leib am Leben erhält.
Wenn von der Weitergabe des Glaubens die Rede ist - von der lebendigen Tradition -, müsste eigentlich die Familie an erster Stelle genannt werden. In ihr wird jede Weitergabe mit Leben gefüllt und grundgelegt, in ihr finden sich alle Momente der Kirche: Die Theologie ("Wenn Kinder fragen..."), die Spiritualität ("Abends wenn ich schlafen geh, vierzehn Englein um mich stehn.."), die gelebte Nächstenliebe ("Gehen wir morgen wieder Opa im Krankenhaus besuchen?"), der Gottesdienst ("...wann darf ich zur Kommunion"), das Lesen in der Bibel ("Liest Du mir noch mal die Geschichte von dem Wal und dem Propheten vor?")
Oft wird - auch von politischer Seite - die Frage nach einer Erziehungsleistung der Eltern oder gar einer pädagogischen Überprüfung gestellt. Dabei ist das, was in der Familie geschieht, nicht ausdrücklich praktizierte "Erziehung" - das, was in den Familien geschieht, ist vor allem das gemeinsame Leben.
Das Schauen der Kinder auf den gelebten, vollzogenen Glauben - gibt es ein schöneres Bild für lebendige Weitergabe des Glaubens? Im Grunde ist Tradition nicht viel anderes (so schreibt der Hebräerbrief: "Denkt an eure Vorsteher, die euch das Wort Gottes verkündet haben; schaut auf den Ertrag ihres Lebens, und ahmt ihren Glauben nach! (Hebr 13, 7)
Auch die Theologie spielt eine große Rolle im Organismus der Kirche - aber eben nicht die entscheidende. So wie im Organismus der Verstand funktionieren muss, Gutes von Schlechtem unterscheidet, Bekanntes entfaltet und auf Neues reagiert, ist eine gesunde, lebendige und aktive Theologie für die Kirche unverzichtbar.
Dabei muss auch die Freiheit der Theologie gewahrt bleiben: Theologen dürfen auch mal kirchenfremde Theorien und Gedanken aufgreifen und erwägen; neue Wege ausprobieren, von denen nicht immer so ganz klar ist, ob sie sich vielleicht als Sackgassen herausstellen. Sie dürfen unbequeme Fragen stellen und nach neuen Antworten suchen.
Oft können Professoren, Lehrer und Katecheten in einer ehrlichen Diskussion selbst klären, welche Theologien dabei das Fundament des katholischen Glaubens endgültig verlassen haben; falls es jedoch zu einem anhaltenden Streit kommt und sich die Theologie zu spalten droht, ist das Amt des Papstes gefragt.
Die Vermutung, der Papst würde viel zu schnell und viel zu oft diese Diskussionen verbieten und "Maulkörbe" verteilen, ist übrigens nicht wahr. Die Kirche hat einen langen Atem und ihre Mühlen mahlen langsam... viele Irrlehren sind einfach in Vergessenheit geraten, weil sie sich nicht durchsetzen konnten, ohne dass ein Papst dazu etwas sagen musste.
Dabei hat jeder in der Kirche ein Recht, sich an einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu beteiligen - nicht nur studierte Professoren oder bücherschreibende Theologen.
Besonders erhellend ist das Zeugnis der "Kirchenväter" - so
nennt man bestimmte Theologen und Prediger der frühen Kirche. Sie haben
- im Gegensatz zu den modernen Theologen - keine große Bibliothek christlicher
Autoren zur Verfügung gehabt, sondern ihre Gedanken direkt aus dem Leben
und dem gefeierten Glauben der Kirche geschöpft. Daher betrachten wir
diese Zeugnisse als besonders klar, ursprünglich und maßgeblich.
Zudem sind die Gedanken der Kirchenväter in vielerlei Hinsicht sehr aktuell.
(Lies einfach mal nach in irgendeiner Ausgabe der berühmten "Bibliothek
der Kirchenväter").
Dennoch gelten die Kirchenväter, auch wenn sie manchmal nur wenige Jahrzehnte
von den biblischen Autoren getrennt sind, nicht mit der Bibel gleichgesetzt
- das gilt auch für Texte, die zwischenzeitlich den Ruf hatten, zur Bibel
zu gehören (zum Beispiel der "Hirte des Hermas" oder der "Clemensbrief").
Der Unterschied zwischen "inspiriert" und "nicht inspiriert"
liegt dabei nicht in der Qualität der Schriften, sondern in der Autorität,
die die Kirche den Schriften zuerkennt.
Auch in der Kirche gibt es eine Demokratie. Denn Festlegungen des Glaubens und der Moral erfolgen in den allerseltensten Fällen nur durch eine einzige Person. Aber die Zusammenkünfte der Bischöfe dient nicht der Findung eines Kompromisses (so wie ein Verein eigenmächtig darüber bestimmt, welche Ausrichtung er hat), sondern eine jeweilige Abstimmung dient der Findung einer grundlegenden Übereinstimmung. Beschlüsse, Texte und Festlegungen erfolgen daher niemals nur mit knapper Mehrheit - selbst eine Zweidrittelmehrheit gilt noch als knapp - sondern immer mit annähernder Einstimmigkeit.
Auch die Ordensgemeinschaften der katholischen Kirche sind für den Organismus unverzichtbar. Natürlich wurde auch in den großen Orden der Kirche Theologie betrieben; aber noch wichtiger für den Organismus ist das dort gepflegte Gebet und geistliche Leben. Viele fromme Schriften stammen aus den Klöstern, viele wunderbare Gedanken finden sich in ihren Liedern und Hymnen wieder.
Aber am allerwichtigsten ist nicht das, was dort oder anderswo niedergeschrieben wurde - sondern was diese frommen Männer und Frauen gelebt und damit der jeweiligen Zeit bezeugt haben.
Denn die Weitergabe des Evangeliums geschieht nicht durch zusätzliche Schriftstücke - sondern durch ein Leben, in dem der lebendige Geist Gottes wirkt.
Deshalb sind auch die tätigen Orden - in neuerer Zeit zum Beispiel die "Missionarinnen der Nächstenliebe" von Mutter Teresa - ein bedeutendes Glied in der Tradition der Kirche: Auch wenn sie weniger Zeit haben, Theologie zu betreiben - durch ihre Liebe zu den Menschen und ihr persönliches Zeugnis geben sie der Kirche als Leib Christi erst ein Gesicht der Liebe.
Ich möchte hier keine vollständige Aufzählung aller "Organe der Kirche" versuchen - ich werde mit Sicherheit wichtiges vergessen. Aber das Amt der Propheten, die doch im Alten Testament eine so große Rolle spielen, soll nicht verschwiegen werden. Es findet sich eher in den Medien und in der Politik wieder - auch der Kirchenpolitik.
Natürlich ist dieses Amt nicht einfach an den amtierenden Bundeskanzler oder die Bildzeitung abgewandert. Aber die Aufgabe des Propheten war es immer, Kritik an den bestehenden Zuständen zu üben - sowohl an den politischen als auch an den innerkirchlichen Missständen. Das war niemals Aufgabe der Priester (Priester und Propheten waren im Alten Testament eher entgegengesetzt), die eher für die Bewahrung des Althergebrachten zuständig waren.
Heute gibt es - wie wohl auch zu den biblischen Zeiten - viele schlechte und selbsternannte Propheten; vermutlich schon eine wahre Inflation von Kritikern an allem Erdenklichen. Aber das soll uns nicht die Augen davor verschließen, dass die Medien und die dort Agierenden eine wichtige Aufgabe übernehmen - auch für die Kirche.
Natürlich sind die Medien und die Politiker zumeist keine Kirchenmitglieder (obwohl auch Bileam als Nicht-Jude zum Propheten berufen war). Deshalb soll die Erwähnung, dass auch heute noch das Prophetenamt existiert, weniger eine Aufforderung zum Kauf des Spiegels sein, sondern eher eine Ermunterung, aus dem Herzen der Kirche heraus medial tätig zu werden. "Jede Wahrheit braucht eine Mutigen, der sie ausspricht."
Obwohl wir in allen Organen - das heißt ausdrücklich: allen Gliedern des Leibes - ihre unverzichtbare Aufgabe im Leib - bewirkt durch den einen Geist - erkennen, heißt das nicht, dass es keine Ordnung und keine Hierarchie gäbe.
Gerade die Predigt des Paulus im ersten Korintherbrief versucht genau das zu betonen: Nur, weil einer ein "hohes Amt" innehat, steht ihm nicht mehr Ehre zu als dem, der ein "niedriges Amt" bekleidet. Aber Paulus hält daran fest: Es gibt diejenigen, die als Apostel lehren - und diejenigen, die darauf hören. Ordnung muss sein.
So ist es ja auch im Leib. Das hat auch schon Otto Waalkes ("Das Wunder des Ärgerns") erkannt. Hierarchie heißt ja nicht, dass nur noch einer denkt - und alle anderen Befehle ausführen müssen. Im Gegenteil: Für das gute Funktionieren des Leibes ist es wichtig, dass auf allen Ebenen die jeweiligen Aufgaben selbstständig und eigenverantwortlich durchgeführt werden. Es ist letztlich eine Gnade, dass wir das Atmen nicht vergessen können. Keine Sorge!
Der Papst nimmt weder den Eltern die Entscheidung über die richtige Erziehung ab - noch könnte er die Theologie durch Beschluss dazu bringen, etwas Falsches als richtig zu erkennen. Und ich als Pfarrer muss auch erkennen, dass ich den Mitgliedern meiner Pfarrei zwar Mut machen kann, ihren Glauben auch in der Alltagswelt zu bezeugen - aber wie und ob das geschieht, liegt nicht in meiner Verantwortung - und auch nicht in meiner Macht.
Oder nehmen wir ein Beispiel aus der Schule - dem anderen Lebensbereich, den ich gut kenne. Ein schlechter Lehrer, der bei den Kindern keine Autorität und keine Durchsetzungskraft hat, verhindert nicht nur einen erfolgreichen Unterricht - er langweilt auch. Er nimmt den Kindern durch seine Unfähigkeit sogar die Freiheit, die Unterrichtsstunde eigenverantwortlich zu gestalten, weil das Machtvakuum des Lehrers durch den Gruppendruck ersetzt wird.
So ist die Autorität der Eltern, des Pfarrers, des Bischofs und des Papstes immer eine Verwirklichung von Hierarchie, die Freiheit garantieren soll. Dabei ist jeder auf jeden angewiesen - und alle auf das Wirken des Geistes.
Liebe Schwestern und Brüder, in meinem Bücherregal steht ein amüsantes Buch mit dem umständlichen Titel «Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren». Amüsant ist vor allem, dass dort mit Fundamentalisten nicht irgendwelche Randgruppen gemeint sind, sondern alle Christen, Moslems und Juden - also immerhin 80% der Weltbevölkerung.
Das Problem, das dieser Autor hat, ist die Bibel. Er ist der Meinung, dass man die Bibel (oder den Koran oder die Thora) sehr wohl als ein Stück Literatur akzeptieren kann, aber nicht als Grundlage einer Wissenschaft, einer Weltanschauung oder einer Theologie, die den Anspruch erhebt, die Wahrheit zu kennen. Denn dort wird der Glaube nicht in wissenschaftliche Sätze gepackt, sondern in Erzählungen, Gebete und Prophezeiungen.
Er stellt fest, dass aus diesem dicken Buch jeder immer das herauslesen kann, was er gerade möchte.
Dieser Autor hat zu einem guten Teil recht. Die Bibel ist kein dogmatisches Lehrbuch. Wer unser Glaubenswissen lernen möchte, der kauft sich am besten einen Katechismus - am besten den dicken, blauen «Katechismus der katholischen Kirche». Dort wird in wissenschaftlichen und logischen Sätzen festgelegt, was wir glauben. Verstehen Sie etwas nicht? Möchten Sie über die Sakramente oder das Konzil mehr erfahren? Dort kann man es nachlesen.
Aber - und das vergisst der Autor des Anti-Fundamentalismus-Buches: Unser Glaube ist nicht nur das Glaubenswissen. Zu Beginn unseres Studiums hat ein Professor uns Studenten gesagt: "Keiner von Ihnen muss an Gott glauben, um Theologie studieren zu können - viele unserer besten Theologen glauben tatsächlich nicht an Gott.» An der Universität - oder auch im Religionsunterricht - oder im Katechismus lernen wir das, was wir über Gott, die Kirche und die Welt wissen können. Ich werde mich als Religionslehrer hüten, einem Schüler eine "5" zu geben, weil er nicht an Gott glaubt - was zählt, ist sein Glaubenswissen.
Wer Gott aber nicht nur wissen will, sondern ihn auch lieben möchte, der sollte zur Bibel greifen. Dort erfahren wir nicht, was Gott ist, sondern wer er ist, wie er handelt, wie er sich bemüht. Dort lernen wir Menschen kennen, die ihn lieben, mit ihm hadern und sich bekehren. Dort erfahren wir, wie unendlich die Geduld ist, mit der sich Gott um uns bemüht.
Liebe Schwestern und Brüder, wissenschaftliche und logische Aussagen über Gott sind nötig - aber sie stellen noch nicht den Glauben selbst da. Ich kann viel über einen Menschen wissen (von den Akten des Einwohnermeldeamtes über die Verkehrssünderkartei in Flensburg), sein Leben von vorne bis hinten kennen - aber vertraue ich deshalb schon diesem Menschen? Glaube ich an ihn?
Und umgekehrt gilt: Die Bibel als Grundlage eines wissenschaftlichen Systems ist nicht ausreichend. Das wäre so, als wenn wir im Einwohnermeldeamt unsere Tagebücher und in der Verkehrssünderkartei in Flensburg unsere Reiseberichte abheften. Deshalb gehen auch die Ansichten der Christen über den wahren Glauben weit auseinander - obwohl alle die gleiche Bibel haben.
Für ein wissenschaftliches System mit logischen Aussagen über Gott bedürfen wir zusätzlich der Kirche mit ihrem Lehramt, den Konzilstexten und den Theologen, die darüber forschen. Die Forderung an die Theologie "Allein die Bibel" solle Grundlage sein, ist das Ende der Theologie als Wissenschaft.
Aber der Glaube, der sich vertrauensvoll an diesen Gott wendet, begnügt sich nicht mit einer Aufreihung von Fakten - er braucht ein Zeugnis derjenigen, die diesen Gott erfahren haben. Und davon finden wir in der Bibel mehr als in jedem anderem Buch dieser Welt. Amen.